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Unauffällig und etwas besorgt war Me Kam ihrer Herrin und Warwick über die großen Steinplatten weiter Tempelhöfe und durch düstere, unheimliche Portale gefolgt. Als sie sah, daß die beiden die breite Treppe zum heiligen Prachedi hinaufstiegen, wußte sie zuerst nicht, was sie tun sollte, aber dann beschloß sie, unten zu bleiben und Wache zu halten, daß sie für sich allein blieben und von niemand gestört würden. Lässig lehnte sie sich an den starken Pfeiler, der das Treppengeländer abschloß.
Me Kam fühlte tiefes Mitleid mit Amarin, denn sie wußte nur zu gut, daß die Prinzessin durch Etikette und königliche Hausgesetze in ihrer Freiheit grausam beschränkt war.
Als siamesische Prinzessin geboren zu werden, erschien anderen Sterblichen als ein herrliches Los. Alle Wünsche wurden erfüllt, die Macht und Reichtum nur verschaffen konnten. Sie schlief in einer goldenen Wiege, und sie trug prachtvolle Kleider, wundervollen Schmuck, herrliche Juwelen. Viele Dienerinnen sorgten für sie und führten jeden ihrer Befehle aus, und sie wohnte in prunkvollen Palästen mit feenhaften Gärten.
Aber Liebesglück blieb der armen Prinzessin fast immer versagt. Ihrem Stande gemäß durfte sie nur einen Prinzen heiraten, und da Prinzen aus fremden Staaten nicht nach Siam kamen, um dort eine Braut zu suchen, war die Auswahl gering. Nur die eigenen Vettern oder Brüder kamen in Betracht.
Die Ungerechtigkeit und Unsinnigkeit einer solchen Versklavung empörten Me Kam, und leidenschaftlich ergriff sie Partei für ihre Herrin. Wie konnte eine Frau ohne Liebe glücklich werden? Wenn die Prinzessinnen nur Prinzen des Königlichen Hauses heiraten durften, war es doch nur recht und billig, daß diese Vorschrift auch umgekehrt, für die männlichen Mitglieder der Familie, galt. Aber das wäre in den meisten Fällen auch kein großes Glück für die Frauen gewesen. Viele der Prinzen lebten zügellos und hielten ihre Nebenfrauen. Als große Hauptfrau einen solchen Haushalt zu leiten, war nach Me Kams Anschauung keine reine Freude.
Die Amme hatte ihre Herrin zu lieb, um ihr ein solches Schicksal zu wünschen. In Paris hatte sie nur ein paar Worte Französisch gelernt, aber trotzdem hatte sie verschwommene Begriffe von Gleichberechtigung der Geschlechter, Frauenemanzipation und Recht auf Liebe mitgebracht.
Trotz der hellen Mondnacht war es am Fuß der Treppe ziemlich dunkel. Große Bäume und Sträucher warfen tiefe Schatten auf die Wege, und keine Laterne erleuchtete diesen Teil der Tempelanlagen. Me Kam glaubte nicht, daß jemand in diese einsame Gegend kommen würde, denn die Vergnügungen und Zerstreuungen auf dem Volksfest lockten die Leute viel mehr als Stille und Ruhe.
Plötzlich hörte sie jedoch das Knacken eines Zweiges. Erschreckt fuhr sie zusammen und sah sich um. Als zwei Männer auf sie zukamen, versteckte sie sich rasch im Gebüsch und lauschte angestrengt.
Die beiden blieben in ihrer nächsten Nähe stehen, und aus der lauten Unterhaltung und dem lärmenden Wesen schloß sie, daß die Leute zuviel Reisschnaps getrunken hatten. Sie überlegte, was Sie tun könnte, wenn die Strolche die Treppe hinaufgehen würden. Das mußte sie unter allen Umständen verhindern. Den gewöhnlichen Stimmen und gemeinen Redensarten nach mußten es rohe Gesellen sein.
Plötzlich fiel ihr ein, daß die Prinzessin kostbaren Brillantschmuck trug und daß in der letzten Zeit in dieser Gegend viele Raubüberfälle vorgekommen waren. Es war wirklich leichtsinnig von Amarin gewesen, jede Vorsicht zu vergessen und allein mit Warwick hierhinzugehen. Erleichtert atmete Me Kam auf, als die Leute nach einer Weile weiterliefen. Vorsichtig trat sie wieder aus ihrem Versteck hervor und setzte sich auf die unterste Stufe.
Sie war die einzige Vertraute ihrer Herrin, und in den letzten Wochen hatte sie mit ihr gelitten, geduldet und gehofft. Drei große Schalen mit Kerzen, Räucherwerk und Blumen hatte sie persönlich dem großen Buddhabild im Tempel der Lotosteiche geopfert, damit Amarin mit dem schönen Farang glücklich würde. Dazu hatte sie ein rotes Tuch um den einen Pfeiler des Altars geschlungen, auf das sie vorher ihren Wunsch niedergeschrieben hatte, ohne die Namen der Liebenden deutlich zu nennen. Sie beschloß, am nächsten Morgen dieses Opfer in aller Frühe zu wiederholen.
Langsam vergingen die Minuten, und Me Kam wurde immer unruhiger. Fast bereute sie jetzt, daß sie Amarin von Warwicks Anwesenheit erzählt und sie dadurch in solche Gefahr gebracht hatte. Sie überlegte, daß sie etwas unternehmen müsse. Sollte sie hinaufgehen und die Prinzessin an die vorgerückte Stunde erinnern? Aber das erschien ihr zu gewagt, denn dadurch zerstörte sie vielleicht für immer den Glückstraum ihrer Herrin.
Plötzlich zuckte sie zusammen, da sie wieder Schritte hörte.
Ein Europäer kam des Weges, und Me Kam beruhigte sich, als sie Ronnie erkannte. Er hatte das Wahrsagebuch mit den vielen Zeichnungen zu einem hohen Preis erstanden und suchte nun Warwick in den ausgedehnten Klosteranlagen. Von dem Faltbuch wollte er sich nicht trennen und trug es als großes Paket unter dem Arm. Bei dem Sterndeuter hatte er sich natürlich verspätet und war nicht zur rechten Zeit zum Tempelhof zurückgekehrt. Deshalb hatte er ein böses Gewissen und bemühte sich, seinen Freund unter allen Umständen wiederzufinden. Er war erfreut, als er Me Kam sah, denn er schloß daraus, daß die Prinzessin auch irgendwo in der Nähe sein müsse.
»Haben Sie vielleicht Mr. Warbury gesehen?« fragte er, nachdem er ihren Gruß liebenswürdig erwidert hatte.
Als sie verneinte, wollte Ronnie sofort die Treppe hinaufsteigen, um sich oben nach Warwick umzusehen. Me Kam redete zuerst Siamesisch auf ihn ein, da sie aber zu schnell sprach, konnte er sie nicht verstehen. Darauf versuchte sie all ihre englischen Kenntnisse zusammenzunehmen. Er verstand zwar jetzt auch nicht alles, was sie sagte, aber es gelang ihr schließlich, ihn durch einen großen Wortschwall von seiner Absicht abzubringen.
Er unterhielt sich gern mit Me Kam und hatte im Augenblick Warwick vergessen. Das günstige Horoskop hatte ihn in eine gehobene Stimmung versetzt, und er kam sich wichtig vor. Da er sein Herz stets auf der Zunge trug, erzählte er Me Kam alles, was ihm der Sterndeuter prophezeit hatte.
Nachdem Ronnie seine Absicht, die Treppe hinaufzusteigen, aufgegeben hatte, gewann Me Kam ihre Ruhe wieder, und nun verstand er sie auch bedeutend besser.
Ronnie schien die Gelegenheit günstig, und er fragte die Amme nach Amarin aus. Vor allem wollte er wissen, ob sie schon verlobt sei. Zu seiner größten Genugtuung erfuhr er, daß sie sich noch nicht gebunden habe. Nach den Vorhersagen des Sterndeuters glaubte er, daß er auf Amarin hoffen dürfe. Er fragte die Amme, ob der Prinzessin wohl Farangs mit blauen Augen gefallen würden?
Me Kam lächelte verschmitzt im Dunkeln und bejahte. Ihren aufmerksamen Blicken war es schon früher nicht entgangen, daß Ronnie die Prinzessin verehrte und alles daransetzte in ihre Nähe zu kommen. Aus seinen letzten Fragen ging ja deutlich hervor, daß er sich in sie verliebt hatte.
Ronnie war ein Idealist und Schwärmer, besonders Frauen gegenüber, und bei seiner optimistischen Veranlagung bezog er alles auf sich.
Die Zeit verstrich, und Me Kam wurde aufs neue nervös.
Aber Ronnie fragte unentwegt weiter. Er wollte wissen, ob Amarin Bücher liebe. Als die Amme auch dies bejahte, erklärte er ihr umständlich, daß er selbst ein Werk über Siam verfasse, was sie auch schließlich nach vielen Bemühungen seinerseits begriff.
Dann wollte er wissen, ob er der allergnädigsten Prinzessin den Band widmen dürfe.
Das ging aber über Me Kams Fassungsvermögen hinaus. Sosehr er auch versuchte es ihr klarzumachen, konnte er von ihr doch keine Antwort darauf erhalten.
Sie überlegte dauernd, wie sie ihn loswerden könnte, da Warwick und Amarin jeden Augenblick die Treppe herunterkommen konnten.
»Wo ist denn eigentlich die Prinzessin jetzt?« erkundigte sich Ronnie.
Plötzlich kam ihr ein guter Gedanke, und sie sah eine Rettung aus ihrer schwierigen Lage.
»Sie ist heute abend zur Predigt des Oberpriesters in den Haupttempel gegangen. Wahrscheinlich ist sie noch dort. Sie können sie treffen, wenn sie in den Tempelhof gehen und vor dem östlichen Mittelportal warten, bis die Predigt zu Ende ist.«
»Dauert Sie noch langet« fragte er Sofort interessiert. »Wann mag Sie wohl zu Ende sein?«
»Sie kann nicht mehr lange dauern – vielleicht noch zwanzig Minuten«, log Me Kam. »Es ist aber auch möglich, daß sie gleich zu Ende ist«, fügte sie schnell hinzu, als sie sah, daß Ronnie noch bleiben und die Unterhaltung fortsetzen wollte.
Er stürzte davon, und sie lachte leise hinter ihm her. Hoffentlich fiel es ihm nicht ein, in den Tempel selbst hineinzugehen. Aber bei den vielen Zuhörern würde er nicht entdecken, daß Amarin nicht mehr dort weilte. Für eine halbe Stunde war sie ihn nun wenigstens los.
Die beiden Glücklichen schienen oben auf der Terrasse jeden Begriff für Zeit verloren zu haben. Um so mehr mußte Me Kam auf der Hut sein und für ihre Herrin aufpassen. In einem Tempel durften sich die beiden nicht wieder treffen, denn das war zu gefährlich. Angestrengt dachte sie über eine andere Lösung nach, und schließlich sah sie auch eine Möglichkeit.
Ihre Gedanken und Überlegungen beschäftigten sie so stark, daß ihre Wachsamkeit nachließ. Sie bemerkte daher die unheimlichen Gestalten nicht, die sie schon vorher erschreckt hatten. Sie sah die beiden Männer erst, als sie dicht vor ihr standen. Sie trugen weder Schuhe noch Hüte und waren, soweit es Me Kam im Halbdunkel beurteilen konnte, ärmlich gekleidet.
Zuerst war sie vom Schrecken wie gelähmt. Merkwürdigerweise wurde sie auch jetzt nicht von ihnen entdeckt. Als sie sich etwas gefaßt hatte und wieder sprechen konnte, waren sie an ihr vorübergegangen und stiegen schon die ersten Stufen der Treppe hinauf. Nun mußte sie handeln.
»Holla, was wollt ihr beiden Naklengs denn dort oben?« fragte sie kurz entschlossen und trat mutig einige Schritte vor. »Soll euch der Mond da oben auf den Schädel scheinen und euch das bißchen Verstand wegnehmen, das ihr noch habt?«
Die beiden lachten und sahen sich nach Me Kam um.
Trotz ihrer einundvierzig Jahre war Me Kam nach siamesischen Begriffen noch eine hübsche Erscheinung.
Die Männer kamen auf sie zu, gingen auf ihre Scherzreden ein und schäkerten mit ihr. Der eine fragte sie sogar, ob sie ihn nicht für einige Tage heiraten wolle.
Me Kam nahm den groben Scherz nicht übel und gab ihm eine ebenso derbe Antwort.
Unglücklicherweise vergaß sie einen Augenblick die Vorsicht und schlug das rote Tuch zurück, so daß ihre goldenen Armspangen sichtbar wurden.
»Wer bist du denn, daß du soviel goldene Armbänder mit dir herumträgst?« fragte der eine verwundert, dann verständigte er sich blitzschnell mit seinem Kameraden, indem er ihn mit dem Ellbogen anstieß.
Die beiden kamen noch näher heran. Plötzlich stürzten sie sich auf die Frau und versuchten ihr die Schmuckstücke vom Körper zu reißen.
Me Kam war kräftig und wehrte sich durch Kratzen und Fußtritte, so gut sie konnte, aber den beiden starken Männern war sie nicht gewachsen.
In ihrer höchsten Not wußte sie sich nicht mehr zu helfen und stieß einen gellenden Hilferuf aus.
Sofort legte sich eine schwere Hand auf ihren Mund. Verzweifelt biß sie zu.
»Du gemeine Preta (Nachtgespenst)!« schrie der Mann, dessen Hand blutete, und schlug ihr fluchend mit der Faust ins Gesicht.
Im nächsten Augenblick blieb Me Kam der Atem fort, denn knochige Finger krampften sich um ihre Kehle.