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Das Haus, welches der Calculator Rüdiger vor einer Reihe von Jahren geerbt hatte, war eins der hübschesten auf der Bleicherei, womit aber keineswegs gesagt sein soll, daß es einem Palaste oder auch nur einer Villa ähnlich gewesen wäre. Es war eine Hütte nach großstädtischen Begriffen, die eine Hausthür in der Mitte und zu jeder Seite zwei Fenster aufwies. Die Wohnzimmer lagen zu ebener Erde mit der Aussicht auf die zum Bleichen benutzten Wiesen, welche von dem wogenden Strome begrenzt wurden. Die Schlafkammern befanden sich oben auf dem Boden in einem Giebelausbau. Küche und Holzstall bildeten den hintern Raum des Häuschens. Aber das Haus sah gut aus. Es lag auf einer Erhöhung und war jedenfalls später, als die übrigen Bleicherwohnungen und auch von wohlhabenderen Leuten gebaut.
Um die jährliche Überschwemmung dieses Landstrichs am Strome entlang weniger schädlich für das Haus zu machen, hatte man den Wall, worauf sämmtliche Bleicherhäuser lagen, um mehrere Fuß erhöht und das Erdgeschoß ebenfalls hochgemauert, so daß man eine hölzerne Treppe von acht Stufen ersteigen mußte, bevor man zur Hausthür gelangte. Zwei hübsche Akazien zierten den Eingang. Sie standen unterhalb der langen steilen Treppe und warfen zur Sommerzeit einen angenehmen Schatten auf die grün angestrichenen Fenster. Jetzt freilich hatte der Winterfrost die feinen Blätter vernichtet, und die Sonne, welche langsam über den Strom hinaufzog, drang, lebhafte und grelle Lichtreflexe werfend, bis hinten in die Wohnzimmer ein.
In dem einen Stübchen, das sich durch spiegelhelle Fenster, mit Geranien besetzt und mit hübschen Gardinen verziert, auszeichnete, finden wir in alter Gemüthlichkeit und Schweigsamkeit den Excalculator Rüdiger nebst seiner Tochter Marie.
Er hatte seine Pfeife in Brand gesetzt und lehnte nachdenklich im Lehnsessel, während seine Tochter ein Gericht Sauerkraut mit einem Teige belegte und selbiges eben in die weite und breite eiserne Ofenröhre schob, als eine Bäuerin, ihr Bündel in der Hand, eilig und flink die hölzerne Treppe hinanstieg und unverzüglich in die Hausflur schlüpfte, die mit leichtem Geklingel ihren Eintritt ankündigte.
Marie horchte. Der Calculator richtete sich etwas auf aus seiner bequemen Stellung.
»Das war etwas Fremdes; sieh mal nach, liebes Kind,« sagte der alte Herr.
Bevor Marie dazu kommen konnte, klopfte es rasch und die Thür wurde sogleich geöffnet.
Dora trat ein, schritt bis zum Sessel Rüdiger's vor und sagte:
»Ich bin die Schwester des Raths Giseke, wollen Sie so gütig sein und den Bitten meines Bruders, die er auf diesem Blatte ausspricht, Folge leisten?«
Rüdiger erhob sich steifbeinig aus seinem Sessel und betrachtete voller Verwunderung die zierliche Bäuerin, die des Raths Giseke Schwester sein wollte, während Marie, mit hochaufklopfendem Herzen näher trat und kaum hörbar flüsterte:
»Seine Schwester!«
Giseke's Zettel war gelesen, allein noch immer fand der steife Büreaubeamte kein Wort der Erwiederung und Begrüßung. Dora ließ sich dies nicht viel kümmern. Mit der Gewandtheit der Weltdame hatte sie sich zu Marie gewendet und ihr zutraulich die Hand gereicht.
»Mein Bruder läßt Sie grüßen, Marie. Er läßt Sie bitten, sich meiner anzunehmen. Vor allen Dingen muß ich diesen Anzug ablegen und sofort an meinen Bruder zurückschicken, da er sonst in Verlegenheit kommen kann. Wollen Sie mir ein Kämmerchen anweisen, wo ich meine Kleidung wechseln kann?«
Marie lief dienstfertig zur Thür, indem sie, »zu folgen« bat. Aber der Calculator hatte während deß seine Sprache wieder gewonnen, die ihm die Ueberraschung geraubt.
»Erlauben Sie, Madame Markland, das geht nicht!«
»Sie kennen mich?« fragte Dora, »und dennoch sagen Sie, das geht nicht?«
»Ich wiederhole es nochmals, Madame, damit Sie nicht in Ungewißheit bleiben, ob Sie auch recht gehört haben, Sie können nicht hier bleiben. Mein Dach ist nicht dazu gemacht, die Gemahlin des Präfecten Markland zu beherbergen,« schloß er sehr bestimmt.
Dora's Blick funkelte vor Aufregung, worin sich Zorn und Angst mischte.
»Wissen Sie, daß es eine Unmenschlichkeit von Ihnen wäre, wenn Sie mich von Ihrer Schwelle jagten, Herr Calculator!« rief sie, und fügte dann hinzu: »Mein Bruder hatte eine bessere Meinung von Ihnen.«
»Die Meinung des Herrn Rath Giseke verdiene ich auch, Madame. Allein die Gemahlin des Herrn Präfecten Markland verdient es nicht, daß ich den Ruf meiner Tochter auf's Spiel setze, indem ich mich dazu hergebe, sie mit ihrer französischen Leichtfertigkeit in meinem Hause zu dulden.«
Die junge Dame schlug verzweiflungsvoll die Hände zusammen.
»Allmächtiger Gott, dahin wäre es also schon mit mir gekommen!«
Sie warf sich, an allen Gliedern zitternd, zu Boden und verbarg ihr Gesicht in dem Polster eines Sessels.
Eine Todtenstille trat ein. Marie hatte die Hand ihres Vaters gefaßt und blickte ihn mit rührender Bitte an, wagte aber erst nach geraumer Zeit das Schweigen zu brechen.
»Bedenken der Herr Vater,« flüsterte sie wehmüthig, »Würde der Herr Rath Giseke uns wohl eine Dame ins Haus schicken, die unserer Hochachtung unwerth wäre? Nimmermehr, Vater, nimmermehr!«
»Mein Kind, das verstehst Du nicht!« entgegnete Rüdiger mit nicht ganz fester Stimme. »Wer kann zu jetziger Zeit noch einem einzigen Menschen Treu und Glauben schenken? Wenn es gilt, eine Schande zu verbergen, so wählt man am besten den ehrlichsten Menschen zum Deckmantel.«
Marie richtete sich entrüstet aus ihrer demüthig bittenden Stellung auf.
»Der Herr Vater mögen Recht haben im Allgemeinen,« sprach sie so entschieden, wie niemals in ihrem ganzen Leben, »aber der Rath Giseke handelt nicht so, darauf will ich das Abendmahl nehmen! Ich denke, auf das Wort dieses Herrn könnte man Häuser bauen!«
Schon bei den harten Worten voll Mißtrauen, die den Lippen Rüdiger's entschlüpften, hatte sich Dora langsam aufgerichtet und eine entschlossenere Stellung angenommen. Jetzt reichte sie mit einem Lächeln, das nur ihr eigenthümlich war, und an Milde und Güte Alles übertraf, was man sich in einem Lächeln vorstellen kann, Marien die Hand.
»Bemühen Sie sich nicht, liebe Marie, verletzen Sie meinetwegen nicht die stille Ehrerbietung gegen Ihren Vater. Er hat Recht, wenn er Niemandem mehr vertraut. Auch mein Bruder kannte keinen Menschen weiter, den er seines Vertrauens würdig fand, als Ihren Vater! Ich bin weit entfernt, den edlen Zorn zu tadeln, der die Brust aller Deutschen erfüllen muß, wenn man sieht, wie weit die Macht der französischen Regierung ausgedehnt wird. Aber hören sollen Sie erst, was mich zur Flucht aus meinem Hause trieb, bevor Sie mich schimpflich fortweisen, als Eine, die Ihnen Schande bringen könnte. Mein Mann, der mich lieb hat und den ich unaussprechlich liebe, hat, von der Aufregung nach einem solennen Mahle hingerissen, seine eigene Gattin, als das Letzte, was er noch sein eigen nannte, auf's Spiel gesetzt und hat – verloren. Ich floh unter dem Schleier der ersten Morgenröthe zu meinem Bruder, um dem verruchten, böswillig-sinnlichen Leclaire zu entgehen. Mein Bruder kannte keine andere Zuflucht für mich als Ihr Haus, mein Herr. –«
So lange hatte Marie glühend vor Zorn, bebend vor Entsetzen und stumm vor Schrecken über die Geschichte, zugehört. Jetzt aber brachen alle Schranken, die eine strenge Erziehung und die natürliche Ehrfurcht des Kindes vor dem Vater aufgethürmt hatten. Sie stürzte vor ihrem Vater nieder, der mit stark gerunzelter Stirn grämlich vor sich hinblickte und rief ganz außer sich:
»Vater! Vater! Es wäre eine Sünde, ein Verbrechen, wollten wir die arme Dame nicht aufnehmen! Vater, wenn Ihre Tochter unschuldig verfolgt umherirrte, wenn die Menschen unerbittlich und mitleidlos sie von ihrer Thür wiesen, o Vater, bedenken Sie, bedenken Sie!«
Ihre Stimme verlor sich in einem leisen Schluchzen.
Der Calculator hielt seine kalten, strengen Augen weit geöffnet auf seine bittende Tochter geheftet. Er antwortete kein Wort und zuckte nicht mit einer Wimper. Es war gerade, als hätte er den Ausspruch auf seiner Lippe: »Es bleibt dabei, was ich gesagt habe.«
Wieder herrschte eine Todtenstille im Zimmer. Ergebungsvoll raffte Dora das Bündel von der Erde auf, das sie neben sich gelegt und machte Anstalt, ganz still und ohne Klage das Haus zu verlassen, welches ihr nicht zum Asyle werden sollte. Marie schrie laut auf und rang die Hände, die sie stehend ihrem Vater entgegenstreckte. Der alte Herr saß ernst und still, aber eine Leichenblässe deckte sein Gesicht. Er kämpfte einen furchtbaren Kampf mit seinem Starrsinne.
»Wie?« flüsterte der böse Geist in ihm, »wie? dieser Frau wegen solltest du zum ersten Male in deinem Leben einen Befehl widerrufen und eine Meinung umändern? – »Warum nicht?« erwiederte sein guter Geist. – »Wie?« höhnte sein böser Geist, »deiner Tochter fällt es ein, dich mit Bitten zu bestürmen?« – »Sie thut es aus Erbarmen!« entschuldigte sein guter Geist. – »Erbarmen! Hatte der Gatte dieser Frau Erbarmen gezeigt, als er die Suspension unterschrieb? – »Was ging aber die Frau das an? Die trug wahrhaftig nichts dazu bei. Und die gute Meinung des Raths Giseke, den er hoch verehrt hatte, so lange er im Dienste war?«
Ganz mechanisch richtete er sein Auge auf den Zettel, den er noch immer in der Hand hielt.
»Gehen Sie hinauf mit meiner Tochter und wechseln Sie den Anzug, Madame,« sagte er plötzlich mit so ruhiger Manier, daß Dora glaubte, sie habe nicht recht verstanden. »Ich will das Zeug selbst an Ihren Herrn Bruder überbringen, damit nichts durch die Dummheit eines Boten verrathen wird. Beeilen Sie sich etwas, die Marie mag Ihnen beistehen und mir ein ordentliches Packet aus den Bauernkleidern machen.«
Dora neigte sich in unverstellter Dankbarkeit auf die Hand des Calculators und berührte sie mit ihren heißen Lippen, Marie aber umschlang ihn im Rausche der Ueberraschung und küßte ihn auf beide Wangen.
Dann verschwanden sie Beide.
Es war kalt in Mariens Kämmerchen und Dora fühlte in ihrer Erschöpfung diese Kälte so empfindlich, daß sie frostig zusammenschauerte. O, wie entzückend entfaltete sich da die Besorgniß um die schöne Frau, die »seine Schwester« war. In einen weiten wollenen Mantel hüllte sie die frostbebende Gestalt und warf mit einer fabelhaften Behendigkeit die schweren Bauernkleider von den zarten, weißen Gliedern, um die Kleidungsstücke dagegen anzulegen, welche Dora bei ihrer Flucht aus dem Hause angehabt hatte.
»Sie werden eine große Last von mir haben, Marie,« sprach die junge Dame mit leiser liebkosender Stimme. »Ich habe nichts, als diesen Anzug und kann mir nichts aus meiner Garderobe herbeischaffen lassen, ohne das Geheimniß meines Aufenthalts zu gefährden! Ich werde also Ihre Güte in Anspruch nehmen müssen, bis Bruder Ludwig mir Wäsche und Kleidung besorgen kann.«
Marie war gerade beschäftigt, den Gürtel des Gewandes zuzuschnüren, das sie Dora angezogen hatte. Sie blickte von unten auf zu Dora empor und rief mit ehrerbietigem Scherze:
»Sie werden in meinen Kattunroben wie eine verkleidete Prinzessin aussehen, gnädige Frau! Dies Morgenhabit ist eleganter als mein bester Sonntagsstaat, also wird es zu feierlichen Gelegenheiten aufgespart werden müssen.«
Die Fröhlichkeit, welche bei diesen Worten, gleich einem seltenen Sonnenstrahle, über das schöne, geduldig sanfte Gesicht des jungen Mädchens hinwegblitzte, gab ihr einen unwiderstehlichen Reiz. In einer unwillkürlichen Aufwallung bog sich Dora zu ihr nieder und küßte sie mit der leidenschaftlichen Heftigkeit ihres Wesens auf die Stirn.
In lieblicher Scham senkte Marie das Auge und ihre Finger zitterten, als sie die Schnüre band.
»Ich glaube, Sie wissen gar nicht, wie hübsch Sie sind, Kleine!« flüsterte Dora nach einer Weile.
Marie blieb natürlich die Antwort schuldig. Sie beeilte sich, die Bauernkleider so fest wie möglich aufzurollen, steckte dies Bündel in einen grauen Sack und schnürte ihn mit Bindfaden ein. Das Alles ging ihr mit einer Schnelligkeit von der Hand, als hätte sie ihr Lebtage nichts Anderes gethan, als Kleider eingepackt. Dora stand dabei, dicht in den großen wollenen Mantel gewickelt und sah ihr zu. Sie erkannte mit ihrem wohlgeübten Auge sogleich in diesem Mädchen ein Wesen, welches ganz dazu geschaffen schien, der Trost und die Stütze desjenigen Theiles der irdischen Bevölkerung zu sein, dem alle Fähigkeit zum Praktischen mangelt.
Dora stand und sah zu, allein je länger sie zusah, desto liebenswürdiger und reizender erschien ihr Marie. Mit welcher Behendigkeit warf sie das Packet, das viel schwerer und größer war, als Dora's feine, seidenweiche Morgenrobe, auf die Schultern und eilte die weite Treppe hinab, als ihr Vater »endlich!« rief und ungeduldig mit dem Stocke aufstampfte. Mit welcher Kindlichkeit untersuchte sie des Vaters Anzug, damit auch kein rauhes Lüftchen irgendwo einschlüpfen konnte. Mit welcher Besorgtheit in Blick und Geberde sah sie ihm nach, als er ging, gravitätisch wie ein preußischer Grenadier zu Friedrich des Großen Zeiten.
Erst als der Calculator im Wiesenwege sich verlor, trat sie zurück und wendete ihre Aufmerksamkeit ungetheilt ihrem vornehmen Gaste wieder zu. Sie öffnete die Thür des andern Zimmers, das dem Wohnzimmer gegenüber lag und ließ mit einem gewissen Stolze die Dame dort hineinblicken. Es war das Putzstübchen des Hauses, ausgestattet mit blankgebohnten Möbeln von Eichenholz, mit hochlehnigen Sesselstühlen, einem hübschen Sopha und einigen Schränken.
»Hier, gnädige Frau, sollen Sie wohnen!« sprach Marie. »Hier stelle ich Ihnen ein Bett auf und wenn ich nachher geheizt haben werde, so können Sie sich nach Belieben in dies Stübchen zurückziehen. Sehen Sie nur! Der Herr Vater und ich haben es ganz allein austapezirt, die Fenster und die Thüren mit Farbe gestrichen, sehen Sie, wie hübsch hell und freundlich die Sonne hereinlacht.«
»Sie? Allein austapezirt und mit Farbe gestrichen?« rief die Frau mit unverstellter Verwunderung.
»Ja wohl! O, der Mensch kann Alles, wenn er nur den Willen dazu hat!« sagte Marie und führte ihren Gast in die warme, von Sauerkrautduft überfüllte Stube zurück. »Hier ist's nicht hübsch für die gnädige Frau,« fügte sie etwas verlegen hinzu, indem sie schnell ein Fenster aufstieß. »Wenn Sie erlauben, gehe ich und heize den Ofen drüben.«
»Ich erlaube Alles, meine gute Marie,« fiel die Dame hastig ein, während sie mit ihrem Arm die schlanke Taille des Mädchens umfaßte. »Ich erlaube Alles und nehme alle Güte von Ihnen an, aber um Eins muß ich bitten, Eins muß ich zur Bedingung machen.«
Marie hob das sprechende Auge fragend zu ihr auf.
»Daß Sie mich nicht gnädige Frau tituliren, sondern Dora nennen. Dora Markland flüchtete zu Denen hinaus, die ihr Bruder als die einzigen Menschen pries, denen er unbedingt vertrauen könne! Dora Markland ist Ihrer Güte, Ihrer Liebe sehr, sehr bedürftig und bittet um Ihre Freundschaft!«
Während sie so redete, hatte Marie die Augen schüchtern wieder, gesenkt und die Stirn tief niedergeneigt.
»Würde sich das schicken?« fragte sie kaum hörbar. »Ich so arm, so einfach, so unwissend gegen Sie?«
»Könnten Sie mich lieben, Marie?« fragte die Dame hastig dazwischen.
Mariens Herz klopfte hoch auf.
»Ja,« sagte sie rasch. Dora sah ihr innig ins Auge.
»Nun dann? Ich hatte nie eine Freundin, Marie!«
»Ich auch nicht!«
»Meine Schwestern waren mir nie hold, weil ich leichtherzig und fröhlich ins Leben hineinsah und einen lustigen Tanzabend der langweiligen Predigt in der Kirche vorzog.«
»Konnten Sie denn nicht Beides miteinander verbinden?« fragte Marie treuherzig. »Ich liebe eine Predigt, aber ich glaube, daß ich auch sehr gern tanzen würde.«
»Genug, Marie, wir wollen Freundinnen sein. Ich will von Ihnen lernen, Sie können von mir lernen.« Jetzt drückte sie ihre frischen Lippen nicht auf die Stirn, sondern auf den Mund des jungen Mädchens, das halb ohnmächtig vor innerer Bewegung den Kuß leise erwiederte. »Ich werde Ihnen offenherzig mein ganzes Leben aufdecken. Sie sollen meine Sünden wissen und mir sagen, ob ich mein Schicksal auch nicht etwa verdient habe. –«
»Ach nein, Dora,« unterbrach sie das junge Mädchen. »Ihr Schicksal ist zu grausam! O, die Männer haben selbst keine Ahnung davon, wie kalt und wie hart sie sein können, wenn sie, auf ihre Rechte gestützt, befehlen und commandiren!«
Die junge Dame sah höchst verwundert, starr in Mariens rosiges, jugendliches Antlitz. Woher kam denn dem jungen Mädchen so viel Weisheit der Erfahrung?
»Ja, ja,« fuhr diese fort, »die Männer haben einmal das Recht zu herrschen und wir Frauenzimmer müssen gehorchen, wenn uns auch das Herz weh thut.«
»Kleine, was plaudern Sie da?« fragte Dora, ihrem grenzenlosen Erstaunen Worte gebend. »Betrachten Sie uns denn als die Sclavinnen der Männer?«
»Nun, es steht doch geschrieben, daß die Männer die Herren der Schöpfung sein sollen!«
»Thörichtes Kind! In welcher Wildniß sind Sie denn erzogen und groß geworden, daß Sie so altväterisch denken?«
Marie lächelte mit Stolz und Verlegenheit zugleich. »Mein Vater hat mich nach seinen Grundsätzen erzogen.«
»Also zum blinden Gehorsam angehalten?«
»Nun, hat er nicht das Recht dazu? Und wenn er es nicht verlangte, so würde ich es aus Ehrfurcht thun!«
Dora stand da, unbeweglich und gedankenvoll. Ganz leise begann sie wieder: »So ist Ihnen Ihr Vater gleich Gott, dem höhern Wesen über uns.«
Ein zärtliches Leuchten ging von den Augen Mariens über ihr ganzes Gesicht hinweg.
»Ja, ja!« sagte sie freudig. »Wenn ich etwas Unrechtes thun wollte, so würde der Gedanke an den Schmerz meines Vaters mich verhindern, es zu thun, und wenn ich etwas Gutes zu thun beabsichtige, so hilft mir der Gedanke an meines Vaters Billigung über alle Schwierigkeiten hinweg.«
»Ist es denn möglich?« flüsterte Nora hingerissen. »Das wäre also der Segen einer strengen, einfachen Erziehung! Seit wann ist Ihre Mutter todt?« fügte sie hinzu, als wolle sie hier einen Grund suchen.
»Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben!«
»Und Ihr Vater hat dann allein Ihre Erziehung geleitet?« fragte sie ungläubig weiter.
»Ganz allein! Als ich zehn Jahre alt war, starb unsere alte Magd. Von da an übernahm ich auch die Küchenarbeit.«
»Marie, Sie erzählen mir Märchen!« rief die jungt Dame. »Und Sie lieben Ihren Vater?«
»Unaussprechlich! Ich würde eben so wenig ohne meinen Vater leben können, wie er ohne mich.«
»Aber wenn Sie heirathen? Sie erröthen so schön, gewiß haben Sie sich schon Jemandem anverlobt, Marie! Wie soll das werden?«
»Ich heirathe nie!« erklärte das junge Mädchen sehr ernst, ungeachtet der schönen Röthe, die von Dora als bräutliche Verschämtheit angesehen worden war.
»Mit achtzehn Jahren spricht man immer so,« schäkerte die junge Frau. »Irgend ein junger College Ihres Vaters wird wohl eine Veranlassung gesucht und gefunden haben, um in das Heiligthum des ehrenwerthen Calculators Rüdiger gelangen zu können. Nicht wahr?«
»Ich heirathe nie!« wiederholte Marie noch ernster, als zuvor. »In unser Haus ist niemals ein Mann gekommen –« sie stockte und zögerte. Ihre Wahrheitsliebe überwand aber die Scrupel ihres Herzens. »Nur Ihr Herr Bruder kam vor einigen Monaten auf einige Augenblicke zu uns, um sich nach einen Vorfalle im Gerichtslocale zu erkundigen.«
Was war es, was in der Stimme des Mädchens lag, so daß Dora die Augen weit öffnete und mit verhaltenem Athem fragte:
»Ludwig, Ludwig? Er war bei Ihnen? Er kennt Sie näher? Bitte, vertrauen Sie mir?« bat sie schmeichelnd.
Marie sah sie ernst und traurig an.
»Ich habe Ihnen nichts, gar nichts zu vertrauen, Dora!«
Diese fuhr lebhaft fort:
»Ludwig ist früher so hübsch gewesen, jetzt ist er fürchterlich häßlich! Der Arme! Er fühlt das. Er begreift, daß man ihn verabscheuungswürdig finden muß. Und doch, es giebt keinen edleren Mann. Es giebt keinen gütigern Bruder, – o, Marie, wenn unser Zusammentreffen im Rathe Gottes beschlossen wäre! – aber nein, nein, es ist unmöglich, Sie so schön und er so häßlich, nicht wahr Marie, es ist nicht denkbar, daß Sie ihm gut werden könnten?«
»Er so vornehm, so gescheidt, und ich so gering, so unwissend,« sprach Marie mit sehr bedrücktem Athem und sehr eilig.
Ehe Frau Markland eine Antwort zu geben vermochte, war Marie aus dem Zimmer geschlüpft. Ein zufriedenes Lächeln glitt über das Gesicht der Zurückbleibenden.
»Ganz richtig ist die Sache nicht,« flüsterte sie fast schadenfroh. »Ich werde meinem Herrn Bruder gelegentlich Daumschrauben aufsetzen. Er soll und muß beichten! Wenn er sie liebte! Mein Gott, wäre es denn die erste Calculatorstochter, die Geheimräthin würde? Und wie reizend ist sie! Dies wechselnde Mienenspiel, dies Leuchten in ihren Augen, sind das nicht Zeichen einer geistigen Regsamkeit, die jede Bildung leicht macht? Gerade daß Mariens Schönheit weniger in einer steifen Regelmäßigkeit besteht, gerade darin liegt der Zauber, welcher meinen Bruder überwältigen wird.«
Von ihrem Sitze sich erhebend, näherte sich die junge Frau dem Fenster und blickte über die Wiesen hinweg, nach dem Strome hinüber, hinter dem sich die Stadt mit ihren hohen, schönen Thürmen lagerte. Eine unbezwingliche Wehmuth bemächtigte sich ihrer, als sie den Ort betrachtete, wo sie bis zu diesem Tage so harmlos glücklich gelebt hatte. Tiefsinnig ließ sie die Erfahrungen der letzten Stunden an ihrer Seele vorübergehen. Was hatte sie verloren? Ganz leise regten sich die leicht bewegten Schwingen ihrer Hoffnung, als sie diese Frage mit der einfachen Antwort beschwichtigte: »gar nichts, durchaus gar nichts hatte sie verloren, wenn sonst ihr Gatte weise genug war, keinen Lärm zu schlagen und keine Nachforschungen nach ihrem Aufenthaltsorte anzustellen.«
Sie war sicher genug geborgen, um für einige Zeit, selbst für mehrere Monate versteckt leben zu können. Nachdem die deutsche Gradheit des guten Calculators, die wirklich an Grobheit grenzte, einmal überwunden war, so bürgte seine unbestechliche Redlichkeit für ihre Sicherheit. Zwar dachte sie sich das Leben in diesem hüttenähnlichen Hause, in der bürgerlich einfachen Beschränkung nicht ergötzlich genug, um es sich für längere Zeit wünschen zu mögen, allein schon jetzt erhellte zuweilen blitzartig der Strahl der Selbsterkenntniß ihr Inneres und rief den Gedanken in ihr wach, ob wohl nicht eine unsichtbare, höhere Macht und Kraft im Spiele sei, welche ihrem überhandnehmenden Leichtsinn ein Ziel zu setzen sich vorgenommen habe. Die Worte des alten strengen Herrn brannten wie Feuer in ihrer Erinnerung: »Die Gemahlin des Präfecten Markland verdient es nicht, daß ich den Ruf meiner Tochter auf's Spiel setze, indem ich mich dazu hergebe, sie mit ihrer französischen Leichtfertigkeit in meinem Hause zu dulden!« Ein Grauen überrieselte sie, als sie sich diesen Ausspruch vergegenwärtigte und sich die Möglichkeit vorstellte, in demselben eine allgemeine Verurtheilung ihrer deutschen Landsleute sehen zu müssen. Welche Geringschätzung lag in des Calculators Empfang! Konnte dies nicht der Ausdruck der allgemeinen Stimmung gegen sie sein? Hatte sie denn wirklich am Rande eines Abgrundes gestanden und war es zu spät, um einem soliden Leben wiedergegeben zu werden?
»Nein! Nein!« rief sie laut und begeistert aus. »Noch ist nichts zu spät! Ich bin schuldlos und rein geblieben! Der Hauch des bösen Scheins kann mich nicht dergestalt verunglimpft haben, daß es nicht meiner Unschuld gelingen sollte, siegreich diese Nebel zu zerstreuen. Zwar die Verleumdung schleicht im Dunkeln und ihr Gift wüthet in der Nachrede still und unerforschlich fort, allein die Kraft des reinen Gewissens trägt über diese straflos geübte Sünde den Sieg davon.«
Dora faltete ihre Hände zum Gebet in einander und ließ ihre Blicke mit Vertrauen zu den Wolken emporsteigen, über denen ein allwissendes Wesen thront. Sie war aus den wilden, phantastischen Freuden des Weltlebens, inmitten eines fremden Volkes, das ihre Sprache nicht reden und verstehen konnte, hinausgejagt, die Ruhe ihrer Seele war gestört, der Frieden ihres Daseins war ihr geraubt und sie flüchtete mit ihrem zerrissenen Sinne zu dem Lenker aller menschlichen Schicksale. Was sie erlebt hatte, glich mehr einem beängstigenden Traume, als einer wirklichen Begebenheit, aber als sie die Wahrheit ihrer Erlebnisse erkannte, da suchte sie sich die einzig richtige Stütze, welche sie aufrecht erhalten konnte, mit einem Gelöbnisse zur Tugend. Gott hatte sie errettet und sie wollte dieser Gnade würdig werden.
Der strenge alte Mann, der ihr mit kaltem Herzen die Meinung der Welt verkündet hatte, der sollte über ihr Handeln, über ihr Thun und Denken zu Gericht sitzen. Wie Marie, seine eigene Tochter, wollte sie in Gedanken sein Urtheil respectiren und um seine Liebe werben. An ihren Gatten dachte sie merkwürdiger Weise in diesem erhebenden Momente gar nicht!
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