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Einige Tage später saß der Präfect Markland am frühen Morgen verdrossen in seinem Zimmer und warf Blicke des größten Mißmuthes auf die angehäuften Papiere, die endlich durchgesehen und abgearbeitet werden mußten. Er pflegte in der Regel um mehrere Stunden später aufzustehen, allein die Noth zwang ihn, die Morgenstunden zu Hülfe zu nehmen.
Es war Herbst und der Morgen sehr kühl. Die Dienerschaft schlief noch. Das Zimmer kam ihm ungewöhnlich kalt und unfreundlich vor. Dazu der unüberwindliche Abscheu vor der Arbeit – der Präfect Markland war wirklich in diesem Augenblicke der unglücklichste Mensch auf Gottes Erdboden. Murrend stützte er sein schönes, männliches Gesicht, das so viel Zuversicht zu sich selbst verhieß, in die Hände.
»Die Geschichte bricht eines Tages unter mir zusammen!« sprach er kaum hörbar, »und mein Schwager Giseke wird nicht der Letzte sein, der dann triumphirend ein Hohngelächter aufschlägt. Ihm war die Präfectur zugedacht und er paßte, aufrichtig gestanden, besser zu einem solchen Packesel, wie ein Präfect ist. Himmelelement, über solche verwünschte Plackerei – die Schreiben nur zu lesen, die da eingegangen sind. Die Menschen müssen lieber schreiben, als ich, sonst ließen sie mich wohl ungeschoren mit diesen unsinnigen Eingaben und Bittgesuchen. Es hilft ihnen doch nichts. Was einmal ist, das bleibt, und was geschehen soll, geschieht. – Mein Schwager soll verreist sein. Hm –! Es überlief mich eine kleine Gänsehaut, als ich von dieser Reise hörte. Wenn unterdeß eine Revision stattfände! Himmelelement! Ich muß wahrhaftig arbeiten, daß dies Papiermagazin hier wegkömmt!«
Nach diesem Selbstgespräche ermannte er sich und begann mit stumpfer Resignation seine Arbeit, die in nichts bestand, als zu lesen. Bei jedem Briefe machte er eine lange Pause, warf die Arme in die Höhe, gähnte, rieb sich die Beine, stand auf, setzte sich wieder hin, und das Alles blos, um der fürchterlichen Anstrengung zu entgehen, sein Präsentatum darauf zu setzen. Der Herr Präfect gehörte also zu den Leuten, die nur die Amüsements des Lebens für keine schwere und drückende Arbeit halten.
Endlich wurde es lebendig im Hause. Eine Kammerzofe servirte den Kaffee und die fröhliche Stimme der gnädigen Frau wurde hörbar.
»Gott sei Dank!« sprach der Präfect zu seiner Gattin, die lachend seinen Fleiß bewunderte. »Ich habe gearbeitet, wie ein Pferd, Liebchen! Gott sei Dank, daß Du kommst.«
»Was hast Du denn seit sieben Uhr gethan?« fragte sie, schelmisch den hohen Haufen der Schreiben musternd, die links bei ihm lagen. »Hast Du das Alles schon abgemacht?«
»Nein, das hier –« sagte er verlegen lachend, indem er rechts deutete. Da lagen freilich nur sechs Briefe von den Hunderten.
Dora lachte hell auf.
»Von sieben bis neun Uhr sechs Briefe gelesen und sechsmal Datum und Namen geschrieben? Es ist horrible! Ich möchte, Du hättest meinen Bruder arbeiten sehen, Philibert! Das war eine Lust zu beobachten, wie flink er Acten durchblätterte und doch Alles wußte, was darin stand. Nun komm aber und stärke Dich erst. Nachher hast Du Zeit, weiter zu arbeiten!«
Der Präfect folgte sehr gern dieser Aufforderung. Er war auch viel zu wenig ehrgeizig und empfindlich, um den Vergleich mit seinem Schwager übel zu nehmen. Nach seiner unmaßgeblichen Meinung war er dazu da in der Welt, um zu leben und nicht um zu arbeiten. Er gab Dora ganz Recht, als sie meinte, daß er nachher Zeit habe. Zeit übergenug, nur aber keine Lust zum Arbeiten.
Es wurde zehn Uhr und er saß noch am Frühstückstisch, tändelte mit seiner hübschen Frau, fütterte ihr Möpschen, neckte ihren Kanarienvogel, schnitt Silhouetten aus, machte Spitzen an alle Bleistifte, die er auftreiben konnte, pfiff, sang, stellte sich endlich vor den Trumeau, um das Ebenmaß seiner Gestalt zu bewundern, und betrachtete schließlich den Himmel mit seinen Wolken. – Es war gerade ein Präfect, wie er nicht zweckmäßiger hätte gefunden werden können.
Um zwölf Uhr wurde der Greffier Blanchard gemeldet, und der Herr Präfect schlürfte langsam und träge hinüber in sein Zimmer, wo der Berg der eingegangenen Schreiben so eben von Blanchard noch um etwas erhöhet wurde.
»Himmlischer Gott, Blanchard!« schrie er entsetzt. »Sie bringen schon wieder Briefe? Ich habe gearbeitet, wie ein Pferd heute früh, um sieben Uhr saß ich schon wie angeleimt hier am Tische. Da, die können Sie mitnehmen!«
Er warf ihm die abgemachten Sachen hastig, als brennten sie ihm die Finger, zu.
»Das ist Alles?« fragte Blanchard mit sehr zweideutigem Tone. »Nun es ist doch etwas. Das Andere kommt nach, Monseigneur.«
»Ja wohl!« meinte der Präfect zerstreut und blickte unschlüssig vor sich hin.
»Haben Monseigneur noch Befehle?«
»Nicht gerade das, aber –. Was giebt's Neues im Geschäfte?«
»Gar nichts! Der Calculator hat noch immer nicht abgeschnitten seinen abominablen Zopf. Ich faß' ihn aber doch noch!«
Markland lächelte noch zerstreuter. »Blanchard, ich brauche Geld!« sagte er dann.
Blanchard wachte ein sehr vergnügtes Gesicht, legte die Schreiben wieder nieder und stützte sich mit den Fäusten auf den Rand des Schreibtisches. Er sprach aber kein Wort.
»Können Sie mir nicht Geld schaffen?« fuhr Markland, dreister werdend, fort.
»Monseigneur haben es in der Hand!« war seine leise Antwort.
Der Präfect hob schläfrig seinen Blick empor. Er verstand dies nicht ganz.
»Ich brauche praeter propter hundert Louisd'or,« fügte er gelassen hinzu.
»So wenig nur!« lachte Blanchard unterdrückt. »Dazu braucht ein Präfect nur einen Federstrich!«
Markland fixirte mit demselben schläfrigen Ausdrucke das Gesicht des Straßburgers. Ob er ihn wirklich nicht verstand? Denkbar war es, da der Präfect selbst zum Betrügen zu faul war.
»Wenn Monseigneur mir nur plein pouvoir geben,« beantwortete Blanchard diese stumme Frage, »so bürge ich für den günstigen Erfolg.«
In diesem Augenblicke flatterte Dora mit der Nachricht ins Zimmer, daß ein glänzender Ball beim General du Marlé anberaumt und sie nebst ihrem Gemahl dazu eingeladen sei. Die Störung unterbrach die Unterhandlungen. Blanchard entfernte sich mit einer Verbeugung, die viel zu affectirt demüthig war, um eine wahre Achtung auszudrücken.
»Ich werde in einer Stunde die Ehre haben wieder aufzuwarten,« sagte er und verschwand.
Frau Markland, noch eben so tief beschäftigt mit der Aussicht auf ein brillantes Fest, sah ihm unbehaglich nach. »Woher kommt es, mein Lieber, daß ich diesen Blanchard nicht ausstehen kann, daß ich ihn hasse, wie man die Sünde zu hassen pflegt!« rief sie bewegt aus.
Der Präfect legte seinen Arm um ihre Taille, ließ seine Stirn einige Secunden auf der Stelle ruhen, wo ihr Herz frisch und fröhlich pochte, küßte dann diese Stelle, dir sein Bild beherbergte und antwortete:
»Ja, mein Liebchen, wenn uns Alles in der Welt erklärlich wäre, so würden wir manche Forschungen ersparen können!«
»Sehr weise, Du thörichtes Menschenkind!« sprach die junge Frau schäkernd und vergaß in der Zärtlichkeit für den Gatten die Warnung, die sie ihm in Bezug auf Blanchard hatte zukommen lassen wollen.
Eine Stunde später trat Blanchard wieder ein zum Präfecten. Behutsam ließ er eine Rolle Goldstücke auf den Schreibtisch desselben gleiten, woran er noch immer saß, ohne eine Feder angerührt zu haben.
»Ei, das ist charmant von Ihnen!« rief Markland, angenehm überrascht von diesem Diensteifer! »Woher haben Sie das Geld?«
»Es ist mein erspartes Reisegeld,« flüsterte Blanchard devot. »Ich denke sehr bald in meine Heimath zurückzukehren, Monseigneur! Es ist mir hier zu unbehaglich. Im October eine Kälte zum Erfrieren. Wenn ich auf der Straße bin, muß ich den Mantel über die Nase ziehen; komm' ich zu Haus, zittere ich vor Frost; das ist ein Hundeleben, Herr Präfect! Deutschland ist eine Hölle, Deutschland ist noch mein Tod, wenn ich nicht bald gehe, um mich in der lieben Heimath zu erholen.«
»Wir hätten gar nichts dagegen, wenn alle Franzosen so dächten, wie Sie!« warf Markland rücksichtslos lachend ein. Ein haßerfüllter Blick Blanchard's streifte ihn dafür, während er nochmals sehr artig wiederholte:
»Es ist also mein Reisegeld, gnädiger Herr. Wenn ich dessen benöthigt bin, sage ich es Ihnen.«
»Gut. Ich werde Ihnen das kleine Capital landesüblich verzinsen!«
»Herr Präfect!« rief Blanchard. »Das ist eine Beleidigung für einen treuen Diener.«
»Nun, nun! Seien Sie nicht böse! Was haben Sie denn da wieder? Briefe, Unterschriften. Himmlischer Gott! Ist das ein schwerer Tag heute. Ich habe schon gearbeitet wie ein Pferd!«
»Nur einige Male Ihren Namen, wenn ich bitten dürfte,« schmeichelte Blanchard. »Sehen Sie hier, das ist eine Eingabe der Canzlisten, lauter vortreffliche Männer, Monseigneur.«
»Ja, lauter Deutsche, so viel ich weiß!«
Wieder glitt der haßerfüllte Blick über den rücksichtslosen Präfecten hin.
»Wohl, wohl! Deutsche, die aber den Esprit eines echten Franzosen entwickeln,« meinte er lachend und schob das Blatt vor Markland hin. »Die Männer begreifen, daß man in alten, ausgefahrenen Gleisen umwerfen kann, sie cultiviren sich, sie wollen treulich ihre Pflichten erfüllen und dazu ist nöthig, daß sie unterstützt werden von oben herab.«
»Nun, was wollen sie denn? Weshalb petitioniren sie?« fragte der Präfect ungeduldig.
»Der Calculator Rüdiger hat sie Alle sammt und sonders verleumdet.«
»Was? Der ehrliche Rüdiger?«
»Sie dringen auf eine Untersuchung gegen ihn.«
»Aber, Blanchard! Der alte, ruhige Rüdiger, der nicht zwei überflüssige Worte spricht?«
»Ja, ja. Stille Wasser sind tief! Der Mann ist ein gefährlicher Verleumder, Monseigneur. Er controlirt uns Alle! Er nimmt sich Rechte heraus, die nur ein Präsident hat. Er tadelt Vernachlässigungen in den Verfügungen und wartet mit Sehnsucht auf eine baldige Revision, um Aufklärungen zu geben. Der Calculator ist ein sehr, sehr gefährlicher Subaltern. Seine Collegen sind empört über sein Benehmen. Denn, denken Sie nur, dieser Starrkopf verhöhnt sie sämmtlich, indem er sich stets stellt, als verstehe er sie nicht, wenn sie ihn französisch anreden.«
»Aber, bester Blanchard, das kann ja sein, daß er sie nicht versteht!« warf der Präfect beschwichtigend ein.
»So muß er sie verstehen lernen, Monseigneur!« entgegnete der Greffier mit Nachdruck. »Nach meiner Instruction habe ich darauf zu sehen, daß sich die Bildung in der Canzlei bis zum fertigen Französischsprechen hebt. Genug, Herr Präfect, die Sache ist bis zum Crawall gediehen und neulich sind sie dem Calculator mit Messer und Scheere zu Leibe gegangen.«
»Sie scherzen wohl nur!« rief Markland. »Ist darüber eine Anzeige an mich gebracht? Er warf einen sehr betrübten Blick auf seinen Schreibtisch. »Ich sollte wenigstens denken, daß Rüdiger sich dergleichen nicht gefallen lassen würde.«
»Da sehen Sie eben, daß er ein gebrochenes Schwert in der Scheide führt!« antwortete sehr beeilt der Greffier. »Ich beantrage für's Erste seine Suspension, Herr Präfect, damit wir bei der Revision, die allerdings nahe bevorsteht, keinen Verleumder unter uns haben. Später wird die Untersuchung herausstellen, was fernerhin aus ihm werden soll. Seine Suspension ist auf alle Fälle nöthig, wenn man die Anklagen seiner Collegen berücksichtigen will und seine Suspension jetzt ist in Hinsicht auf die bedeutenden Rückstände,« – seine Hand bewegte sich vielsagend über den Schreibtisch hinweg, – »nur wünschenswerth für uns.«
Markland rückte, unsicher in seinen Entschlüssen, hin und her auf seinem Sessel. »Die leidigen Rückstände, die verdammte Revision!«
»Das ist auch noch deutscher Zopf« sprach Blanchard. »Mit der Zeit ändert sich das.«
»Wenn nur gleich, Blanchard!« seufzte der Präfect. »Was thue ich nur?«
»Sie schlagen den einfachsten und sichersten Weg ein, der klar vor Ihnen liegt! Die Excesse in der Kämmerei werden sich wiederholen und der Groll Rüdiger's wird um so gefährlicher.«
»Blanchard, es liegt eine gewisse Spitzfindigkeit in Ihrem Vorschlage, vor welcher die Stimme meines Gewissens mich warnt.«
»So lassen Sie sich von dem unverschämten Auftreten dieses Subalternen Trotz bieten! Ich kann nichts dagegen haben und mir schadet es auch nichts! Gehört denn so viel Beherztheit dazu, einen obstinaten Calculator für kurze Zeit zu suspendiren, wenn es jeden Augenblick freisteht, mit einem Federstriche diese Suspension wieder aufzuheben? Wer könnte Ihnen wohl einen Vorwurf daraus machen?«
»Das ist richtig, Blanchard!« antwortete der Präfect, sein Unbehagen kräftig abschüttelnd. »Ich will die Sache rechtlich und gründlich untersuchen und Jedem soll sein volles Recht werden. Warum sollten Sie mich zu einem Schritte treiben, der gar keine Vortheile für Sie abwirft. Es sei, geben Sie her. Ich will die Suspension des Calculators unterzeichnen. Ist es eine Gewaltthätigkeit, so wird sie von der Nothwendigkeit bedingt und Gewaltthätigkeiten im Amte sind nur dann gefährlich, wenn sich Vortheile für uns damit verbinden. So.«
Er warf einen forschenden Blick auf Blanchard und als dessen Angesicht die vollkommenste Gleichgültigkeit zeigte, als nicht ein Zug von Schadenfreude oder Bosheit das glatte Mienenspiel desselben entstellte, da übergab er voller Vertrauen das Papier, welches er ungelesen unterschrieben und dadurch rechtskräftig gemacht hatte, dem Greffier.
»Da haben Sie's. Was die Eingabe der Canzlisten betrifft, so legen Sie dieselbe zu meiner Einsicht nur hierher. Ich könnte sie als Beleg zu einer Vertheidigung meines Verfahrens nöthig haben. Wem werden Sie die Geschäfte des Calculators so lange übertragen?« fragte er mit plötzlich wachendem Verdachte. Er fürchtete die Antwort zu hören, daß Blanchard selbst als Vertreter eintreten wolle und dem hätte er sich unbedingt widersetzen müssen.
»Dem Gehülfen Rüdiger's,« lautete die gelassene Antwort des Greffiers, der diese Frage ganz richtig deutete. »Es ist ein intelligenter, junger Mann, spricht vortrefflich Französisch und arbeitet in einer Stunde so viel, wie Rüdiger in vier.«
»Dafür wäre also gesorgt, daß uns Vernachlässigungen des Amtes nicht zur Last fielen?«
»Durchaus nicht. Ich glaube, wir könnten ihn weniger entbehren, als den umständlichen, schwerfälligen Calculator Rüdiger –«
»Der sich aber seit zwanzig Jahren nicht ein einzig Mal verrechnet haben soll,« schloß Markland den angefangenen Satz. »Ich werde Erkundigungen über diesen Gehülfen einziehen!«
»Thun Sie das,« versetzte Blanchard, durch diese Worte beleidigt, sehr kurz.
Er verbeugte sich und ging. Hätte der Präfect das teuflische Lachen sehen können, das unmittelbar nach dem Zufallen der Thür Blanchard's Gesicht überleuchtete, so würde er noch jetzt seine Unterschrift zurückgenommen haben, womit er einen braven Bureaubeamten fürchterlich kränkte.
Nachdenklich war der Präfect nach der Entfernung Blanchard's. Er stützte sein Haupt schwermüthig in die Hände, eine Lieblingsattitude von ihm, wenn er vor dem Schreibtische saß, und versenkte sich in unerfreuliche Grübeleien.
Er konnte es sich nicht verhehlen, daß der Eifer Blanchard's für die abgethane Sache, die befremdliche Dringlichkeit, womit er die Suspension eines bewährten Unterbeamten, der mit den Berechnungen zu thun hatte, sich verdächtig erwies; allein war ihm ein Ausweg geblieben, die Dienstwilligkeit des Greffiers für seine Privatinteressen anders und entsprechender zu lohnen, als daß er sich dem Willen desselben unterwarf? Für den Augenblick nur tröstete ihn sein Selbstbewußtsein, denn ihm blieb es ja unbenommen, sofort am Nachmittage selbst in die Calculatur zu gehen, um die streitigen Punkte der Sache zu prüfen und nach dem Ermessen eine Verfügung wieder aufzuheben, die folgenschwer werden konnte. Es überschritt die Grenze seiner Macht keineswegs, einen seiner Unterbeamten vorläufig von allen Amtsfunctionen zu entbinden, wenn ausreichende Beweggründe für dies Verfahren vorlagen. Waren aber die Gründe, die ihn jetzt zu solchem Schritte verleitet hatten, nicht gar zu nichtig und unhaltbar?
Er verfiel auf Folgerungen, die nicht ohne Wahrscheinlichkeit waren. Er sah sogar ein, wie tadelnswerth er handelte, einen bewährten Mann aus seiner Stellung zu entfernen, während er dabei den Rathschlägen eines Menschen folgte, dem er zu mißtrauen gegründete Ursache hatte. Ganz willenlos tauchte der Gedanke in ihm auf, daß er mit dieser Handlung an einen Scheideweg trete, der ihn bergab, vom Pfade der Pflicht verlocke, um ihn bis zur Schlechtigkeit zu führen. Hatte sich die Stimme seines Gewissens vorher schon warnend geregt, so trat sie jetzt strafend gegen ihn auf, aber sein Blick fiel auf die blitzenden Goldstücke, die vor ihm lagen, und die Kraft der Hölle drang aus dem goldenen Schimmer hervor, um den kleinen Vorrath von Hochherzigkeit in ihm zu ersticken. Er hob seine Arme, gähnte, reckte sich im Vollgefühle seiner Würdigkeit und murmelte:
»Warum sollte ich mich wohl sorgen und plagen in der Jugend. Warum einem Menschen Böses zutrauen, warum über Dienstfertigkeiten nachsinnen, die zwar schlaue, aber vielleicht gar keine böse Absichten verbergen! Was kann mir Blanchard schaden? Gar nichts! Wenn ich seine Zwecke durchschaue, so kostet es mich einen Federstrich, um ihn gleich wieder in seine Schranken zurückzuführen. Was dies Darlehn betrifft, so könnte mich dasselbe in den Augen meiner vorgesetzten Behörde allerdings compromittiren, allein, wer wird sich für den Abend sorgen, wenn die Morgensonne noch scheint! Gewinne ich heute, so zahle ich Monsieur Blanchard morgen sein Geld wieder zurück. Hätte mich nicht das entsetzliche Lächeln Leclaire's beunruhigt, so würde ich nicht zu diesem fatalen Mittel geschritten sein. Dora darf es nicht erfahren! Fort, fort damit, in einer Stunde muß die Hälfte davon in des Colonels Tasche sein.«
Mit diesen Worten warf der Präfect das Geld, welches seine Spielschulden decken sollte, in einen seidenen Beutel, den er zu sich steckte, und schob das übrigbleibende in einen Kasten seines Schreibtisches, den er verschloß.
Was innerhalb der eben mitgetheilten Selbstprüfungen und Selbstgespräche des Präfecten sein böser Geist, der Greffier, gedacht und gethan hatte, das ließ bei weitem tiefer liegende Pläne zu seinem Verderben fürchten, als die Sorglosigkeit Markland's ahnen konnte. Unverzüglich begab sich Blanchard in die Calculatur, wo Rüdiger mit den monatlichen Abschlußrechnungen beschäftigt war, warf ihm die Verfügung ganz gesetzwidrig unverschlossen und unversiegelt auf den Tisch und sagte hochfahrend und boshaft zugleich: »Sie haben sich darnach zu achten und zu richten! Auf der Stelle verlassen Sie das Bureau und lassen sich nicht wieder sehen!«
Der Calculator Rüdiger gehörte nicht zu den Männern, die sich leicht erschrecken, aber beim Anblicke der ganz rechtsgültig verfaßten Entlassungsurkunde überrieselte doch eine Erschütterung seine Seele, die ihm für einige Minuten alle Fassung und Haltung raubte. Das war mehr, als er je gefürchtet hatte! Eine schimpflichere Entlassung aus dem Staatsdienste konnte gar nicht erdacht werden, und wenn auch zur Bemäntelung der wahren Absicht für jetzt der Ausdruck »Suspension« adoptirt war, so leuchtete doch das Ende des Werkes deutlich genug hervor.
Der Entschluß des Calculators Rüdiger war, trotz seiner Bestürzung, schnell reif geworden. Mit der Unerschütterlichkeit seiner Mienen sah er dem Greffier schon eisenfest in's Gesicht, als seine Seele noch gegen den Schmerz dieser unerwarteten Kränkung rang, und sprach ruhig:
»Die französische Manier, treue und zuverlässige Beamte zu entlassen, weicht so wesentlich von derjenigen ab, die man hier zu Lande gewohnt ist, daß ich mich unfähig fühle, auf ein bloses Risico meine Stellung als suspendirt zu verlassen. Ich werde um meinen definitiven Abschied einkommen, Herr Greffier, also diese Suspension unnöthig machen. Gewalt geht jetzt vor Recht; ich weiche der Gewalt! Aber ich ersuche Sie, den Revisor der königlichen Cassenverwaltung von meinem Vorhaben in Kenntniß zu setzen.«
»Das ist unnöthig!« warf Blanchard höhnisch und ungeduldig ein.
»Das ist wohl nöthig!« replicirte der Calculator mit steinerner Festigkeit. »Ich muß meine Ehre wahren, damit mir später eingeschobene Falsa nicht zur Last gelegt werden können.«
»Der Rath Giseke ist verreist!« fiel Blanchard abermals ein.
»Das weiß ich. Wäre er nicht verreist, so hätte man nicht gewagt, mich zu suspendiren. Sein Stellvertreter wird mir aber vollkommen genügen. Rufen Sie ihn her!«
»Thorheit!« rief Blanchard, mit dem Fuße auf die Erde stampfend. »Ich werde Ihre Bücher in dem Zustande, wie Sie dieselben verlassen haben, dort einsiegeln.«
Der Calculator stemmte seine Arme auf den Schreibtisch und schaute dem Straßburger mit ernster Würde starr in's wilde Gesicht.
»Sie halten mich wohl für so dumm, wie ich ehrlich bin, Herr Greffier,« sagte er ohne alle Aufregung. »Nicht doch! da irren Sie sich! Ich lasse mich eher einmauern mit meinen Büchern, als daß ich meinen guten Namen Preis gebe.«
»Herr, machen Sie mich nicht wüthend,« schrie Blanchard, dem bange um das Gelingen seines Vorhabens wurde. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort–.«
»Ein Franzose hat kein Ehrenwort dem Deutschen gegenüber,« unterbrach ihn Rüdiger
»Herr, ich lasse Sie 'rausschmeißen, wenn Sie nicht schweigen und gehorchen!« schrie Blanchard, mit Impertinenz auf ihn zufahrend.
»Dann nehme ich mein Lastenabschlußregister mit!«
Er packte wirklich seine Papiere zusammen, wurde aber durch das Eintreten mehrer Bureaubeamten darin gestört. Diese hatten den Lärm von außen vernommen und wollten sehen, was es gäbe.
Ihr Eintritt veränderte die Scene mit einem Schlage. Blanchard biß sich in die Lippen, daß sie bluteten, und Rüdiger stand, mit seinen Papieren im Arme, wie ein Heros da.
»Es ist zu toll,« sprach Blanchard mit erzwungenem Lachen. »In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht mit solchem Starrkopf zu thun gehabt. Dieser Calculator will um seinen Abschied ankommen, will aber lächerlicher Weise seine Bücher nicht ausliefern! Haben Sie je solchen Unsinn erlebt, meine Herren?« fügte er hinzu, als er in der Veränderung aller Gesichter sah, daß das Wort »Abschied einkommen« einen sehr unangenehmen Eindruck machte. Wäre jetzt der Herr Präfect zur Stelle gewesen, so würde er sich mit einem Blicke überzeugt haben, daß von der Eingabe, die in der Canzlei entstanden sein sollte, kein einziger Canzlist ein Wort wußte.
Nach vielem Hin- und Herreden brachte es Blanchard endlich doch dahin, daß sich Rüdiger entschloß, dem Registrator, der noch der Einzige war, welcher sein tiefes Mißtrauen gegen den Greffier zu entwaffnen verstand, das anzuvertrauen, was seine Pflichttreue unantastbar machen wollte.
»Der Herr College mag vorsichtig sein,« sprach er, indem er ihm die Papiere übergab und seine Schlüssel an ihn ablieferte. »In diesen Listen liegt die Möglichkeit, die Staatskasse um große Summen zu betrügen. Der Herr College hat es nun zu verantworten und die Folgen werden auf sein Haupt fallen! Geben Sie sie nicht aus den Händen, bis der Rath Giseke wieder da ist!«
Er verbeugte sich und ging, ohne sich umzusehen, zur Thür hinaus.
»Soll geschehen!« rief Blanchard laut lachend. »Thut nicht der Mann, als wäre er der einzige Ehrliche unter uns? Gottlob, daß wir diesen Tuckmäuser los sind!«
Der Calculator Rüdiger ober schritt zum letzten Male mit derselben äußerlichen Würde aus dem Gerichte nach Hause, wie er es seit zwanzig Jahren gewohnt gewesen war. Sein Entschluß gereuete ihn nicht. Er ging dadurch einer Reihe ärgerlicher Scenen aus dem Wege, die zuletzt doch dasselbe Ziel gehabt haben würden, welches er jetzt ganz unerwartet erreicht hatte. Noch ehe er sein Zimmer betrat, wußte er schon, wie er seine Zukunft feststellen und sich selbst aus der Nähe des Schauplatzes bringen konnte, der traurige Erinnerungen weckte.
Er besaß in einem sehr nahe bei der Stadt belegenen Dorfe ein Häuschen, mit Acker und Wiesen, die sich dicht am Strome entlang zogen. Bis jetzt hatte er dies Häuschen für einige Thaler vermiethet und die Aecker verpachtet. Dorthin beschloß er mit seiner Tochter zu ziehen, um fern von Allem, was ihm lieb geworden war, die Unannehmlichkeiten des Lebens zu vergessen.
Ganz unbekümmert darüber, was seine Tochter bei der märchenhaft schnellen Veränderung ihrer Lebensverhältnisse empfinden möchte, sprach er im gewöhnlichen, ruhigen Tone, indem er ihrer Hand den Hut und Stock überantwortete:
»Packe nur nachher gleich unsere Wäsche, Kleider, etwas Hausgeräth und Geschirr ein, wir wollen, wo möglich, schon morgen nach Berau auf die Bleiche ziehen.«
Marie öffnete ihre Augen sehr weit. Sie faßte den Sinn dieses Befehles nicht, wohl aber den Inhalt der Worte, und die rollten, wie ein Donnerschlag aus heiterm Himmel, an ihrem Ohr vorüber. Ihr Gesicht verlor jede Farbe und ihre Hände hatten nicht die Kraft, den Hut und Stock festzuhalten. Beides glitt zur Erde nieder.
Der Calculator achtete dessen nicht. Was verlor denn seine Tochter gegen ihn, der seine ganze Existenz zerrüttet sah?
»Du wunderst Dich, Kind? Mich trifft der Schlag nicht ganz unerwartet. Bei dieser Franzosenwirthschaft ist kein Mensch einen Tag seines Lebens, seiner Ehre und seines Amtes sicher. Ich habe meinen Abschied gefordert, weil man mich einstweilen meines Amtes entsetzen wollte. Meine Ehre gestattete dergleichen Willkürlichkeiten nicht.« – Marie athmete sehr schnell. Ihre Thränen drohten mit jedem Athemzuge hervorzubrechen. Der Calculator fuhr ruhig fort: »Wir werden uns einschränken müssen, Marie, aber wir werden nicht hungern!«
»Aber, der Herr Vater,« schluchzte das arme Mädchen, »der Herr Vater werden Langeweile haben?«
»Glaub' das nicht;« tröstete der Calculator, dem bei dieser einfachen Einwendung sehr schwül um's Herz wurde. »Ich muß arbeiten in Feld und Garten, damit wir leben können!«
»Mit den feinen, weißen Fingern, die nur immer eine Feder gehalten haben?« fragte Marie mit bescheidenem Zweifel.
Rüdiger besah in augenblicklicher Verzweiflung seine weichen, schmalen Hände, die allerdings eher einem Aristokraten als einem Bauer Ehre gemacht hätten.
»Es muß gehen und es wird gehen! Punktum!« war seine Antwort.
Nach dieser Erklärung blieb Marien nichts weiter übrig, als ihre heißen Thränen in aller Stille zu weinen. Ihr Vater hielt sie für überzeugt und beruhigt. Er hatte nicht die leiseste Idee, daß er prachtvolle Gebäude von Hoffnungen, die Luftschlösser einer erwachenden Neigung eingestürzt habe, indem er sich mit Marie in die Oede einer dörflichen Einsamkeit verbannte. Mariens Einbildungskraft war in den letzten Wochen thätig gewesen, sich die Rückkehr ihres vornehmen Nachbarn als einen Wendepunkt ihres Daseins auszumalen. Wenn sich ihre jungfräulichen Träumereien auch noch nicht bis zum Gipfelpunkte heimlicher, hochsteigender, glanzvoller Wünsche erhoben, so bildeten sie sich doch, im unausbleiblichen Wiedersehen, Anknüpfungspunkte für spätere Annäherungen und schon darin lag für sie eine Seligkeit. Jetzt war Alles vorbei! Der vornehme Nachbar wurde durch nichts an sie erinnert, wenn er wiederkam und ihre Wohnung verlassen fand. Sie war fort. Sie war begraben in dem ländlichen Verstecke, das Niemand kannte. Sie war todt für Den, dem ihre Seele mit demüthiger Verehrung sich weihete.
Ihr bleiches Gesicht, der wahrhaft schmerzensreiche Zug um die fest eingezogenen Lippen, der Ernst und die traurige Ruhe, mit der sie sich allen Pflichten unterzog, welche nöthig wurden, verriethen, daß nicht blos eitles Träumen, sondern daß tiefes, festgewurzeltes Interesse für den Rath Giseke ihr das ewige Scheiden von der leichten, aber täglich wiederkehrenden Gewohnheit sehr schwer machte.
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