Maurice Renard
Ein Mensch unter den Mikroben
Maurice Renard

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Zweites Kapitel

In welchem Hoffnung und Furcht miteinander ringen

Der Wanduhr nach währte Pons' Abwesenheit fünfunddreißig Minuten; will man aber Fléchambeau Glauben schenken, so dauerte sie die bekannten »zwei Stunden«, von denen immer die übelgelaunten, ungeduldigen Menschen reden, die es mit der Genauigkeit nehmen, wie es ihnen gerade paßt.

Fléchambeau begab sich in sein Zimmer hinab, setzte sich hin, stand wieder auf, nahm wieder Platz, lief hin und her, klemmte sich hundertmal das Monokel ins Auge und trat vom Fenster, von dem er nach der Rückkehr seines Gesandten ausspähte, zum Spiegel über dem Kamin, um als letztes verzweifeltes Mittel irgendein sympathisches Gesicht zu sehn.

Er lächelte höflich seinem Spiegelbilde zu und zeigte dabei sein blendend weißes Gebiß, in dem nur die zwei oberen Eckzähne aus Gold waren. Aber dies Lächeln war nur äußerlich und durchdrang nicht sein von Unruhe gesättigtes Inneres. Es war nur eine Maske. Fléchambeau setzte wie eine falsche Nase einen falschen Mund auf.

Unwiderstehlich zog ihn die Sicht auf den großen Platz an, und das Beobachten des Hauses gegenüber, wo sich sein Schicksal entscheiden sollte. Seine Überreiztheit verlieh dem Gebäude etwas Persönliches, etwas Monströses, der menschlichen Natur entlehnte Züge, rechteckige Augen unenträtselbaren Ausdrucks.

Eines dieser Augen öffnete sich plötzlich. Die schöne Olga erschien am Fenster.

Fléchambeau bemerkte sie unter dem Arme der »Republik« hindurch. Jetzt zeigte auch er sich.

Das arme Kind kannte sich jedenfalls nicht mehr aus, was los sei. Wie? Fléchambeau war gekommen, um sich zu erklären, und hatte sich wieder stumm entfernt, und jetzt war es sein Freund Dr. Pons, der im Salon mit den Eltern sprach. Sie machte einen fragenden Eindruck.

Fléchambeau zermarterte sich das Hirn, wie er ihr sein Pech auf lufttelegraphischem Wege erklären könnte, ward aber durch das Auftauchen der jungen und unerträglichen Bobiche an Olgas Seite von allem weiteren Nachdenken entbunden.

Bobiche, ein verflixter, zehnjähriger Fratz, war die zweite Tochter des Ehepaars Monempoix, ein gescheites Kind, das sich aber immer zur unrichtigen Zeit einstellte. Bobiche schwärmte für Fléchambeau, weil er ihr stets nette Geschichtchen erzählte und ihre Puppensammlung bereicherte. Sie war der ärgerlichste Spielverderber, den man sich denken konnte, und, ohne es zu wollen, der grimmigste Tugendwächter ihrer älteren Schwester.

»Also, da haben wir schon wieder die Klette,« knurrte Fléchambeau.

Die Kleine reichte Olga ein rotes Ding hin, in welchem Fléchambeau den Toreador erkannte, den er eigens für Bobiche aus Spanien sich hatte schicken lassen.

Olga schien unangenehm berührt und antwortete zerstreut. Endlich folgte Bobiche der Blickrichtung ihrer Schwester ...

Fléchambeau machte sich dünn, trat ins Dunkel des Zimmers und paffte eine Zigarette nach der anderen.

Seinen Zorn verbeißend, legte er sich aufs Bett und ließ die Beine über das Fußende herabhängen. So traf ihn Pons.

»Nun,« rief Fléchambeau, aufspringend. »Du sagst nichts?«

»Es gibt Dinge, über die man mit lächelndem Munde schweigt!« erwiderte der Doktor. »Doch brause nicht auf. Ein schwacher Hoffnungsstrahl leuchtet dir noch.«

»So rede doch! Was für einer? Du spannst mich auf die Folter!«

Pons nahm gelassen Platz.

»Hast du meine Sache gut vertreten?« fuhr Fléchambeau fort. »Die Leute herumgekriegt? Dich ins Zeug gelegt?«

»Hm! Wie kann man sich bei solchen eigensinnigen, rechthaberischen Menschen ins Zeug legen? Ebensogut könnte man sein Herz einem marmornen Giebel ausschütten. Diese traurige Rolle spielte ich nicht, sondern ging gerade aufs Ziel los. Ich erhielt ...«

»Was? ...«

»Einen Aufschub ... eine Bedenkzeit eingeräumt, und das nur mit großer Mühe. Dreißig Tage. In einem Monat bist du ohne Gnade und Barmherzigkeit erledigt, oder man wird dich mit Blumen bedecken. In der Zwischenzeit ist es meine Aufgabe, mich zu ›entwickeln‹.«

»Versteh' nicht? ... Wie? Sollte ich mich getäuscht haben? ... Hat die politische Richtung ...?«

»Zwecklos, mich auszufragen! Ich glaube, gut gearbeitet zu haben. Schon ist es nicht mehr die glatte Ablehnung, welche dir wurde. Gratuliere also deinem Freunde Pons und überlasse alles Weitere ihm, da alles, ich wiederhole es, jetzt von ihm abhängt. Was dich anbelangt, junger Mann, so kann ich dir nur den Rat erteilen, zu verduften. Bleib' nicht in Saint-Jean-de Nèves. Deine Position hier ist derzeit unhaltbar. Mach', daß du fortkommst.«

»Wohin soll ich denn gehen?«

»Was weiß ich! Ans Meer, in ein Bad, ins Gebirge! Zerstreue dich. Treibe Sport! Geh' an die Küste, unterhalte dich mit Taubenschießen, Tennis ...«

»Aber Olga ...?«

»Es ist natürlich vorzuziehn, daß du darauf verzichtest, sie zu sehn.«

»Und in vier Wochen?« stotterte Fléchambeau kläglich.

»In einem Monat wirst du, ohne daß du dich deshalb aufzuregen brauchst, erfahren, ob du die Großjährigkeit Olgas abwarten mußt oder nicht.«

»Was?! Drei Jahre soll ich warten?! Nein, nein, davon will ich nichts wissen. Pons, du mußt zum Ziel gelangen! Unverzüglich mußt du deine Freunde bearbeiten ... doch, sei lieb, sag' mir, wie sich die Sache abspielte. Wie gingst du vor, was für Argumente führtest du an?«

Durch die halbgeöffnete Türe hatte sich die Katze »Maria-Stuart« hereingeschoben.

»Muni, Muni, Muni!« rief Pons, immer mit Altweiberstimme.

Mit vertikalem Satze spang ihm die Katze auf die Knie und bewegte ein wenig die Schwanzspitze. Dann begann sie ihr Zahnfleisch an einem Finger Pons' zu reiben, der ihr den Buckel kraute.

»Maria-Stuart,« sagte der Doktor neckisch, »ich werde mir noch schließlich einen Hund anschaffen, verstehst du? Aber kein so kleines zitterndes und vornehmes Vieh, das ›heraldisch‹ herumwinselt und dabei eine Vorderpfote hebt, sondern einen von Zärtlichkeit überquellenden Stöberhund, der bei meinem Anblick in ein Freudengeheul ausbricht. Ich werde ihn Amarynthos nennen, wie der Lieblingshatzhund des großen Jägers Aktäon hieß. Denn ihr vom Katzengeschlechte denkt nur immer an euch selbst. Ihr seht eure Herren als Buckelkratzer, Zahnbürsten und Sofas an. Die Hunde sind menschenfreundlicher, Maria-Stuart. Ich werd' mir einen kaufen.«

»Pons!« flehte Fléchambeau.

Die Katze schnurrte gemütlich vor sich hin. Sie war das personifizierte Wohlbefinden. Mit ihrer rauhen Zunge glättete sie eifrig ihren dreifarbigen Pelz.

»Dein Fell hat so viele Haare,« fuhr der Doktor fort, »als Menschen auf der Erde leben. Die Differenz wird keine große sein. Und dazu sicherlich einige Flöhe. Aber letzteres kann einen Parasitologen nicht in Schrecken versetzen. Übrigens ist man immer der Parasit von jemandem; der Floh ist der deine, du der meine, ich der der Erde, die Erde der irgendeines größeren Weltkörpers.«

»Pons!« stöhnte Fléchambeau.

»Pack' deine Siebensachen!« sagte der Doktor.

In diesem Moment wies Fléchambeau nach dem Platze.

»Schau! Dort geht der zweite Staatsanwalt Bargoulin, dieser blöde ›Rote‹, der auch Olgas Hand begehrt. Ein widerlicher Kerl. Ich hasse ihn. Wenn ich weg bin, wird der aufgeblasene Truthahn sein Rad schlagen. Er wird die Gelegenheit benützen, um ... doch, was seh' ich? Der Herr Präsident Monempoix tritt aus seinem Hause. Gott, ist er unsympathisch! Bargoulin spricht ihn an. Sie reden miteinander. Monempoix fuchtelt derart mit den Händen herum, daß man glauben könnte, er spräche mit einem Taubstummen. Worüber unterhalten sie sich? Jedenfalls handelt es sich um Olga! Pons! Pons! Pons! Dreißig Tage und dazu die Ungewißheit und die Geheimnistuerei. Komm, Alter, offenbare dich? Vielleicht könnte ich dir aus der Entfernung helfen? Wer weiß? Ich kenne auch einige demokratische Machthaber.«

Pons schnitt ihm alle weiteren Erörterungen mit den langsam und scharf betonten Worten ab:

»Pack' – deine – Sie–ben–sa–chen – und – fahr' – ab!«


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