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Blanchard war und blieb verschwunden. Dadurch, daß er seine sämmtliche Effecten in Stich gelassen hatte, gewann sein Verschwinden das Ansehen einer wohlüberlegten Flucht und der Präfect Markland hatte Ursache, diese Ansicht bei der Revision vollständig begründet zu finden. Es ergaben sich bedeutende Defecte in den Cassen, Fälschungen in den Büchern und Unterschlagungen von angewiesenen Zahlungen. In der Verwirrung der Zeit ließ sich aber in dieser Sache gar nichts weiter thun, als sie still beklagen und sie in den heraufziehenden Ereignissen untergehen zu lassen.
Mittlerweile verging der Winter mit seiner Schneedecke und seinen Eisschollen. Der Frühling brach herein. Des preußischen Königs »Aufruf an sein Volk« durchhallte die Gauen. Berlin war von den französischen Besatzungen geräumt. Graf Wittgenstein und bald darauf der ehrenhafte General v. York zogen in die Hauptstadt Preußens ein und wurden mit stürmischem Jubel begrüßt.
Schlachten und Gefechte gehörten zur Tagesordnung, erlangten jedoch noch nicht die Bedeutung, wie nach der spätern, allgemeinen Erhebung. Allein es folgte doch Schlag auf Schlag, es ging mit unbegreiflicher Eile auf der Seite der Preußen und Russen »vorwärts«, auf der andern Seite »rückwärts«.
Die Schauplätze der Kriegsabenteuer hatten sich schon verändert und waren mehr in die Mitte des preußischen Gebietes, nahe der Grenze des französisch-westphälischen Reiches, gedrungen. Streifzüge näherten sich der Gegend, wo der Präfect, neu beseelt, seinen Wirkungskreis erweiterte, wo der Rath Giseke aufmerksam im Hinterhalte auf die Gelegenheiten lauerte, die seine Thätigkeit beanspruchten.
Man sprach davon, daß Napoleon beabsichtige, in dieser Gegend seine Hauptmacht zusammenzuziehen. Daraus entwickelten sich die Bestimmungen, daß kleine Truppenzüge zwischen der Elbe, der Weser und der Saale umherstreifen und nötigenfalls die Bewegungen der französischen Armee scharf ins Auge fassen sollten. Leicht berittene Reiterschwärme sollten die Gegend von allen Seiten beobachten, um sichere Nachrichten zu sammeln, und sie schnell an das Hauptquartier zu senden.
Als diese Anordnungen der umsichtigen deutschen Feldherren das Ohr Giseke's erreichten, zeigte er einige Tage eine stille Nachdenklichkeit in allen Mienen. Seine Thätigkeit in seinem Berufe steigerte sich und selbst seine Untergebenen bemerkten, daß er einen Entschluß gefaßt haben mußte, der ihn für eine längere Zeit aus seiner gewöhnlichen Lebensbahn zu entfernen drohte. Seine Vorbereitungen verriethen dergleichen.
Eines Abends trat Giseke hastig zu seiner Schwester ein, die aus ihrer frivolen Lebensart zu einer bürgerlich einfachen Häuslichkeit hinabgestiegen war und sich darin äußerst wohl fühlte. Sie saß, mit einer Handarbeit beschäftigt, bei einer einfachen Lampe und wartete ihres Gatten. Ihr Bruder kam selten zu ihr, deshalb vermuthete sie gleich, daß absonderliche Gründe diesen Besuch veranlaßten. Sie sah fragend zu ihm auf.
»Guten Abend, Dora,« sprach Giseke, zärtlich seine Lippen auf ihren Scheitel drückend. »Wo ist Markland? Ich komme, Abschied von Euch zu nehmen! Auch bringe ich Euch meine Papiere, meine Kleinodien und meine Documente zur Aufbewahrung, da ich nicht weiß, wie lange ich abwesend sein werde.«
Dora kannte jetzt den Zweck seiner Reisen, wunderte sich also für's Erste nicht über seine Reisevorbereitungen.
»Wohin willst Du, Ludwig?« fragte sie freundlich. »Setze Dich nur nicht unnöthig der Gefahr aus. Es soll schon rundum sehr unruhig werden!«
»Eben in dieser Unruhe will ich mich thätig zeigen, liebe Schwester!« erwiederte der Rath. »Es handelt sich jetzt um Kenntniß des Terrains und darin kann ich leisten, was kein anderer Mensch leistet.«
Dora sah ihn groß und verwundert an. Sie verstand ihn nicht, weil er, ganz voll von seiner Idee, annahm, sie wisse, was er wußte.
»Ja, ja!« fügte er lächelnd hinzu, indem er ihren fragenden Blick beantwortete. »Man braucht im Observationscorps einen Mann, der die Landschaft vom Thüringerwalde an bis Leipzig ganz genau kennt. Ich bin der geeignete Mann und habe mich zur Disposition gestellt. Morgen thue ich die nöthigen Schritte, um mich einkleiden und beritten machen zu lassen. Es wäre eine Schande, wollte ich zögern, mich nützlich zu zeigen.«
»Ludwig!« fuhr Dora schmerzlich betroffen heraus. »Das ist ein bitterer Vorwurf für meinen Mann. Er hat Dir sein Wort verpfändet, das Schwert für sein Vaterland zu ziehen, und er hat gezögert, es zu thun, um meinethalben.«
»Sei ruhig, Dora,« begütigte der Rath sie. »Ich bin weit entfernt, Markland Vorwürfe darüber zu machen. Er kann hier besser nützen, als im Felde, wenn der Umsturz nämlich gelingt und wir wieder preußisch werden. Nein, sei ganz unbesorgt. Ich stehe allein in der Welt. Wenn ich mein Leben opfere, so weint mir kein Weib nach! Solche Männer haben den richtigsten und aufopferndsten Muth, die kein Lebensglück auf's Spiel setzen. Es kann mir übel ergehen. Ich weiß, daß diese Streifcorps von Heimtücke und List verfolgt werden, daß sie durch kleine Scharmützel einer täglichen Gefahr ausgesetzt sind; allein das soll mich nicht zurückschrecken von meinem Vorhaben.«
»Bester Ludwig,« bat die junge Frau schmeichelnd. »Weißt Du denn wohl, daß gerade in den letzten Tagen durch niederträchtige Verrätherei ein Reitertrupp in einen Hinterhalt gelockt und dort meuchlings niedergehauen und beraubt ist?«
»Eben das hat meinen Entschluß zur Reife gebracht, Dora,« entgegnete Giseke ernst. »Wäre ein Einziger der armen Reiter der Gegend kundig gewesen, so hätte es nie geschehen können. Ich will der Berather, der Beschützer meiner Cameraden sein. Ich will wachsam dem Verräther nachspüren, der sehr gut Bescheid in den Wäldern Thüringens wissen muß. Lebendig oder todt, ich will ihn haben, um ihn einem Rächeramte überliefern zu können. Der Fall, den Du erzähltest, steht leider nicht vereinzelt da, und daß es auf Plünderung abgesehen, also rein eine Handlung der Habsucht ist, davon überzeugt uns die Raffinerie, womit jedes Mal Colonnen verführt werden, die aus wohlhabenden Leuten bestehen.«
»Das wäre ja ein systematisches Räuberverfahren!« rief die junge Frau entsetzt ans. »Hat man Verdacht auf Jemand?«
»Ja. Ein Mann, der sich für einen Gutsbesitzer ausgiebt, hat die letzte Affaire geleitet, ist voller Schrecken beim Anblicke der Franzosen, die plötzlich aus dem Dickichte gebrochen sind, entwichen, aber ganz dreist wieder gekommen, als die abscheuliche Metzelei ein Ende gehabt hat. Einer der Verwundeten hat so lange gelebt, um aussagen zu können, daß dieser Gutsbesitzer sämmtliche Leichen geplündert habe und seine Beute ganz erklecklich ausgefallen sei, da seine Cameraden reiche Bauersöhne aus dem Magdeburgischen gewesen wären, die stets die Taschen voll Geld gehabt hätten. Mein Herz blutete mir, als ich diese Geschichte erzählen hörte und mein Entschluß erkräftigte sich dabei. Ich will dem Hallunken nachspüren, der die Reiter geführt hat, ich will diesen entarteten Deutschen einer strafenden Gerechtigkeit übergeben.«
Dora schmiegte sich an ihn und sah ihm bedeutungsvoll ins Auge.
»Gehe mit Gott, mein theurer Bruder,« flüsterte sie, »aber denke daran, daß auch um Dich die Augen eines Weibes weinen würden, wenn Du als Opfer Deines Muthes fielest. Denke an Marie!«
Giseke sah sinnend vor sich hin. Eine weiche Empfindung schien seine Brust zu durchströmen.
»Grüße sie von mir,« sprach er leise. »Sollte ich den Tod bei meinem Vorhaben finden, so sage ihr, daß ich sie seit Jahren beobachtet, daß ich sie als das lieblichste Wesen erkannt hätte, das die Erde trägt. Grüße sie von mir!«
»Gieb mir ein Zeichen Deiner Liebe,« bat Dora schmeichelnd. »Gieb mir diesen Ring –« sie zog einen schmalen Goldreif, der eine Schlange vorstellte, die sich in den Schwanz beißt, von seinem Finger.
Er ließ es ohne Widerstreben geschehen. Ein ruhiges Lächeln verklärte sein Gesicht, als er entgegnete:
»Mit diesem Ringe verlobe ich ihr mein Herz, – ob ich ihrer Liebe wohl sicher bin?«
»Ja!« rief Dora begeistert. »Ich bürge für Mariens Herz, ich bürge für ihre Liebe, für ihre Treue! Ein Leben an ihrer Seite ist für Dich des Lebens Seligkeit, deshalb sollst Du Deines Lebens schonen, mein Bruder, ich bitte Dich in Mariens Namen darum!«
Giseke strich leicht über das Gesicht der jungen Frau hinweg.
»Du schlaues Frauenzimmer! Um meinen Muth zu zügeln, verlobst Du mich?«
»Um Dich vor Tollkühnheit zu bewahren, mein Lieber!« erwiederte sie und schritt eilig ihrem Manne entgegen, der so eben in das Zimmer trat.
Giseke überließ es seiner Schwester, das zu erzählen, was ihn herführte; er selbst ordnete seine mitgebrachten Papiere und stellte sie dann seinem Schwager zu.
»Erliege ich in irgend einem Kampfe, so ist dies Alles Euer Eigenthum,« sprach er dabei. »Sollte ich durch meinen jetzigen Entschluß in den allgemeinen Aufstand unseres Vaterlandes hineingerissen werden, so verwerthet einige Documente bei Wolfstein, der ein ehrenwerther Mensch ist und sendet mir das Geld sicher nach. Deine Schuld bei ihm, mein bester Schwager, habe ich getilgt, lebt nun ohne Sorgen für die Zukunft; Ihr seid geläutert aus der schweren Prüfung hervorgegangen.«
Markland, sichtlich ergriffen, hatte während dessen einen schweren Kampf mit sich selbst bestanden. Als Giseke seine Rede endete, sprach er fest und entschlossen:
»Ich habe noch ein heilig gelobtes Wort bei Dir einzulösen, Ludwig. Mit einem Handschlage schwor ich, mein Blut der Freiheit zu widmen, – entscheide Du, was ich thun soll!«
»Du sollst hier bleiben, Philibert! Du sollst mit Umsicht den Pflichten leben, die Dir obliegen. Sie werden sich mehren im Drange der Zeit, aber Du wirst den Muth haben, allen Schwierigkeiten entgegenzutreten. Erinnere Dich, daß ich einstmals sagte: ein Theil des Volkes muß nach außen wirken, der andere Theil im Innern schaffen. Dir fällt das Letztere zu. Hebe mächtig und entschlossen das Haupt, wenn Alles stürzt!«
»Segne mich zu diesem Werke, Ludwig,« bat Markland bewegt seine Hand fassend.
Giseke küßte ihn, preßte seine Schwester gleichzeitig an sich und war verschwunden.
Am nächsten Morgen ritt Giseke in der Uniform eines gemeinen Reiters ruhig und gefaßt seine Straße. Seine Seelenruhe war von der augenblicklichen Herzenswallung nicht beeinträchtigt. Er hatte erkannt, was seine Pflicht war und er handelte darnach. Wir überlassen ihn seiner neuen Pflichterfüllung und wenden unsere Aufmerksamkeit wieder dem Häuschen auf der Bleiche zu.
Vierzehn Tage mochten nach Giseke's Abschied von seiner Schwester verflossen sein, als Marie Rüdiger eines Abends beklommen am Fenster ihrer Wohnstube stand und ängstlich hinaushorchte. Man hatte in der Ferne ein anhaltendes Schießen vernommen und der Calculator war hinausgegangen, um Erkundigungen darüber einzuziehen. Die Gerüchte erzählten noch immer von heimtückischen Ueberfällen, die stets mit Plünderungen der Leichen endeten, so daß sich die allgemeine Theilnahme fast mehr auf diese kleinen Scharmützel lenkte, als auf die größern Schlachten, die in Schlesien geschlagen wurden.
Marie wußte, daß Giseke vorzugsweise dieser Niederträchtigkeit auf die Spur zu kommen trachtete, und daß er dieserhalb sich dem Observationscorps angeschlossen hatte. Dora hatte ihr getreulich Alles erzählt, was beim Abschiede gesprochen war und hatte den bindenden Goldreif an ihren Finger geschoben, ohne sich an das mißbilligende Kopfschütteln des Calculators zu kehren.
Das junge Mädchen zagte um des theuern Mannes Leben, als sie träumerisch und ängstlich zugleich über die Wiesen hinwegblickte, die im Frühlingsgrün glänzten. Die Sonne sank schon und ihr Vater war noch nicht zurück. Bisweilen däuchte ihr, als höre sie schreiende, rufende Stimmen, als nähere sich ein oder der andere Schuß, als stampften Pferdehufe den Erdboden.
Je näher der Abend kam, desto ängstlicher wurde sie. Sie befand sich ganz allein im Hause, nur ein großer, wachsamer Hund lag im Hausflure, der ihr zwar Schutz gegen einen Einzelnen, aber keinesweges gegen mehre und noch dazu bewaffnete Männer versprach.
Marie überließ sich trotz ihrer Ängstlichkeit eben einem lieblichen Träumen, worin das Bild des Mannes, den sie nächst ihrem Vater am höchsten ehrte, von Glorien umwallt wogte, als sie von der Seite des Dorfes einen Mann über die Wiesen eilen sah, schwankend und zusammenbrechend und doch immer wieder sich emporraffend. Kaum war er dem Häuschen, an dessen geöffneten Fenster das junge Mädchen träumte, nahe, so verließ er mit einer Hast, als würde er gejagt, den Wiesenpfad und stürzte auf das Haus los. Im Nu hatte er es erreicht, hatte die Treppe erstiegen und die Hausthür aufgestoßen. Wüthend fuhr ihm der Hund entgegen. Erschrocken beschwichtigte diesen Marie und trat in den Flur hinaus, wo der Mann kraftlos niedergesunken war.
»Verstecken Sie mich,« stammelte er, scheu zu ihr aufblickend, aber die Hände flehend emporrichtend. »Verstecken Sie mich! Man verfolgt mich! Um Gottes Barmherzigkeit willen, verstecken Sie mich nur eine Stunde, eine einzige Stunde!«
»Wer verfolgt Sie?« fragte Marie zitternd, aber doch nicht ganz fassungslos. »Die Franzosen? Hier in der Nähe liegen aber keine französische Truppen mehr.«
Der Mann hob sein herabgesunkenes Haupt ein wenig auf und fixirte mit blitzendem Blick das schöne, deutsche Mädchen.
»Wohl – wohl – Franzosen verfolgen mich,« murmelte er dann kaum hörbar. »Wenn ich nur weiter könnte – nur eine Stunde Ruhe! Habe ich es nicht immer gesagt – Giseke.«
Als hätte ein Sonnenstrahl ihr Inneres erleuchtet, so durchglühte dieser Name, der kaum verständlich über des Flüchtlings Lippen schlüpfte, ihre Brust.
»Wie? Verstand ich recht? Giseke hat Sie zu mir gesendet?« fragte sie, bereitwilliger näher tretend.
Wieder blitzte der Blick des Mannes über sie hin; hätte er die Kraft gehabt, so würde er vielleicht höhnisch gelächelt haben.
»Ja, ja,« stieß er abgebrochen hervor. »Giseke! – Retten Sie mich – verstecken Sie mich, um Gottes – Barmherzigkeit – willen!«
Er endete mit einem herzzerreißenden Stöhnen.
Marie riß schleunigst die Thür zu ihrem Besuchszimmer auf und rief:
»Folgen Sie mir! Folgen Sie schnell; ich höre Fußtritte!«
Im Fluge hatte das junge Mädchen die verborgene Thür geöffnet, die hinter dem Schranke war, und der Flüchtling hatte mit Aufbietung aller seiner Kräfte das Asyl erreicht, als sich von Neuem die Hausthür öffnete.
Obwohl einer Ohnmacht nahe, verlor doch Marie die Geistesgegenwart nicht. Sie blieb ruhig bei dem Schranke stehen, als ordne sie ihre Kleider, und wendete noch nicht einmal den Blick zur Thür, die nach dem Hausflur offen stand. Aber ihre Selbstbeherrschung brach zusammen und sie stürzte mit einem Freudenschrei hinaus in den Flur, als sie hinter sich ihres Vaters Stimme mit dem Klange der höchsten Verwunderung fragen hörte:
»Was machst Du denn da, Marie!«
»Gott sei Dank, daß der Herr Vater es sind,« schluchzte sie. »Ein Mann kam und bat um Schutz,« berichtete sie dann etwas gefaßter. »Ein fremder Mann –«
»Und Du hast ihn ohne Weiteres in unser Versteck gebracht?« fuhr der Calculator zornig heraus.
»O, er sagte etwas von Giseke,« stammelte das Mädchen bestürzt.
»Was soll das heißen? Hat der Rath Giseke das Recht, hier in meinem Hause zu befehlen, oder habe ich das Recht?«
Marie sah ihm, ohne ein Wort der Erwiederung zu wagen, flehentlich in's Auge.
»Ich will mir doch aber schleunigst diesen fremden Mann 'mal ansehen,« fügte der alte Herr, von der Einwirkung dieses Blickes erweicht, hinzu. »Zünde mir die Lampe an, Kind!«
Marie beeilte sich, diesem Befehle Folge zu leisten. Mit Hut und Stock, im blauen Rock und mit dem langen Zopf, ganz dasselbe Bild, wie in jener schönen Zeit, wo er sich als Calculator noch in's Bureau verfügte, so trat er durch die schmale Thür im Schranke und leuchtete mit merklicher Neugier in das Versteck hinein.
Marie folgte, blieb aber zitternd am Schranke stehen, als ihr Vater murrend sagte:
»Nun, was ist denn das? Können Sie sich nicht umdrehen, damit ich Ihr Gesicht sehen kann?«'
Die Antwort blieb aus und der Fremde regte sich nicht.
»Heda!« rief nun der Calculator. »Wer sind Sie? Richten Sie sich auf!«
Der Fremde, welcher lang ausgestreckt auf der Erde lag und das Gesicht zur Wand kehrte, rührte sich nicht.
»Der Mann ist ohnmächtig!« flüsterte Marie furchtsam.
»Hole mir Wasser!« befahl der alte Herr. »Nein, laß nur, er bewegt sich schon, nun? Schlafen Sie oder sind Sie krank?« fragte er, als der Mann sich, wie ein Schlaftrunkener schüttelte und seinen Kopf langsam zu ihm wendete. Er schauete auf, und der Calculator sah zu ihm nieder. Der Schreck und das Erstaunen waren aber gegenseitig, als sie, Aug' in Auge, fanden, daß sie alte Bekannte waren.
»Blanchard!« schrie der Calculator außer sich vor Zorn. »Blanchard – in meinem Hause – als Flüchtling – Schutz suchend – in meinem Hause? Fort mit Ihnen, auf der Stelle fort! Nicht einen Augenblick dulde ich diesen Ehrlosen langer hier! Fort!«
Blanchard richtete sich mühsam auf.
»Mit Vergnügen folge ich dem Befehle,« sagte er stöhnend. »Verfluchtes Mißgeschick, das mich hieher führte. Wußte ich doch gar nicht, wo ich das Gesicht der Demoiselle schon gesehen, die mich so naseweis examinirte.«
»Sie Lügner!« fiel der alte Herr wieder ein. »Der Rath Giseke soll Sie hergesendet haben? Abscheuliche Lügen –«
»Tod und Teufel, schweigen Sie, alter Sittenprediger! Ich habe das nicht gesagt, die Demoiselle hat sich's gedacht!«
Er richtete sich vollends in die Höhe und stand schwankend vor dem Calculator da, der gebieterisch mit der Hand nach der schmalen Oeffnung zeigte.
Mechanisch schritt Blanchard vorwärts. Sein Gesicht wurde todtenbleich. Er ächzte und hielt sich die Seite, kam aber glücklich bis in den Hausflur, wo er plötzlich zusammenbrach und niederstürzte.
»Verflucht! Ich kann nicht weiter!« schrie Blanchard verzweiflungsvoll auf. »Giseke's Kugel sitzt mir im Leibe.«
Der Calculator sah ihn verwundert an und lächelte dann verächtlich.
»Wieder eine Ausrede, aber sie hilft Ihnen nichts. Fort müssen Sie. Säße Ihnen eine Kugel aus Giseke's Pistole im Leibe, so wäre das nur eine gerechte Vergeltung für die Kugel, die Sie ihm durch's Gehirn schicken wollten, als Sie ihn in den Strom stießen.«
»Giseke war es!« rief Blanchard, sich jähe aufrichtend. »Den Rath Giseke habe ich damals attaquirt – den Rath Giseke?«
»Ja, ja,« erklärte Rüdiger mit Verachtung. »Markland hat ihn gerettet, sonst wäre er im Wasser umgekommen! Fort mit solchem Schurken, fort aus meinem Hause.«
»Giseke und Markland,« flüsterte Blanchard mit unheimlichem Tone und sank machtlos wieder zurück. »Giseke ist mein Verderben! Ich habe es empfunden bei seinem ersten Blicke – Markland und Giseke –«
»Wollen Sie nun mein Haus verlassen oder –«
Marie schrie auf und deutete auf Blanchard.
»Vater, seien Sie barmherzig!«
Blanchard wendete sein Auge zu ihr.
»Einen Tropfen Wasser,« murmelte er.
»Nichts da!« fuhr der Calculator auf. »Schurken erhalten nichts in meinem Hause!«
Marie war aber in die Stube gesprungen und kam mit einem Glase Wasser wieder. Sie knieete neben dem verworfenen Menschen nieder, hob seinen Kopf, der flach auf dem Estrich lag, empor und flößte ihm einige Tropfen Wasser ein. Ein Blick traf sie noch, ein Blick, worin eine Spur von Dank lag, dann seufzte der Mann tief, tief auf und war eine Leiche! –
Der Schrecken des Calculators war grenzenlos. Marie zitterte, von namenlosem Entsetzen erfaßt. Voll Grauen stürzten Beide aus dem Hause und riefen die Nachbarn herbei. Erst dann versuchten sie, ob noch Leben in Blanchard sei. Er war todt und blieb todt. Ein Bote wurde an den Präfecten Markland gesendet, um ihm die Nachricht von dem seltsamen Todesfalle zu überbringen und ihn zu bitten, so schnell, wie möglich, mit den gerichtlichen Maßregeln einzuschreiten, damit man nur die Leiche wegschaffen könne, die noch auf dem selben Flecke lag.
Marie verbrachte eine schauderhafte Nacht. Ihr Vater schien auch nicht auf Rosen geschlafen zu haben, und man muß wirklich zugeben, daß der Zufall nicht seltsamer spielen konnte, als er den einzigen Menschen, den Rüdiger gründlich haßte und verachtete, in dies Haus warf, um ihn dort sterben zu lassen.
Der Präfect leistete der an ihn ergangenen Aufforderung unverweilt Folge. Schon am frühen Morgen traf er, begleitet von dem nothwendigen Gerichtspersonal, auf der Bleiche ein, um die Todesart Blanchard's festzustellen. Mit welchen Gefühlen Markland bei dieser Gelegenheit in die Vergangenheit zurückblickte, läßt sich denken.
Wer aber malt die Ueberraschung der Leute, als sich bei der Entkleidung der Leiche zuerst ein harter und steifer Gegenstand zeigte, der, fest um den Oberleib geschnürt, sich nach erfolgter Ablösung als eine Mappe erwies, die voller Assignationen auf französische Cassen und Banken war und als sich dann auch in seinen Kleidungsstücken, in allen Taschen, im Unterfutter und wo man sonst irgend etwas verbergen konnte, Goldstücke, Ringe, Uhren und sonstige Kostbarkeiten vorfanden. Es war augenscheinlich, daß ihn nur die unersättlichste Habgier verleitet hatte, den eingeschlagenen Rückweg in sein Vaterland wieder zu verlassen, um im beginnenden Kriegsgetümmel seine Reichthümer zu mehren.
Die Leiche Blanchard's wurde am Ufer des Stromes eingescharrt, die bei ihm gefundenen Werthpapiere nebst seinen mit Gold und Kostbarkeiten gespickten Kleidungsstücke wurden vorläufig vom Gerichte in Asservation genommen und fielen später dem Fiscus zu.
Uebrigens stellte es sich durch Nachforschungen heraus, daß wirklich Giseke den Uebelthäter aufgespürt und mit unerbittlicher Beharrlichkeit verfolgt hatte. Ob aber seine Kugel die Ursache von Blanchard's Tode war, blieb doch fraglich, da bei der Attaque von allen Seiten auf den Fliehenden geschossen worden war.
Giseke wurde vom Strome der Zeit fortgerissen. Er kam nicht zurück, als das Observationscorps sich mit dem Heere vereinigte. Er machte den Feldzug mit, bis zur Entfernung des französischen Kaisers.
Diesen Zeitraum überspringen wir jedoch und knüpfen den Faden unserer Erzählung bei dem Zeitpunkte wieder an, wo die deutschen Fürsten in den Besitz ihrer Länder zurücktraten und die Napoleonischen Königreiche in Rauch und Pulverdampf aufgegangen waren.
Der Rath Giseke trat, unmittelbar nach dem beendeten Kriege im Jahre 1814, sein Amt wieder an, machte sich bei der Renovirung der Staatsverhältnisse verdient und wurde, in Anbetracht dieser und aller vorhergegangenen Verdienste, zum Dirigenten einer Regierungsabtheilung erhoben und mit dem Titel eines Geheimrathes belohnt. Sein erstes Geschäft war es, die Verabschiedung des Calculators Rüdiger ins rechte Licht zu bringen und seine Zurückberufung in das frühere Amt zu beantragen. Man ging willig darauf ein und ließ sich, durch die obwaltenden Umstände veranlaßt, eben so bereit finden, dem ehrlichen gekränkten Beamten den Titel eines Hofrathes zu verleihen.
Mit dieser Ernennung in der Tasche ging nun der Geheimrath Giseke eines Tages hinaus auf die Bleiche, um endlich dem stillen Verlangen seines Herzens nachzugeben, das ihn trieb, sein Glück zu vervollständigen, indem er sich einen häuslichen Heerd gründete.
Giseke fand den alten Herrn in unveränderter Seelenruhe, Marie aber mit dem demüthigen Lächeln geduldiger Liebe und stiller Treue. Ihr Herz hatte die lange Trennung als eine Prüfung ihrer Gefühle betrachtet und sie muthig ertragen. Sie empfing den Mann, den sie so zärtlich verehrte, mit rührender Freundlichkeit. Giseke zögerte keinen Augenblick, den königlichen Erlaß zu verkündigen und die Ernennung vorzulesen.
Sprachlos vor Freude hörte Marie, wie man ihren Vater mit Ehren in sein Amt zurückberief, wie man mit Anerkennung seine feste Redlichkeit belohnte. Sie wußte, wem sie das zu danken hatte und ihr zärtlicher Blick suchte den Geheimrath. Auch Rüdiger neigte zitternd vor Rührung sein Haupt und sprach seinen Dank mehr mit Blicken, als mit Worten aus.
»Und nun, mein Freund,« begann Giseke mit einem Ausdrucke, dem man die Herzenswallung anhörte, »nun erfüllen Sie mir die Wünsche meines Herzens! Geben Sie mir Ihr theuerstes Kleinod, den Stolz und die Freude Ihres Daseins, geben Sie mir Ihre Tochter Marie zur Gattin. Sie sollen mit ihr in einem Hause wohnen, sollen ihrer Pflege immer theilhaft bleiben. Ich habe mir ein Haus gekauft, in welchem Sie mit uns Ihren Platz finden sollen. Schlagen Sie ein, theurer Freund, schlagen Sie ein! Sagen Sie: Ja und Amen!«
Rüdiger sah ihn unverwandt an. Der Antrag kam ihm beinahe zu unerwartet. Er wendete sich nach einigen Secunden zu seiner Tochter und sah sie ebenfalls scharf an. Eine freudige Ueberraschung zitterte dann durch seine festen, harten Gesichtszüge.
»Ja mein Herr Geheimrath!« sprach er etwas unsicherer als sonst. »Sie sollen meine Marie haben, insofern Sie sich verpflichten wollen zu gestatten, daß sie mir eine demüthige und gehorsame Tochter bleiben darf!«
»Mit Vergnügen gestatte ich das, wenn Sie mir dagegen erlauben, daß ich alle Segnungen der zärtlichsten Liebe über Marie ergießen darf, um sie zum fröhlichsten, glücklichsten Weibe zu machen!« rief Giseke strahlend vor Entzücken.
»Thun Sie das! Sie verdient es!« entschied der neue Hofrath trocken, wie sonst.
Giseke aber zog das Mädchen, welches mit der Purpurröthe der Seligkeit und Herzenswonne da stand, an seine Brust und rief:
»Komm hinaus mit mir in Gottes freie Luft, komm hinaus in den frischen, hellen Sonnenschein, da will ich Dir sagen, wie lange ich Dich schon lieb gehabt habe und Du sollst mir gestehen, ob Du wirklich den häßlichen, von Pockennarben entstellten Mann nicht verabscheuest. Komm, o komm hinaus in's Freie! Sie erlauben es doch, Papa Rüdiger?« fragte er scherzhaft.
Und Rüdiger nickte ernst und majestätisch mit dem Kopfe, indem er sich im Sorgenstuhle niederließ. Eine Weile saß er still in tiefes Nachdenken versenkt. Dann erhob er sich und trat ans Fenster. Ob nicht ein heimlicher Stolz ihn leitete, nach dem stattlichen Schwiegersohn zu schauen, der, seine einfach gekleidete Tochter am Arm, dort draußen lustwandelte? Sein Gesicht zeigte sich wenigstens hell und freudig, während er darauf hin blickte.
Dann überschattete eine Wolke seine Stirn. Er griff behutsam nach seinem Nacken, zog seinen schweren, langen Haarzopf über die Schulter und betrachtete ihn mit schwermüthigem Ausdrucke. Ein Entschluß war in ihm aufgetaucht, aber zur Reife war er noch nicht gekommen. Der tiefe Seufzer, womit er den Zopf an seinen Platz zurückforderte, bewies seine Unentschlossenheit.
Am nächsten Morgen bereitete der neue Hofrath sich zu den nothwendigen Visiten vor. Er holte seinen Paradefrack aus dem Schranke, putzte die blanken Knöpfe und wählte ein Chemisett mit handbreitem Jabot und eine schneeweiße Piquéweste aus seinem Wäschevorrath. Darauf stand er mitten im Zimmer still und überlegte nochmals, ob es denn nicht möglich sei, dem Urtheile der Menschen zu trotzen, das ihn mit seinem »Zopfe« lächerlich nannte.
»Nein, es geht nicht länger!« sprach er halblaut und schritt mit stillem Heldenmuthe rasch bis zum kleinen Spiegel vor, der über der Commode paradirte.
»Marie, gieb mir einmal eine Scheere her!« fügte er laut und vernehmlich hinzu.
Das Mädchen beeilte sich, dem Befehle nachzukommen, fragte aber, als sie ihren Vater einen verdächtigen Griff nach dem Kopfe thun sah, sehr hastig:
»Herr Vater? Was wollen Sie machen?«
»Meinen Zopf absäbeln, mein Kind,« erwiederte der alte Herr ruhig, faßte nach demselben und hielt ihn in der nächsten Secunde, wehmüthig darauf niederblickend, in der Hand.
»Da hast Du ihn, meine Tochter; heb' ihn auf! Dieser Zopf ist der Schlüssel zu Deinem Glücke.«
»O, Herr Vater, lieber, bester Vater,« stammelte Marie, wunderbar ergriffen von dem plötzlichen Entschlusse, sich seiner Kopfzierde zu berauben. »Warum haben Sie das gethan?«
»Um nicht als eine historische Merkwürdigkeit angesehen zu werden! Als der Greffier Blanchard, Gott hab' ihn selig, mich einen Narren des vorigen Jahrhunderts nannte, und mit perfiden Ränken gegen mich auftrat, da verlangte es meine Ehre, daß ich mich des Haarschmuckes nicht entäußerte, dem frechen Franzosen gleichsam zu Liebe; allein da ich jetzt wieder in die Weltverhältnisse und in mein Berufsleben zurückzutreten gesonnen bin, so muß ich mich vernünftigermaßen den jetzigen Moden anpassen. Es hat mir eine schwere Ueberwindung gekostet. Es ist mir gerade zu Muthe, als wäre ich in eine neue Atmosphäre getreten, als würden sich nun durch diesen Gewaltstreich gegen mein eigen Haupt auch neue Ideen in mir entwickeln. Mag es d'rum sein, Marie; es ist und bleibt jetzt mein freier Entschluß, während es früher unter dem despotischen Drucke eines Schurken geschehen sollte. Nun ist der Schritt gethan, der mir nöthig schien. Hebe den Zopf auf, mein Kind, denn er hängt mit Deinem Schicksal zusammen.«
Was nun noch über die Schicksalsentwicklungen dieser Menschen zu sagen ist, das läßt sich in wenigen Worten zusammenfassen.
Der Geheimrath Giseke, der späterhin zum Präsidenten avancirte, ist einer der glücklichsten Sterblichen geworden. Seine Ehe war reich mit Kindern gesegnet und, der Erfahrung gemäß, zeigte sich der alte Rüdiger als ein eben so nachsichtiger und gütiger Großpapa, wie er ein strenger Vater gewesen war.
Markland war Bürgermeister der Stadt geworden. Er und seine fröhliche, leichtherzige Dora bekundeten, daß Erfahrung klug machen kann. Sie lebten keineswegs einsiedlerisch und sparsam, aber sie jubelten nicht mehr in den Tag hinein, sondern legten ihrer Neigung zum Luxus Zaum und Zügel an, wenn es nothwendig wurde.
Von Leclaire hat man nie wieder gehört. Ob er auf dem Bette der Ehre gestorben, oder als vernünftigerer Mann in sein Vaterland zurückgekommen ist, das weiß man nicht. Der General du Marlé hingegen ruht in deutscher Erde. Er war eines der ersten Opfer, das dem Muthe Derer verfiel, die das Joch seines Kaisers abzuschütteln versuchten.