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Es war eine dramatische und groteske Stunde zugleich.
Kaum daheim, setzte sich Pons an den Schreibtisch und schrieb Herrn Monempoix einige Zeilen der Entschuldigung: infolge eines leichten Unwohlseins Fléchambeaus seien sie gezwungen gewesen, sich auf Französisch zu verabschieden. Das Unwohlsein sei jedenfalls eine Folge der harten Kur, der er sich dem Herrn Präsidenten zuliebe unterzogen habe. Dann weckte er den trefflichen Valentin auf und befahl ihm, den Brief hinüberzutragen und bei dieser Gelegenheit die Mäntel und Hüte mitzunehmen, die man im Vorzimmer habe hängen lassen.
Als das Faktotum draußen war, blickten die beiden Männer sich in die Augen. Fléchambeau voller Angst, Pons völlig perplex. Ein ungeheures Schweigen herrschte – die Stummheit von dreitausend Klavieren, auf denen niemand spielt.
»Irgend etwas muß geschehen,« sagte sich Pons.
Fléchambeau, der in seinem Smoking hin und her schlotterte, sah aus wie einer aus jener Welt.
»Was windest du dich denn so?« fragte Pons, gezwungen lächelnd.
Heftig und verächtlich mit den Schultern zuckend, begann Fléchambeau ziellos umherzuirren. Er biß die Zähne aufeinander und hatte einen verlorenen Blick, wie ein Matrose, der voller Verzweiflung in einem gesunkenen Unterseeboote herumrennt.
»Du schaust aus, wie ein Hund, der seinen Blinden verloren hat!« begann Pons von neuem. »Wozu diese Angst? Für alles gibt es ein Mittel. So kannte ich einen Einäugigen, der sich betrank, um alles doppelt zu sehen. War er voll, unterschied er sich in nichts von dir und mir.«
Fléchambeau begnügte sich, seinem Freunde das bekannte Zitat aus »Götz von Berlichingen« an den Kopf zu werfen, und knurrte dann:
»Messen!«
Sie begaben sich in sein Zimmer. Fléchambeau zog Schuhe und Strümpfe aus und stellte sich auf den Apparat.
Ein Meter dreiundsiebzigeinhalb!
Pons runzelte beide Brauen – weil er nur zwei hatte. Er hätte hundert haben müssen wie der alte Argus, um seinen Ärger richtig zum Ausdruck bringen zu können.
Maria-Stuart beschielte sie mir ekelhafter Seelenruhe.
Fléchambeau knurrte.
»Es ist auch mit deine Schuld,« erklärte Pons angstzermürbt. »Ich hatte dir nicht erlaubt, die Pillen zu schlucken. Du hast die Kur ohne meine Zustimmung begonnen. Ich sagte dir ausdrücklich, daß meine Untersuchungen noch nicht beendet seien, die Entdeckung noch nicht restlos geglückt. Was Katzen, Tiere überhaupt, anbelangt, war ich ja meiner Sache sicher. Du siehst ja, daß Maria-Stuart nicht mehr kleiner wird, nicht wahr? Sie ist stabilisiert. Du aber nicht. Es ist also klar, daß mein Mittel auf Tiere und Menschen verschieden wirkt.«
»Du sagst mir nichts Neues,« entgegnete Fléchambeau. »Das Schreckliche aber ist, daß ich innerhalb vier Stunden um zweieinhalb Zentimeter abnahm.
Außerstande, mit Worten seine Verzweiflung zum Ausdrucke zu bringen, erging er sich in ohnmächtigen Zornausbrüchen.
»So tu doch etwas, beim Zeus!« schrie Fléchambeau auf. Er war ganz außer sich. »Tu doch etwas! Steh' nicht da wie ein Kretin! Gib mir irgend etwas zu trinken oder ein Bad ... Es muß doch irgendein Gegenmittel geben. Mach mir eine Einspritzung. Massiere mich. Laß mich zur Ader, gib mir ein Abführmittel, auskultiere mich, mediziniere! ... Betaste mich, beraume ein Konsilium an, wenn nötig. Willst du meine Zunge sehn? ...«
»Jedenfalls ist sie nicht gelähmt,« versetzte der also hart Angeredete. »Überhaupt nur Ruhe, nicht so aufgebracht. Stellen wir einmal fest: Durch deine ›Flucht‹ brachtest du uns um den Schnaps und den ›Schwarzen‹. In Anbetracht deiner Verzweiflung, die mich selbst schon enerviert, halte ich Kaffee für kontraindizierend, aber Schnaps ...« und Pons holte eine Flasche Kognak herbei, auf deren Etikette die drei bekannten Sterne leuchteten, wie der Sirius, der Atair und die Wega, und sie tranken miteinander mehrere Gläschen dieses wundervollen alten Charente-Alkohols.
Es herrschte wieder Schweigen. Da vernahm man auf dem Platze der Republik eilige Schritte, und wenige Minuten später erschien Olga, die sich über alles gesellschaftliche Herkommen hinweggesetzt hatte, gefolgt von Valentin, der die Garderobe der Herren trug.
»Nun?« rief sie angstvoll.
Statt aller Antwort nahm Fléchambeau Valentin den Hut aus der Hand, setzte sich ihn auf. Er fiel ihm über die Ohren und bis auf die Nase hinab.
»Ist er verrückt geworden?« dachte sich das junge Mädchen und blickte den Doktor fragend an.
»Ihr Verlobter fährt fort, kleiner zu werden, mein Fräulein,« sagte dieser. »Und ich zerbreche mir den Kopf darüber, wie man dem Halt gebieten könnte. Doch es wird mir gelingen, seien Sie unbesorgt. Sie werden eben die Gattin eines hübschen, sehr hübschen Gentlemans mittlerer Größe werden. Das ist alles.«
»Wenn's nur das ist,« meinte Olga vergnügt. »Fléchambeau, mein Freund, ich liebte Sie trotz Ihrer Größe, aber eigentlich habe ich kleine Männer lieber.«
Das gute Herzchen! Ja, es gibt noch Frauen, die im richtigen Moment das richtige Wort finden! Und dann ... über ihre nackten Schultern hatte sie eine der verführerischsten »Sortie de Bal« geworfen ...
Gerührt umarmte sie Fléchambeau, so gut er konnte, und zwang sich trotz seiner Verstimmung zu einem gemütlichen Lächeln. Doch – war der Kognak so adstringierend? – seine Lippen blieben aufeinandergepreßt, und er schloß beim Lächeln den Mund, um nicht seine Zahnlücken zu verraten.
Vollkommen beruhigt zog sich Olga zurück.
Fléchambeau aber floh der Schlaf. Und auch Pons gab sich nicht der Bettruhe hin. Die ganze Nacht arbeitete er in seinem Laboratorium, stöberte in seiner Bücherei herum, manipulierte mit einer Masse gefährlicher Substanzen, knetete Pasten von abscheulichem Aussehen und zerbrach sich den Kopf.
Als der Tag graute, erschien Fléchambeau – jetzt noch kleiner als Pons – in düsterer Stimmung und jammerte:
»Es geht weiter! Keinerlei Besserung! Ich werde närrisch. Ich wollte mein Zahnwasser nehmen, das Seifennetz an seinem Platze aufhängen, aber ...« und plötzlich wütend werdend, brüllte er: »Jetzt hab' ich's satt, verstehst du? Du bist ja ein Vieh! Ehe man eine Autotour macht, überzeugt man sich, ob die Bremse in Ordnung ist, und man dreht nicht einen Hahn auf, wenn man nicht weiß, wie man ihn wieder schließen muß! Ich ... ich ... spuck' dich an! ...«
»Du bringst mich noch ganz aus dem Häuschen,« erwiderte Pons gelassen. »Du bist wie ein Polizeiagent, der kein Wort sagen kann, ohne den ›wilden Mann‹ zu spielen. Alles wird sich geben. Komm, trink' das!«
Er reichte seinem Freunde in einem Reagenzglase einen scheußlichen, mißfarbenen, bleigrau geäderten Sirup. Mit einer greulichen Grimasse schüttete ihn Fléchambeau, so rasch er konnte, hinunter.
»Das ist ja ein Brechwurzelabsud!« rief er.
Pons zuckte die Schultern.
»Natürlich! ... Wenn du glaubst, daß es Ipekakuanha ist, wäre es sinnlos gewesen, es zu schlucken. Nur die Idee, daß es Ipekakuanha ist ... ah, was sage ich denn? ...«
Bleich sank Fléchambeau in einen weichen Fauteuil. Jetzt, wo er den Trank hinabgewürgt hatte, machte der arme Junge eine noch traurigere Miene. Ärmel und Hose seines Pyjamas waren schon dreifach umgekrempelt worden. Das viel zu weit gewordene Kleidungsstück selbst hatte etwas »Abgeschwollenes« an sich, was immer einen peinlichen Anblick gewährt. Das Wetter war auch unfreundlich, der Barometer sank, und über die ohnehin nicht sehr lichtvolle Stadt, der im Norden das Hochgebirge den Himmel versperrte, rieselte eintönig der Regen herab.
Eine Kirchenglocke ertönte.
»Wen begräbt man denn?« erkundigte sich Fléchambeau.
»Es läutet nicht zu einem Begräbnisse, sondern zu einer Hochzeit!
Wer mürrisch ist und schlechter Laune,
Vernimmt – daß du's nicht weißt, ich staune –
In jedem Tone, jedem Klang
Ein Grabgeläute, dumpf und bang!«
»Trottel!« erwiderte Fléchambeau, und sie reichten sich brüderlich und mitfühlend die Hände.
Der vormals »Lange« betrachtete die verschiedenen Apothekergeheimnisse, die sich hinter den Scheiben der Glasschränke befanden.
»So ein Pech!« knurrte er, »wenn man sich vorstellt, daß das rettende Mittel da ist – wir aber es nicht kennen. Irgendeine Mischung von dem Zeug könnte meinen Zustand des Immerkleinerwerdens zum Stillstande bringen ...«
»Du wirst nicht kleiner, sondern du resorbierst dich, saugst dich auf!« verbesserte Pons doktrinär. Ohne darauf zu achten, fuhr Fléchambeau in einem philosophischen Selbstgespräche fort: »Wenn man bedenkt, daß die Natur rings um uns Steine, Pflanzen und was weiß ich aufbaut, die zu unserer Gesundung geschaffen wurden, und daß sich Unheilbare, vielleicht auf dem Grase und den Kräutern selbst liegend, die sie retten könnten, ums Leben bringen. Mein Gott! Mein Gott! Mein Gott!«
Pons senkte unter dem Drucke des gewaltigen Schicksals das Haupt. Aber er warf es gleich wieder empor, wie unter der Wirkung eines »Uppercut«, als habe ihm die Hoffnung einen Hieb unters Kinn versetzt.
»Mut! Zum Henker!« rief er. »Schau nur, die Sonne durchdringt den grauen Flutmantel und
Um zu gefallen dem Maler und Architekten zugleich,
Wölbt siebenfarbig den Regenbogen das Wolkenreich.«
»Ich bitte dich, hör' mit deiner Reimerei auf!« flehte Fléchambeau. »Ich bin viel zu unglücklich, als daß ich Sinn für deine Späße haben könnte. Ich geh' lieber!« – Und er empfahl sich.
Im Laufe des Vormittags ließen die Choderpils, Dézormets und Chabosseaus sich nach dem Befinden Fléchambeaus erkundigen. Die Leute wußten, was sich schickt. Auch erhielt man den Besuch des Ehepaares Monempoix samt Tochter. Die Alten zeigten sich äußerst zugeknöpft, blieben auch nur ein paar Sekunden. Immerhin hatte Olga, die ganz verzweifelt war, von ihren Eltern die Erlaubnis erwirkt, zu kommen, so oft sie wollte.
Selbstredend kannten nur die Monempoix' die volle Wahrheit. Alle anderen glaubten an ein vorübergehendes Unwohlsein Fléchambeaus. Ein paar Tage später aber argwöhnte man bereits, daß Dr. Pons' Haus irgendein Geheimnis in sich berge, und Fléchambeau wurde der Gegenstand besonderen Interesses. Es gibt Dinge, die man nicht unter hermetischem Verschluß halten kann, die mit unwiderstehlicher Gewalt an die Öffentlichkeit dringen, und die, von Mund zu Mund gehend, um so mehr aufgebauscht werden, je weniger wissen, um was es sich eigentlich handelt. Ein Statistiker hätte festgestellt, daß jetzt viel mehr Leute, männliche und weibliche Wesen, über den Platz der Republik schritten, die sich den Anschein von Gleichgültigkeit und Zerstreutheit gaben, aber heimlich nach dem »geheimnisvollen Hause« hinüberschielten. Manchmal rumpelten sie dabei zusammen, rannten sich an einem Brett, das irgendein Schreinergehilfe auf der Schulter trug, das Auge ein, stolperten über den Rand des Brunnengehsteiges oder fielen mit der Nase in das Wasser des Bassins, wie es zum Beispiel dem alten Baron Cormoranche passierte, der nur von Getratsch, Geschwätz und Altweibergerede lebte.
Inzwischen nahm die Marter Fléchambeaus ihren Fortgang oder, besser gesagt, seine »Passion«, denn es gibt auch Kalvarienberge, die man nicht emporgeht, sondern herabsteigt, die deshalb aber nicht weniger schmerzensreich sind. Nun, Fléchambeau stieg einen solchen unaufhaltsam herab.
Der Gedanke, vielleicht innerhalb Monatsfrist zum Zwerge zu werden, erfüllte ihn mit Raserei. Er war bei unausstehlicher Laune. Von seinen Nächten wollen wir schweigen. Sein Aufwachen glich dem eines zu Tode Verurteilten. Und seine Tage, ach, seine Tage, erst recht. Keine Guillotine erwartete ihn, aber der Meßapparat, das entsetzliche hölzerne Meßinstrument, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Richtmaschine annahm. Dieser Meßschragen, der den armen Fléchambeau vom Morgen bis zum Abend wohl fünfzigmal hinrichtete, dies Holzgestell, das den Fortschritt seines Unglücks und den Weg seines Martyriums bezeichnete, verkürzte ihn wöchentlich um einen Kopf.
Auch andre, mehr nebensächliche Unannehmlichkeiten verursachten ihm Qualen und Wutanfälle, z. B. seine Garderobe. Zuerst schaffte man fertig gemachte Anzüge aus den »Vereinigten Werkstätten« an. Anfangs wollte Pons Anzüge aus einem Kleiderverleihgeschäfte beziehen. Aber Fléchambeau haßte das; er bekam eine Gänsehaut, seine Haare sträubten sich bei dem Gedanken, etwas anzuziehen, was schon andere getragen hatten. Inzwischen wechselte er Anzug auf Anzug, wie ein Reisender die Hotels.
Bald brauchte er Knabenanzüge. Valentin, der mit der Besorgung derselben beauftragt wurde, gefiel ein Erstkommunikantenanzug wegen der langen Beinkleider. Als Fléchambeau dieses Gewand erblickte, geriet er derart außer sich, daß man ihn schon fesseln wollte. Kleine Leute, namentlich rothaarige, sind immer cholerisch. Unser Held war niemals ein gemütlicher Mann gewesen. Daher ist es begreiflich, daß er jetzt, wo er sich keine Illusionen mehr darüber machen konnte, was er geworden war, noch viel ungemütlicher wurde. Kurz gesagt: er war jetzt ein Zwerg, ein Knirps, ein Wichtlein. Das Knabenkostüm bewies es ihm um so unangenehmer, als »Die Vereinigten Werkstätten« in bester Absicht der Sendung eine wundervolle, weißseidene Armbinde mit breiter Masche und schönen Fransen beigefügt hatten.
Olga kam oft. Ihre sanfte Gegenwart dämpfte ein wenig Fléchambeaus Zorn, erfüllte ihn aber mit noch größerer Trauer und einer dumpfen Ironie. Er konnte sie nicht mehr um die Taille nehmen, ohne sich lächerlich zu machen. Eines Tages wollte sie ihn auf den Schoß nehmen. Da bekam er einen derartigen Wutrückfall, daß ihr die Tränen in die Augen traten. Und sie hörte, wie er mit dünner, sarkastischer Stimme, die einem das Herz zusammenschnürte, sang:
»Mein Vater gab mir einen Mann.
Gott, ist mein Gatte klein!
Was fang ich mit dem Männlein an?
Wie kann so klein man sein?«
Und dann schaute er sie wehmütig an und sagte bitter: »Der Däumling ist da! Kuckuck – der Däumling ist da!«
Was sollte sie erwidern? Armer Fléchambeau!
Das Sonderbarste an der Sache war, daß er absolut regelmäßig abgenommen hatte. Seine Proportionen hatten sich nicht verändert. Er zeigte keine Falte, keine Runzeln. Würde man ihn ohne ein Vergleichobjekt daneben photographiert haben, wäre auf der Platte sein allgemeines Kleinergewordensein nicht ersichtlich geworden.
In Wirklichkeit aber war er ein Zwerg, ein Zwerg mit den Proportionen, dem Gesichte, den Gesten, dem Gange, ja selbst den Gewohnheiten eines Riesen. Also, das war wirklich etwas ganz Ungewöhnliches. Man stelle sich einen Elefanten von der Größe eines Schettlandponys vor oder eine Basilika als kleine Hütte. Das reizt unwillkürlch zum Lachen. Warum, weiß man nicht, aber es erregt unsere Heiterkeit, und nichts ist schrecklicher, als wenn man über etwas Trauriges lachen muß.
Olgas Rolle war schwierig und delikat. Jede Frau fühlt sich zu Kleinen hingezogen, weil sie Kindern gleichen. Klein zu sein, ist schon an und für sich nicht lustig, wenn man aber vordem groß war, so bedeutet es einfach den Sturz aus der Höhe, die Degradierung.
Frau Monempoix zog sich immer mehr zurück, machte sich rar, war pikiert, unzufrieden, eisig. Nur einer Revolte verdankte Olga ihre Freiheit, nach Herzenswunsch Fléchambeau pflegen zu können. Und Herr Monempoix war wieder präsidentenhaft geworden, machte nur kurze Anstandsbesuche und wiederholte ohne Unterlaß »Capitis diminutio ... Capitis diminutio!« und dachte dabei in seinem Innern, daß sich der Staatsanwalt Bargoulin einer stabilen und herkömmlichen Statur erfreue. »Niemals,« sagte er sich, »niemals wird Fléchambeau wieder wachsen und einen Schwiegersohn von Stiefelgröße mag ich nicht.«
Wieder wachsen! Pons tat, was er vermochte, um die Formel zu finden, die seinen Freund zum Himmel aufschießen lassen könnte. Kisten voller Bücher waren von Paris angekommen. Er vertiefte sich in eine Masse von Abhandlungen über Histologie, Osteologie und Physiologie, magerte ab, verlor den Schlaf, hatte keinen Durst, keinen Hunger mehr, büßte seinen Humor ein und wurde sich kaum mehr bewußt, daß er überhaupt noch lebe. Seine Augen zogen sich noch tiefer in ihre Höhlen zurück, man mußte besorgen, daß sie ihm einmal beim Hinterhaupte heraustreten würden.
Was Fléchambeau betraf, durchkostete er alle Bitternisse seines unseligen Geschickes. Inbrünstig betete er immer wieder zu seinem Herrn und Heilande: »Herrgott, erhöre mich, indem du mich erhöhst!« Und er empfing – ein Umstand, der sehr bemerkenswert erscheint – alle Augenblicke kindliche Eindrücke. Er war wieder zum kleinen Kerlchen geworden, dem das Gewicht eines Stuhles eine Kraftanstrengung abfordert, und das auf einen Schemel steigen muß, um aus dem Fenster schauen zu können. Aber diese Eigentümlichkeiten bereiteten ihm nicht einmal ein intellektuelles Vergnügen. Von Tag zu Tag wuchs sein Entsetzen. Anfangs hatte er nur gefürchtet, als Zwerg dem Spotte anheimzufallen. Jetzt als Zwerg beschäftigten ihn ganz andre, fürchterlichere Sorgen. Wie würde das alles enden? Wann würde sein Immerkleinerwerden zum Stillstande kommen? Ging er nicht ganz einfach dem Nichts, dem Tode entgegen? ...
Es kam der Tag, an dem der hölzerne Meßgalgen überflüssig wurde. Das Richtholz reichte nicht mehr tief genug herab. Derartige Apparate werden nur für das, was existiert, gebaut, nicht für Produkte närrischen Zufalls.
Fléchambeau maß 25 cm. Er war so klein, daß er aussah, als sei er unter einem Kohlkopfe zur Welt gekommen. Seit einiger Zeit schlief er in der Wiege, die einst Olga und Bobiche als erste Liegestatt gedient hatte. Dann wählte man unter Bobiches Spielsachen ein Puppenbett aus, wo Fléchambeau sich wohl oder übel entschließen mußte, die Nacht zu verbringen, Nächte, wie sie entsetzlicher noch kein Sterblicher durchgemacht. Kein menschliches Kleidungsstück war für ihn winzig genug. Olga ward es müde, immer wieder die Anzüge umzuändern, die sie ihm angefertigt hatte. Sie zog eine Puppe Bobiches nach der andern aus. So legte Fléchambeau z. B. die Uniform einer Puppe an, die einen Husarenrittmeister darstellte. Er trug noch keine halbe Stunde die rote Hose und die blaue Attila, als ihn Pons dabei ertappte, wie er einen Bindfaden an einen Stuhl knüpfte, um sich aufzuhängen.
Der brave Doktor war aufs tiefste erschüttert.
»Was, Selbstmord willst du begehn?« rief er. »Schluß machen? Bist du verrückt? Du weißt doch, daß wir dich noch aus der peinlichen Situation ziehen werden!«
»Das einzig Vernünftige, was ich auf dieser Welt noch tun kann, ist, mich in jene zu expedieren,« schrie Fléchambeau. »Wer sich umbringt, macht von seinem vornehmsten Rechte Gebrauch, das darin besteht, einen Ort verlassen zu dürfen, wo man nicht hinzukommen wünschte.«
»Die erste Pflicht des Menschen ist, das nicht zu tun!« versetzte Pons. »Deine Religion verbietet dir überhaupt, dich unserer Gesellschaft auf diese Art und Weise zu entziehn. Und dann ... und dann ... man wird dich schon noch retten ... Du wirst wieder groß werden ... Olga heiraten und mit ihr Kinder haben, die sehr glücklich sein werden ...«
»Das beste Mittel, das Glück seiner Kinder zu begründen, ist, keine Kinder in die Welt zu setzen.«
»Dummheit! ... Deine Pflicht ...«
»Pflicht reimt sich auf Wicht.«
»Ruhig! Du bist ein Miesmacher! Höre zu, Fléchambeau. Es lebten einmal zwei Zwillingsbrüder. Sie sahen sich so ähnlich, daß einst die Frau des einen ihn mit seinem Bruder verwechselte. Die Konfusion war so groß, daß die Gattin unbewußt diese ›Untreue‹ weiterbetrieb. Ihr Mann erfuhr davon und wollte seinen Bruder töten. Aber durch die fatale Ähnlichkeit, die sie miteinander hatten, wurde er selbst irregeführt und schoß auf sich selbst, weil er glaubte, den Revolver gegen seinen verräterischen Doppelgänger von Bruder gerichtet zu haben. Zum Glück blieb er am Leben. Die Kugel war durch sein Gehirn gesaust, ohne einen edlen Teil verletzt zu haben. Nun also, Du ...«
»Laß mich in Frieden,« unterbrach ihn Fléchambeau. »Ich versprecht dir's, ich werde kein Attentat
Buchseite 100 fehlt!
herum mit einer Bretterwand umgeben, denn ein Luftzug eines durch Zufall offengebliebenen Fensters genügte, um das leichte Geschöpfchen wegzufegen, wenn es sich innerhalb der Einfriedigung erging.
Aber diese Schutzvorkehrungen genügten noch nicht. Fast hätten eine dicke Hummel und dann eine große Spinne sich Fléchambeaus bemächtigt und ihm den Garaus gemacht. Die Villa wurde gegen ein Vogelbauer ausgetauscht, das Valentin mit einem Fliegennetz aus feinem Draht umgab. Zur Vorsicht bewaffnete noch Pons seinen bedauernswerten Freund mit einer sehr spitzen Stecknadel, die einen blauen Kopf aus Glas hatte. Sie konnte ihm nötigenfalls als Lanze dienen und gestattete ihm, sich eventuell auch gegen eine Fliege zur Wehre zu setzen, wenn sich etwa eine solche hinterlistigerweise in diese Art »Speisekammer« einschleichen sollte.
Man fütterte den Eingesperrten mit Krümelchen und Brotkrumen. Von Grillengröße war er bereits zu Blattlauskleinheit herabgesunken. Eines Abends geriet Pons in größte Bestürzung. Er sah ihn nicht mehr, aber eine haarige Raupe kroch, wie ein wandernder Schnurrbart, über das Gitter hin. Es war ein falscher Alarm. Fléchambeau schlummerte hinter einem Brotkrümelchen. Schon mußte man sich eines Hörrohrs bedienen, um mit ihm reden zu können. Man steckte sich das eine Ende ins Ohr und Fléchambeau sprach in das andre hinein. Als seine Stimme noch dünner wurde, nahm man einen Schallverstärker zu Hilfe.
Endlich vermochte kein Mikrophon mehr das Gewisper Fléchambeaus verständlich zu machen. Auch die Lupe, durch welche man ihn bisher betrachtete, wurde zwecklos. Man ersetzte sie durch ein Linsenglas, wie es sich die Uhrmacher bei ihrer Arbeit ins Auge klemmen, und die einzige Art des persönlichen Verkehrs beschränkte sich jetzt darauf, abzulesen, was Fléchambeau auf extra feinem Papiere mit einem in dünnste Tinte getauchten Stückchen Haar aufschrieb. Rasieren konnte er sich natürlich auch nicht mehr. Er trug daher einen Bart, der ihn sehr entstellte. Kleiner und immer kleiner werdend, erschöpfte er sich in fruchtlosen, verzweifelten oder wütenden Pantomimen. Mit Ausnahme eines kleinen Fetzens aus weiß Gott welchem Stoff, der weiß Gott wie festhielt und was Sie sich denken können verhüllte, bestand seine Kleidung aus – Luft.
Pons hatte auf jeden Rettungsversuch verzichtet.
Dem Kleinerwerden Fléchambeaus Einhalt zu tun, erschien ihm endgültig unmöglich. Auch schloß die Winzigkeit des Objektes jegliches Herummedizinieren aus. Zudem fühlte sich Pons viel zu traurig und unglücklich, um arbeiten zu können. Er verließ kaum den Tisch, der Fléchambeaus Domäne geworden war, eine Domäne, die für ihn von Tag zu Tag umfangreicher wurde. Auch Olga weilte morgens und abends stundenlang hier und beide betrachteten durch die Uhrmacherlupe das winzige, fein ziselierte Gesichtchen des Männleins, dessen rotes Haar den Kopf krönte, wie der Phosphor ein Streichhölzchen.
Welches würde wohl die Lösung sein?
Resigniert gab Fléchambeau seinen letzten Willen bekannt.
»Koste es, was es wolle,« schrieb er, »ich will christlich begraben werden. Macht das, wie Ihr wollt.«
»Aber du bist doch nicht krank,« erwiderte Pons. »Du bist nicht krank! Was redest du vom Sterben?«
Er bemühte sich dabei, möglichst die Stimme zu dämpfen und benützte ein kleines Sprachrohr aus Papier, dessen weite Trichteröffnung seinem eigenen Munde zugewandt war.
»Sie befinden sich glänzend wohl, Geliebter!« fügte Olga bei.
»Aber ins Undenkliche kann ich doch nicht kleiner werden!«
»Warum nicht?« erwiderte Pons, der mit dieser furchtbaren Antwort gezögert hatte.
Die Miene Fléchambeaus drückte finsteren Ernst aus. Schon lange beschäftigte alle Drei der nämliche Gedanke.
»Was dir begegnet,« fuhr Pons fort, »liefert den unumstößlichen Beweis, daß das menschliche Gewebe plastischer ist, als man je zu ahnen vermochte, mindestens nach ›unten‹ hin. Nachdem du bisher in keiner Weise Schmerzen erduldetest, will es mir nicht einleuchten, weshalb dein Organismus nicht noch eine weit bedeutendere Reduktion vertragen sollte. Statt daran zu denken, daß du kleiner wirst, mußt du dir vorstellen, daß du dich entfernst, dann bekommt die Sache ein ganz anderes Gesicht.« Ach, wie schnürten ihm diese Worte die Kehle zu.
»Ich entferne mich also?« schrieb Fléchambeau langsam.
»Ja, ohne dich zu bewegen.«
»Und ohne Hoffnung, je wieder zurückzukehren?«
»Wer kann das sagen?« meinte Pons. Doch er fühlte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten, und auch Olgas Lupe wurde trüb und sie nahm sie aus dem Auge, um sich die Tränen abzuwischen.
»Du hättest auch Pillen schlucken sollen!« schrieb Fléchambeau. »Mich allein fortzuschicken, ist feig.«
»Anders kann ich dir nützlicher sein,« rechtfertigte sich Pons. »Wäre auch ich kleiner geworden, wer hätte dich dann geschützt und auf dich achtgegeben?«
»Stimmt. Verzeih ... doch wohin gehe ich? ... was wird mir zustoßen? ... ich bin ja ganz mutterseelenallein und unbewaffnet ... kann nichts mitnehmen ... denn alles disproportionierte sich im gleichen Maßstabe ...«
»Sicherlich! Aber ein Schlaumeier wie du wird sich immer aus der Schlamastik ziehen. Und ... du wirst eine wunderbare Entdeckung machen, Fléchambeau. Ich habe immer behauptet, daß man die herrlichsten Abenteuer an Ort und Stelle erlebt und die schönsten Reisen nicht auf geographischem Wege macht. Doch niemals hätte ich mir einfallen lassen, daß sich meine Ideen so verwirklichen könnten, wie in deinem Falle.«
Fléchambeau schien nachzudenken.
»Pons,« erwiderte er endlich. »Ich weiß, daß die Grenzen der Welt nicht mit unseren menschlichen Sinnen wahrgenommen werden können. Es gibt zwischen Himmel und Erde eine Unmenge von Dingen, die wir entweder wegen ihrer Größe oder wegen ihrer Kleinheit nicht auf natürlichem Wege erfassen können. Einzelnes hat uns ja die Wissenschaft aufgedeckt: die Sterne und die Mikroben. Nicht zu den Sternen erhebe ich mich – zu den Mikroben gehe ich ein. Nun denn, Doktor, sag' mir einiges über die Welt, in die ich mich unfreiwillig begebe. Zuvor aber sage mir: glaubst du, daß wir alle Mikroben kennen? Nicht wahr, nein?«
»Ich glaube an das Unendliche,« gab Pons zur Antwort. »An das Unendliche im Großen und Kleinen. Das All ist unbegrenzt. Die Erde bildet nur ein Lehmkügelchen irgendwo im unendlichen Raume. Was wir ›Atom‹ nennen, weist einen Durchmesser von einem zehnmillionsten Millimeter auf. Das Atom aber ist ein Sonnensystem, gleich dem unsern – ein Sonnensystem, in welchem Planeten, die wieder fünfzigtausendmal kleiner sind als ein Atom, um ein Zentralgestirn kreisen, wie die Erde um die Sonne. Und die unendlich kleinen Sonnen, die kleiner sind als ihre Planeten, sind wiederum eine Milliarde Millionen winziger als ein Millimeter. Und alles läßt darauf schließen, daß auch diese minutiösen Welten abermals andere in sich bergen, und diese wieder andre und so fort ohne Ende.
Unser Sonnensystem ist wahrscheinlich im Verhältnis zu dem großen unendlichen Raume nur ein Atom, zu dem Weltenraume, der so ungeheuer ist, daß das Licht gewisser Sterne trotz einer Geschwindigkeit von 300000 Kilometern in der Sekunde uns erst nach zehn Millionen Jahren erreicht. Es ist wahrscheinlich, daß das All nur eines der kreisenden Systeme ist, von denen eins in das andre eingeschachtelt ist und deren Dimensionen, sowohl wegen ihrer Größe als auch wegen ihrer Kleinheit, zum Großteil von unseren Sinnen nicht erfaßt werden können, ja, sich überhaupt unserer Vorstellung entziehen. Nordmann prägte den Satz: ›Die Wirklichkeit geht über alle Traumbegriffe und erdrückt sie.‹«
Olga zog sich diskret zurück. Fléchambeau blickte ihr nach, der unerreichbaren Riesin, von der er doch in seinem Innern ein mit seinen eigenen Proportionen äquales Bild bewahrte.
Als sie fort war, frug er.
»Was ist's aber mit den Mikroben! ... den Mikroben?«
Pons merkte die Angst seines Freundes. War es wirklich notwendig, ihn restlos und wahrheitsgemäß über das aufzuklären, was er zu wissen begehrte? Würde er nicht sozusagen Schiffbruch erleiden, noch ehe er das Land der Mikroben erreichte? Sollte man ihn mit der Bazillenwissenschaft bekannt machen? So wie man einen Reisenden über die Sitten und Gebräuche der Völker unterrichtet, die er zu besuchen vorhat?
»Ich höre!« kritzelte Fléchambeau ungeduldig hin.
Pons begann.
»Noahs Arche beherbergte weit mehr Lebewesen, als ein menschliches Auge wahrzunehmen vermochte ...« – Und nun verbreitete er sich über die mikroskopische Fauna und Flora, indem er, was Fléchambeau hätte erschrecken können, milderte und »ad usum delphini« die üblen Gewohnheiten und bösen Eigenschaften gewisser Würmer, Stabtierchen, Algen und Pilze, die man mit freiem Auge nicht sehen kann, überging. Zufällig besaß er einige Präparate, die er Fléchambeau durch das Mikroskop betrachten ließ. Fléchambeau klammerte sich ganz oben auf dem Instrumente fest. Er nahm sich aus, wie ein irrsinnig gewordener Astronom, der die beiden Enden des Teleskopes miteinander verwechselt und verkehrt hineinschaut. Er machte auch den Eindruck eines Forschers, der verurteilt ist, eine Reise nach dem Monde zu unternehmen, und den fernen Himmelskörper betrachtet, auf dem er bald zu landen plant.
Hierauf wurde Fléchambeau mit allergrößter Vorsicht auf seinen Platz zurückgebracht und der Unterricht ging weiter.
Als Olga, leise die Tür öffnend, um keinen Luftzug zu verursachen, zurückkehrte, vernahm sie, wie Pons gerade sagte:
»Je nach der Berechnungsmethode zählt man in einem Gramm Wasserstoffgas 650-683 000 Milliarden Milliarden Atome. Wären nur 500 000 Milliarden Milliarden darin, hätte der Himmel eine grüne Farbe und bei 700 000 Milliarden Milliarden eine violette. Übrigens – Wasserstoff! Ich werde vielleicht gut daran tun, dir das Proutsche Gesetz bekanntzugeben.«
»Hm, hem!« machte Olga, fälschlich etwas Unanständiges witternd.
»Oh, mein Fräulein ... Sie?«
»Ja,« flüsterte sie. »Ich konnte nicht anders, bin zurückgekommen. Es quält mich die Angst, daß eine Katastrophe eintreten könnte, gerade wenn ich nicht da bin. Valentin, Herr Doktor, möchte Sie sprechen. Es ist etwas aus Paris angekommen.«
»Ich weiß, was es ist,« flüsterte Pons ebenso leise zurück. »Ein Übermikroskop, ein Mikroskop für ultraviolette Strahlen, mit Quarzprismen und Linsen. Es hat eine Vergrößerung von 14 000fachem Durchmesser. Mit diesem Apparat können wir ihn noch lang beobachten.«
»Wen? Fléchambeau?«
»Gewiß. Wen denn sonst?«
»Schrecklich! ... entsetzlich!«
Pons staunte, wie man so bleich sein könne, ohne tot zu sein.
Anfangs genügte ein gewöhnliches Mikroskop. Wir wollen nicht gerade behaupten, daß es restlos seinen Zweck erfüllte, denn diese Instrumente sind ja nicht zu einem Gebrauche, wie im speziellen Falle, eingerichtet. Immerhin erkannte man Fléchambeau im Objektiv und sah, wie er durch höchst geistreiche Mimik sich verständlich zu machen abmühte. Hier wollen wir die Episode mit der Krätzmilbe einflechten. (Sarcoptes scabiei.)
Ein verdammt ekliges Tier, so eine Krätze- oder Räudemilbe. Sie gehört, wie Sie wissen, nicht zu den Mikroben, ist aber immerhin ein häßliches, kleines Scheusal, ein winziges Ungeziefer, das die Dunkelheit liebt und ein boshaftes Vergnügen darin findet, sich in die Haut der Menschen oder der Tiere einzubohren. Hier vermehrt sie sich mit einer geradezu atemberaubenden Fixigkeit und macht ihre Opfer räudig, krätzig in kürzester Zeit. (Ein einziges »Pärchen« erzeugt innerhalb dreier Monate 1 000 000 weibliche und 500 000 männliche Nachkommen.)
Pons konnte sich nicht vorstellen, wie diese Milbe aus seiner kleinen Versuchsmenagerie entkommen war und wieso das Tier sich gerade an dem Orte befand, wo es nicht hingehörte, nämlich auf der kleinen Glasplatte, die Fléchambeau und sein Unglück trug. Wir nehmen ganz einfach an, daß die Milbe nach einer parasitologischen Untersuchung darauf kleben geblieben war. Alles, was man sagen kann, ist, daß diese Milbe ein zähes Leben besaß.
Während Pons einen kleinen Gesundheitsspaziergang absolvierte, befand sich Olga am Mikroskope des Laboratoriums allein auf der Wache. Sie sah ihren Bräutigam – jenen, den sie edel denkend nie anders nannte –, wie man Passanten vom dreißigsten Stockwerke eines Wolkenkratzers aus sieht. Um die Augen Fléchambeaus nicht zu sehr anzustrengen, warf der Spiegel des Mikroskopes nur einen sehr schwachen Reflex auf ihn. Es herrschte somit unter dem Objektiv eine gewisse Dämmerung. Plötzlich erschien die Milbe: riesig, fahl, von spitzen Seidenstacheln starrend, mit Fühlhörnern und Saugpfoten, und öffnete den Rachen, dessen Kinnladen den Scheren eines Hummers glichen. Mit unerhörter Raserei bewegte sie alle ihre gefährlichen Glieder und tastete sich – sie besaß allerdings keine Augen, aber einen ungemein entwickelten Orientierungssinn – auf Fléchambeau los. Damals war Fléchambeau so klein geworden, daß ihn die Milbe (es handelte sich um ein weibliches Tier, das viermal den Umfang eines männlichen hat) wie ein Mammut unsere vorgeschichtlichen Altvordern überragte. Den Vergleich können wir aber nicht weiterspinnen, denn unsere Vorfahren hatten Pelze an und Steinbeile, während Fléchambeau waffenlos war und als Kleidung nichts als die zur mikroskopischen Beobachtung notwendige dünne Ölschicht besaß, die ihn vor Kälte schützte, und die ihm etwa auch in einem Kampfe »Mann gegen Mann« wegen ihrer Schlüpfrigkeit von Vorteil sein konnte.
Olga stieß einen gellenden Schrei aus. Bei diesem Getöse, das Fléchambeau wie Donnergeroll vorkommen mußte, hob er den Kopf und man las ihm das Entsetzen vom Gesichte ab.
»Was tun?« fragte sich Olga.
Die Lage war in der Tat kritisch. Die elefantische Milbe setzte ihren blinden, aber zielbewußten Vormarsch unentwegt fort. Was hätte Fléchambeau Flucht genützt? Die Milbe bewegte sich unaufhaltsam vorwärts!
Unwillkürlich ließ das junge Mädchen die Maschinerie des Spiegels spielen. Denn das erste, wonach die Menschen, überhaupt alle mit der Gabe des Sehens ausgestatteten Geschöpfe trachten, ist, klar zu sehen, wenn irgendetwas da ist, was nicht stimmt.
Es war eine glänzende Idee. Denn eine intensive Helligkeit verbreitete sich jäh über beide Gegner. Die Walstatt war grell beleuchtet. Mehr bedurfte es nicht, um die Milbe abzuschrecken, denn obwohl sie blind sind, diese Räudeerreger, fliehen sie doch merkwürdigerweise das Licht wie die Pest.
Auf ihren acht Beinen machte die Milbe sofort kehrt und verschwand aus dem Lichtkreise, wo Fléchambeau nunmehr froh aufatmete.
In diesem Augenblick trat Pons wieder ein. Olga berichtete ihm, was sich abgespielt hatte. Sein gewohnter Umgang mit Parasiten ermöglichte es ihm ohne Schwierigkeiten, die Milbe aufzuspüren und sofort umzubringen.
Dank Olgas Intervention war die Geschichte mit der Krätzmilbe gut abgelaufen. Aber sie brachte einem zum schrecklichen Bewußtsein, welchen furchtbaren Gefahren und Angriffen ähnlicher Art Fléchambeau bei seinem ständigen Kleinerwerden ausgesetzt sei. Welches würde wohl sein Los sein bei den Mikroben, wenn ihn – ein armer, verlassener Schiffbrüchiger auf öder Insel – nichts als geheimnisvolle Tiere umgeben? ...
Die Tage gingen ins Land und das unerbittliche Schicksal Fléchambeaus erfüllte sich mehr und mehr. Er ward zum Molekül, zum Atom. Man mußte zu dem Übermikroskop Zuflucht nehmen, das stärkste Wahrnehmungsinstrument, das man bisher erfunden hatte.
Düstere Trauer lag über Pons' Haus. Herr und Frau Monempoix ließen sich nicht mehr blicken. Man hätte sie übrigens gar nicht in das Laboratorium eingelassen. Außer Pons, Olga und dem treuen Valentin, der alle Anstrengungen listiger Reporter, die gern herausgebracht hätten, was eigentlich los sei, zuschanden machte, betrat niemand den Raum.
Aber das Getratsch hatte seine Arbeit getan. Die Presse berichtete über das rätselhafte Verschwinden eines jungen Mannes, der sich in Saint-Jean-de Nèves aufgehalten habe. Es lag etwas Geheimnisvolles, Wunderbares in der Luft.
Pons erwiderte jedesmal, wenn man ihn fragte, Fléchambeau sei abgereist. Wohin, wisse er nicht.
Nichts konnte wahrer sein. Wie aber sollte man die langen Besuche Olgas plausibel erklären? Das war nicht leicht. Diese Besuche allein straften Pons Worte Lügen. Erst als sie aufhörten, glaubte man ihm endlich.
Der letzte Besuch gestaltete sich über alle Maßen rührend.
Es wäre für Fléchambeau zu gefährlich gewesen, ihn der Bestrahlung auszusetzen, welche der Gebrauch des Übermikroskopes bedingt. Pons hatte daher die Zahl der Beobachtungssitzungen streng geregelt.
Eines Sonntagsmorgens sagte er zu Olga.
»Kommen Sie bestimmt heute nachmittag, ich glaube, daß heute abend ...«
Tag der Trauer. Längst hatte man ihn vorausgeahnt und gefürchtet. Zum letzten Male sollte sie heute ihren Herzallerliebsten sehen, der ihretwegen, weil er sie anbetete, jene verhängnisvollen Pillen verschluckt hatte und jetzt zur Unterwelt hinabstieg, aus der es keine Wiederkehr gibt.
Sah sie ihn? Konnte sie unter der Masse der durcheinander wirbelnden Stäubchen und Formen, die von dem runden Lichtkreise des Objektivs beleuchtet wurden, den ultramikroskopischen Menschen unterscheiden? Sie bildete es sich mindestens ein, als sie einen kaum sichtbaren Punkt entdeckte, der sich nicht bewegte.
Fléchambeau vermied es nämlich seit einiger Zeit, sich von der Stelle zu rücken. Pons ängstigte sich sogar wegen dieser Unbeweglichkeit. Was war der Grund? Krankheit? Ein System? Klebte er wie ein Bazillus auf seinem Glasplättchen fest? Tot konnte er nicht sein, da er fortfuhr, immer noch kleiner zu werden.
»Ich sehe ihn!« sprach Olga und hob den Kopf.
Dann setzte sie ihre Beobachtung fort und sagte nach einer Weile traurig.
»Jetzt sehe ich ihn nicht mehr ... Ah, doch! ... nein ...«
Pons blickte seinerseits durch das Übermikroskop, konnte aber nichts mehr von Fléchambeau entdecken.
Er war verschwunden.
In Tränen aufgelöst, sank Olga in einen Fauteuil. Pons stand wortlos neben ihr. Was sie im Geiste sahen, würgte ihnen die Kehle zu.
Ein neuer Horizont verbarg vor ihren Augen den Reisenden, der sich immer weiter von ihnen entfernte – entfernte in einer noch unbekannten Weise, in das Unendliche, doch ohne einen Schritt zu tun, ohne sich vom Platze zu bewegen.
»Nie, nie wird er zurückkehren,« jammerte Olga.
Pons erhob die Arme zum Himmel und ließ sie schlaff wieder herabfallen. Olga sah, wie er sanft und pietätvoll – als drücke er einem teuern Entschlafenen die Augen zu – das Mikroskop mit einer Glasglocke bedeckte.
»Ich werde morgen kleine Keile unter den Rand des Glassturzes schieben, damit die Luft Zutritt hat,« sagte er.
Tränen in den Augen, blickte ihn Olga an, während sie den Hut aufsetzte.
An seiner Stimme merkte sie, wie bewegt er war. Zum ersten Male nahm sie den sinnberückenden Umfang seines »Gehirnkastens« wahr. Aber sie weilte ja nicht seinetwegen hier, vermochte ihren braven Eltern gegenüber nicht mehr ein Dableiben zu rechtfertigen.
Andachtsvoll betrachtete sie ein paar Sekunden die glänzende Glasglocke, unter der ihr Verlobter eben die Grenze menschlichen und wissenschaftlichen Sehfeldes überschritten hatte.
Pons fand sie eines großen Glückes würdig. Verständnisinnig gaben sie sich die Hände; dann entfernte sie sich schlicht und natürlich.