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1

Mit weichem, melodischem Rauschen wiegten sich die Äste einer mächtigen Tamarinde im leichten Monsun, und daneben breiteten große Hibiskussträucher mit brennendroten Blüten ihre Zweige schützend wie zu einem Zelt.

Unter dem starken Baum saß ein Buddhamönch in dunkelgelbem Gewand und schaute mit verhaltenem Blick von der Höhe auf den See zu seinen Füßen nieder. Die kristallglatte Fläche strahlte das klare Silberblau des wolkenlosen Himmels um so leuchtender zurück, je näher sich die bewaldeten, düsteren Berge heranschoben. Traumhaft spiegelten sich die schimmernd weißen Klostergebäude mit ihren phantastischen Umrißlinien in den ruhigen Fluten.

Langgestreckte Grenzmauern, von heiligen Semazeichen bekrönt, dehnten sich am Ufer aus, und die schlanken Lotossäulen der weiten Wandelhallen strafften sich, um malerische Dächer mit reichem Ornament zu tragen, in dem sich in tropisch wuchernder Üppigkeit Darstellungen von Elefanten, Schlangenleibern, Dämonen, Drachenköpfen, Göttern und Heroen mit Blumen und Ranken verwoben.

Die Strahlen der späten Nachmittagssonne lagen über der alten Tempelstadt Kandy, und ringsum herrschte friedvolle Ruhe. Nur von der Küste kam eine erfrischende Brise und umspielte zart und kosend den siebenfachen, duftigen, blütenweißen Schirm, unter dem der Oberpriester in innerer Versenkung verharrte. An einer Kette aus starkduftenden, schneeigen Dok-Keo-Blumen war dieses Ehrenzeichen kunstvoll in den Ästen aufgehängt.

Plötzlich drang jedoch ein fremder Ton in die Harmonie dieser Stille; zuerst leise und fern, dann kühn und vorwärtsdrängend surrte der Propeller eines schlanken Flugzeugs, das unaufhaltsam seinem Ziel zustrebte.

Über die feingezeichneten, durchgeistigten Züge des Oberpriesters Somdet Akani legte sich ein Schatten, als ob er von innerer Unruhe gequält würde. Er sah empor und schaute dem Doppeldecker nach, der von Westen kam und langsam nach Osten entschwand.

Ja, von Westen stürmten die neuen Ideen heran, von Westen kamen die Vertreter der weißen Rasse, die mit ihrer technischen Überlegenheit und ihren neuen Erfindungen die Welt zu erobern suchten. Sie hatten keine Achtung vor der Tradition und den inneren organischen Zusammenhängen des Lebens mit den vier Weltrichtungen. Osten war die Gegend des Aufgangs, des neuerwachenden Lebens und der Geburt – im Westen aber verschwanden die Sonne und das Licht, er war das Symbol des Untergangs und des Sterbens. Sollte von Westen das Ende des buddhistischen Zeitalters kommen? War die Weltenwende hereingebrochen? Sollte tatsächlich die vieltausendjährige Kultur des Ostens dem Ansturm des Westens erliegen?

Somdet Akani senkte den Blick wieder und richtete seinen Willen darauf, aufs neue in tiefe Meditation zu versinken. Aber es gelang ihm nicht.

Auf dem Weg, der zu dem Sitz des Oberpriesters führte, erschien ein junger Tempelschüler, der es eilig zu haben schien. Hell leuchtete sein goldgelbes Gewand aus dem Dunkelgrün der Büsche.

Warum eilte der Nen herauf und störte die Ruhe? Sicher war etwas Besonderes geschehen. Somdet Akani hätte es gern gewußt – aber weltliche Neugierde sollte einen erfahrenen Maha aus der Gemeinde der Jünger Buddhas nicht beunruhigen. Wie kam es nur, daß er sich heute durch äußere Einflüsse in seinen religiösen Übungen stören ließ, daß seine Seele zur Sansara, dem Schein- und Trugbild der bunten Welt, niedergedrückt wurde? Sonst schwang sich doch sein Geist, frei von jeder irdischen Fessel, von einer Stufe der Kontemplation zur anderen, bis er die Vollkommenheit und höchste Vollendung des vierten Ihan erreichte...

Der Tempelschüler kam nur langsam näher, da sich der letzte Teil des Weges steil nach oben zog. Schwer atmend stand er jetzt auf der obersten Stufe der steinernen Treppe, die am Ende des Pfades angelegt war. Er schob das Gewand wieder über die rechte Schulter, die sich bei dem mühevollen Anstieg entblößt hatte, dann näherte er sich dem Oberpriester mit bescheiden zu Boden gesenktem Blick. Als er vor ihm stand, sank er mit unnachahmlicher Grazie in die Knie, legte die Hände zusammen, erhob sie zur Stirn und verneigte sich dreimal tief bis zur Erde.

Somdet Akani öffnete die Augen, die er während der Meditation halb geschlossen hatte, neigte leicht den Kopf und erwiderte den Gruß mit gefalteten Händen.

»Der Erhabene möge entschuldigen, daß ich von der Wohnstätte der Mönche heraufkomme zu seinem hohen Sitz unter dem siebenfachen Ehrenschirm und die köstliche Ruhe seiner Meditation störe. Aber ein besonderer Eilbote brachte eben dieses Schreiben aus Bangkok, der Hauptstadt des Königs von Siam, des obersten Buddhafürsten und des Herrn der weißen Elefanten.«

Bei diesen Worten überreichte der Tempelschüler Somdet Akani auf flach vorgestreckten Händen einen Brief, der in ein reichgesticktes, gelbseidenes Tuch eingeschlagen war.

Langsam löste sich die rechte Hand des Oberpriesters aus der durch Tradition geheiligten Meditationsstellung und nahm das Schreiben entgegen. Schon hob sich auch die Linke aus dem Schoß, aber dann hielt Somdet Akani in der Bewegung inne und gab den Brief zurück.

»Nen Vinai, öffne den Umschlag.«

Der Nen setzte sich mit untergeschlagenen Beinen in derselben Haltung wie der Oberpriester auf den Boden nieder. Da Somdet Akani öfter hier weilte, hatten ihm die frommen Laienbrüder des Klosters einen vergoldeten Sitz aus Teakholz errichtet, der mit einer Matte aus Reisstroh bedeckt war. Neben ihm standen eine Silberschale mit mehreren Geräten, eine Teekanne und eine Tasse, aus demselben edlen Metall getrieben. Wie ein Götterbild thronte der Oberpriester vor dem Nen, so daß durch den erhabenen Sitz auch rein äußerlich seine überragende Stellung zum Ausdruck kam.

»Lies das Schreiben vor«, sagte er freundlich.

»An Seine Heiligkeit den erhabenen höchsten Oberpriester des buddhistischen Ordens der Thammajut-Mönche, den Bewahrer und Erhalter der rechten und reinen Lehre Gautama Buddhas, den königlichen Prinzen Akani in Kandy auf der Insel Ceylon.

Gruß und Ehrerbietung zuvor dem Erhabenen von seiner Schwester, der Prinzessin Chanda Rajavong in Bangkok, der Stadt des großen Engels.«

Es folgten die feststehenden, langen Begrüßungsformeln, wie sie unter Persönlichkeiten hohen Ranges in Ostasien und besonders in Siam üblich sind.

Als schließlich der eigentliche Inhalt des Briefes begann, hob Somdet Akani fast unmerklich den Kopf.

»Deine Tochter, Prinzessin Amarin, ist vor einigen Tagen aus Europa hierher zurückgekehrt, nachdem ihre Ausbildung beendet ist. Es traf sich günstig, daß der siamesische Gesandte in Paris, Pia Sri Tamma Sasan, mit seiner Frau in besonderer Mission gerade über Amerika und Japan nach Hause reiste, so daß sich Amarin ihnen anschließen konnte.

Die Prinzessin ist schön geworden und erblüht wie eine goldene Lotosblume im Himapan, sie hat viele Länder gesehen und fremde Sprachen, Künste und Wissenschaften erlernt. Zur Vollendung ihrer Erziehung besucht sie jetzt in Bangkok den ehrwürdigen Abt des Klosters Bovoranivet, der sie in den Lehren des erhabenen Buddha unterweist. In den wenigen vergangenen Wochen hat sie schon große Fortschritte gemacht.

Besondere Freude aber erfüllt mein Herz, daß ich meinem erhabenen Bruder eine wichtige Nachricht von großer Bedeutung mitteilen kann. Der König hat in der letzten Zeit wiederholt mit mir über den Erhabenen gesprochen, und als wir gestern bei dem großen Fest im Tempel des Smaragdbuddhas das Wasser der Treue tranken, sagte er bedeutungsvolle Worte zu mir. Er erklärte, daß sich die alten Mißverständnisse wegen der Pariser Verhandlungen endlich aufgeklärt hätten, und daß der Erhabene nun vollkommen gerechtfertigt wäre...«

Abwehrend hob der Oberpriester die Hand und unterbrach den Tempelschüler, der in gleichmäßig singendem Ton vorlas.

»Es ist gut, Nen Vinai. Geh zur unteren Terrasse und warte dort, bis ich dich rufe.«

Wieder legte der junge Mönch die gefalteten Hände an die Stirn und verneigte sich dreimal so tief, daß er den Boden berührte. Dann machte er noch eine Verbeugung und entfernte sich mit gemessenen Schritten.

Fünf Jahre lang hatte Prinz Akani in stiller Zurückgezogenheit gelebt und sich durch Gebet und Meditation von allen äußeren Einflüssen abgeschlossen. Und nun kam wie ein Ruf aus der Welt des Trugs und Scheins dieser Brief, der die Vergangenheit wieder lebendig machte.

Rückschauend wandte Somdet Akani den Blick nach innen.

Wie sehr hatten die »Mißverständnisse«, die seine Schwester in dem Schreiben erwähnte, vor Jahren sein Leben verbittert!

Auch er hatte, wie alle anderen Prinzen des Königlichen Hauses, eine sorgfältige Erziehung erhalten und war in dem Glanz und der Pracht des Hofes aufgewachsen. Aber schon von früher Jugend an fühlte er sich zu Meditationen und stillen Betrachtungen hingezogen. Er mied die lauten, rauschenden und prunkvollen Feste und widmete schließlich sein Dasein ganz der Buddhareligion. Ähnlich wie Gautama Buddha entsagte auch er der Welt und wurde Mönch im Tempel Bovoranivet, in dem auch andere Angehörige seiner Familie längere oder kürzere Zeit zu frommen Übungen verweilten.

Er fühlte sich glücklich im Schutze des Klosters, und seine glänzende Begabung fiel bald auf. Mit der größten Auszeichnung bestand er alle Prüfungen in der heiligen Palisprache und erwarb schon in jungen Jahren den Titel eines Maha der höchsten Ordnung. Aber erst auf besondere Bitten seines Bruders, des Vaters des jetzigen Königs, verließ er mit sechsundzwanzig Jahren den Orden und trat in den diplomatischen Dienst.

Schon nach kurzer Zeit zeigten sich seine Klugheit und sein Takt auch in weltlichen Dingen, und bald wurde er Botschafter in Paris. Damit stand er auf dem wichtigsten Posten, den Siam damals im Ausland unterhielt. Mit Umsicht, Scharfblick und Geistesgegenwart verhütete er, daß Frankreich und England bei den diplomatischen Verwicklungen sein Vaterland gefährdeten, und nur seiner persönlichen Geschicklichkeit war es zu danken, daß Siam ein selbständiges Königreich blieb.

Aber nachdem er die Hauptgefahr abgewandt hatte, vergaß man seine Verdienste sehr bald. Sein Bruder, der große König Paramin, starb, und ein Neffe des Prinzen Akani kam auf den Thron. Eifersucht und Neid regten sich, andere strebten nach dem begehrenswerten Posten in Paris und stürzten Akani durch Verleumdungen. Vor sechs Jahren rief man ihn aus Frankreich ab und forderte ihn auf, sich in Bangkok vor dem König zu verantworten.

Diese bittere Erfahrung wurde zum Wendepunkt seines Lebens. Müde von all dem Hader und den Intrigen, blieb er auf der Rückreise in Ceylon, nahm wieder das gelbe Gewand, kehrte zu dem Gesetz Buddhas zurück und ging aufs neue ins Kloster.

In der ersten Zeit sehnte er sich oft nach Rechtfertigung, und in seinem Herzen brannte der Wunsch, daß die Wahrheit und seine Unschuld ans Licht kommen möchten. Aber allmählich überwand er den Ehrgeiz und fand Frieden und Ruhe in der Abgeschiedenheit seines Lebens.

Die Oberpriester von Ceylon beurteilten ihn richtig, und er stieg von Stufe zu Stufe. Vor einem halben Jahr war er höchster Oberpriester von Ceylon, dem alten Glaubensland der Buddhareligion, und damit das Haupt der südbuddhistischen Kirche geworden.

Es war nicht außergewöhnlich, daß man einen Siamesen zum höchsten geistlichen Würdenträger Ceylons wählte. Häufig wurden auch Ceylonesen Äbte in siamesischen Hauptklöstern, und es bestand von jeher ein reger Verkehr zwischen der Insel und dem hinterindischen Königreich. Der Überlieferung nach sollen die ersten buddhistischen Missionare aus Ceylon nach Siam gekommen sein.

Nicht wegen seiner königlichen Abstammung, sondern um seiner Persönlichkeit willen hatten die ceylonesischen Oberpriester Somdet Akani zu dieser hohen Stellung berufen.

Und jetzt, nachdem ihn Wunsch und Sehnsucht kaum noch berührten, kam die Rechtfertigung, auf die er früher so schmerzlich gewartet hatte.

Langsam öffnete er die Augen und las weiter.

»Der König erhofft nichts sehnlicher als die Rückkehr des Erhabenen in die Heimat. Er klagte über die Unzuverlässigkeit und Unfähigkeit der höchsten Beamten, und er würde sich freuen, wenn Prinz Akani sein hohes, kirchliches Amt niederlegen und den Posten eines Ministerpräsidenten von Siam annehmen würde. Wenn der Erhabene dies aber nicht mit seinen Pflichten gegen die Buddhareligion vereinbaren könne, möge er doch seinen Wohnsitz nach Bangkok, der Stadt des großen Engels, verlegen. der König würde sich glücklich fühlen, wenn er zu ihm als Oberpriester von Siam und der ganzen südbuddhistischen Kirche die Hände erheben dürfte, und wenn er in wichtigen Fragen den Rat des Erhabenen einholen könnte...«

Somdet Akani war weit vorgeschritten in der Erkenntnis, und das Schicksal hatte ihn gelehrt, daß alle irdischen Ehren und Würden eitel und vergänglich sind. Der Hauch eines schmerzlichen Lächelns glitt über seine ebenmäßig schönen Züge, als der Brief seiner Hand entsank.

Die Sonne zog auf ihrer Bahn weiter zum Westen und neigte sich zum Horizont. Die Zeit der Abendkühle brach an, die leichte Brise von Westen frischte auf und brachte lieblichen Wohlgeruch aus den Gärten von Peradenya.

Als sich Somdet Akani endlich aus seiner vorgebeugten Meditationsstellung aufrichtete, drang die mahnende Stimme der Glocken zu ihm herauf. Unten standen Tempeldiener mit nacktem Oberkörper und sehnigen Armen und schlugen mit schweren, gekrümmten Bambuswurzeln von außen an den Rand der gewaltigen Bronzeglocken, weit ausholend, wuchtig und in langen Abständen. Dann wurden die Schläge immer schneller und nahmen an Kraft ab, bis sie endlich in einem langen Wirbel verebbten.

Zum erstenmal seit langen Jahren kam dieser Ruf zum Abendgebet dem Oberpriester überraschend. Heute fehlte ihm die innere Ruhe, heute konnte er nicht im Haupttempel auf seinem hohen Thron zur Linken des großen, goldenen Buddhabildes die Versammlung der Mönche leiten und mit erhobener Stimme den Chorgesang beginnen...

»Nen Vinai!«

Der Tempelschüler erschien wieder, um das Gebot seines Meisters entgegenzunehmen.

»Geh zum Abt Rajakanat und sage dem Ehrwürdigen, daß er den Vorsitz beim Abendgebet führen möge. Ich habe meine Meditation noch nicht abgeschlossen und bleibe auf dem Berge. Später komme ich zum Kloster hinunter.«

Die Natur atmete auf nach der Sonnenglut des Tropentages, und die Vögel sangen und zwitscherten, während im Tal die gelbgekleideten Gestalten der buddhistischen Priester einzeln und in Paaren aus den Kudis, ihren Wohnungen, über die gepflasterten Straßen der Mönchsstadt zu dem Haupttempel pilgerten. Im Abendwind klangen die Glöckchen an den Kanten der Dächer fein und silbern wie an den Palästen der dreiunddreißig Götter im Dusitahimmel.

Von der Spitze des Berges sah man unten den großen Tempel mit den ausgedehnten Klostergebäuden und den Wohnungen für viele hundert Mönche. Der wohldurchdachte Plan der Bauten mit der strengen Durchführung der Achsen war genau zu erkennen. Wie bei den meisten buddhistischen Tempeln verlief auch hier die Hauptachse von Westen nach Osten, und alles gruppierte sich um das gewaltige Buddhabild aus Bronze, das auf einem Schlangenthron nach Osten schaute. Darüber erhob sich der Haupttempel, der Mittelpunkt der ganzen Anlage.

Die Tempelstadt mit ihren vielen Bauwerken und das Kloster bildeten eine Welt für sich, genau ausgerichtet nach den vier Ecken der Erde. Wenn sich die Sonne erhob, fielen ihre Strahlen durch das große Portal im Osten des Haupttempels und ließen die mächtige Goldstatue des Gautama Buddha in rötlichem Feuer erglühen.

Drei Mauern und Wandelgänge umgaben den Haupttempel, damit ihn die Gläubigen durch dreimaliges Umwandeln zur Rechten ehren konnten. Rechts vom Hauptbuddhabild, im Süden – der Gegend des Lebens –, lag die Wohnstadt der Mönche, im Westen, im Rücken des Buddhabildes – der Gegend des Untergangs und des verlöschenden Lebens –, sah man die Verbrennungsanlage für die Gestorbenen, und links, im Norden – der Gegend des Todes –, erhoben sich zahlreiche spitze, turmartige Grabmäler, in denen die Asche der toten Äbte und Mönche beigesetzt worden war. Dies entsprach genau dem Gang der Sonne, des Jahres und des Lebens.

In ewigem Kreislauf reihte sich Wiedergeburt an Wiedergeburt, bis der einzelne Mensch durch rechten Wandel auf dem achtteiligen Pfad Buddhas das Nirwana erlangte, die Erlösung aus der ewigen Verstrickung der Wiedergeburten.

Der Blick des Oberpriesters fiel auf einen großen, schneeweißen Prachediturm im Westen des Klosters, den die Strahlen der sinkenden Sonne in flammendes Rot hüllten. Diesen schönen Bau hatte Somdet Akani während der letzten Monate nach eigenen Plänen zu Ehren der Buddhareligion errichten lassen, und an diesem Morgen hatte er selbst die Weihe vollzogen. Weit und mächtig luden die Profile des Sockels aus, der die gewölbte Glocke, den Hauptteil des Gebäudes, trug. Hier hatte der Oberpriester mit eigener Hand die kostbaren, echten Buddhareliquien beigesetzt, die die Farbe vertrockneter Pikunblumen hatten und die er auf einer Pilgerfahrt aus den Tempelruinen von Nordindien geholt hatte.

Es war wie eine Ironie des Schicksals, daß ihn gerade an diesem Abend die Rückberufung an die Spitze der siamesischen Regierung erreichte, denn am Morgen hatte er alle seine prächtigen, mit Brillanten geschmückten Orden und Großkreuze und all die leuchtenden Seidenschärpen in einer Nische unter der Glocke des Prachedis eingemauert. Durch diese Handlung hatte er symbolisch zum Ausdruck gebracht, daß er der Welt für immer entsagen wolle.

Hellgrüne Lichter durchzogen in glühendem Farbenspiel das Purpurrot des Abendhimmels. In der kurzen Zeit vor dem Untergang der Sonne wirkte die wundersame Schönheit der Tropennatur wie ein phantastisches Märchenbild. Die Luft erschien durchsichtig und rein, und selbst ferne Orte und Städte rückten näher und zeigten sich dem Blick in eigenartiger Klarheit.

Der Nen mußte unten im Kloster angekommen sein, denn der Chorgesang der Mönche tönte herauf, getragen von der Fläche des Sees – uralte Sanskritworte, die schon vor Hunderten und Tausenden von Jahren die Buddhagemeinde täglich bei Auf- und Untergang der Sonne zum Preise des Vollendeten betete.

Immer berückender dufteten die Blüten, und da und dort tauchte aus dem Dunkel der Büsche und Sträucher das magisch phosphoreszierende Licht eines Glühkäfers auf. Die grauvioletten Schatten wurden tiefer, aber Somdet Akani bemerkte es nicht.

Die feierlichen Gebete der Mönche verhallten, und der leuchtende Tag erstarb. Die Dunkelheit brach herein, und Finsternis löschte die tanzenden Lichter auf den wildverschlungenen Goldornamenten der Tempeldächer aus.

Die große Stille der tropischen Nacht senkte sich über die Erde.

Und es war, als ob Mara, der böse Teufel, der Fürst der Hölle, an Akani heranträte und ihm alle Schätze der Welt und ihre Herrlichkeiten zeigte, wie er einst den erhabenen Gautama Buddha selbst versucht hatte.

Lange hatte der Erhabene als Aszet die Vollendung gesucht. Als Prinz im Palast seines Vaters hatte er sie nicht gefunden, und auch später nicht, als er in die Heimatlosigkeit hinauszog, um als Bettelmönch zu leben. Aber dann erlangte er in einer Nacht unter einem großen Feigenbaum die Erkenntnis von Gut und Böse, von Leben und Tod, von Werden und Vergehen. In jener Nacht wurde ihm der Urgrund aller Dinge klar, der Zusammenhang und die logische Verkettung von Geburt, Leben, Sterben, Tod und Wiedergeburt. Auch das Gesetz von Ursache und Wirkung erkannte er: daß Sehnsucht und Begierden, daß Haften an diesem Dasein nur neues Leiden erweckt, und daß alles Leben nur zum Leiden führt.

Als er sich dann zur höchsten Erkenntnis, dem Weg zur Befreiung vom Leiden, durchrang, wurde er der Buddha, und alle Himmel erdröhnten. Mara aber, der Böse, wußte, daß es mit seiner Herrschaft zu Ende sein würde, wenn der Erhabene die Menschheit durch seine Lehre erlöste. So trat er zu ihm und versuchte ihn.

Und auch Akani glaubte aus dem Dunkel der Nacht Maras betörende Worte zu hören:

»Bist du nicht ein Prinz aus dem Geschlecht der Mahachakri, der Königsfamilie von Siam, die von dem allgewaltigen, strahlenden Gott Wischnu selbst abstammt? Dich hat man in der höchsten Not gerufen, als alle anderen versagten, du hast dein Vaterland vor dem Zusammenbruch und dem Verderben bewahrt. Was wäre heute die Königsfamilie, was wäre ganz Siam ohne dich?«

Tief lagen die Schatten über Baum und Gebüsch, über Berg und Tal, und aus der Finsternis tönten die Stimmen der Tropennacht. Ein hastiges Rascheln, ein halberstickter Schrei – herrschte nicht überall Kampf, galt nicht immer das Recht des Stärkeren? War er, Prinz Akani, nicht der Stärkste von allen, die durch Abstammung ein Recht auf den Thron Siams hatten? Er allein konnte die großen Aufgaben lösen, die das Schicksal seinem Lande gestellt hatte.

Die Einwohner des heutigen Siam waren nur ein kleiner Teil der Thairasse. Viele ihrer Stämme standen unter englischer, französischer und chinesischer Herrschaft. War nicht er von der Vorsehung dazu auserwählt, alle Thaivölker unter dem Zepter einer buddhistischen Dynastie zusammenzubringen?

Was war aus dem Reich des großen siamesischen Königs Pra Ruang geworden, der im dreizehnten Jahrhundert fast alle Thaivölker geeint, dessen Macht sich auf die südliche Hälfte Jünnans und große Teile Sumatras und Javas erstreckt hatten? Schmachteten nicht viele Millionen Laoten unter französischer Herrschaft? Sandten nicht die unterworfenen Laosfürsten aus Französisch-Hinterindien jährlich heimliche Tributgesandtschaften an den König von Siam? Warteten nicht alle Völker im Südosten Asiens auf die Befreiung von den weißen Teufeln?

Mußte der Buddhismus unter der Knechtschaft fremder Staaten verkümmern? Leistete Prinz Akani seiner Religion nicht einen viel wertvolleren Dienst, wenn er wieder in die Welt zurückkehrte und sich eine äußere Machtstellung schuf, um Buddhas Lehre und die Gemeinde seiner Jünger zu schützen? Rechtfertigte das nicht die Flucht aus Buddhas Gesetz?

Mit angehaltenem Atem und ein wenig vorgebeugtem Oberkörper, unbeweglich wie eine Statue, saß der Oberpriester. Seine Hände ruhten im Schoß, die rechte lag flach in der linken. Seine Augenlider waren halb geschlossen, und er hatte den Blick nach innen gewandt.

Erst während der zweiten Nachtwache erhob er sich und stieg mit rüstigen Schritten zu Tal. In der großen Löwenstellung, in der auch schon der Vollendete geruht hatte, ließ er sich auf seinem Lager nieder und stützte den Kopf in die rechte Hand. Eine Lampe, deren Docht mit Kokosöl gespeist wurde, verbreitete nur spärliches Licht in dem einfachen Raum.

Nach hartem Widerstreit seiner Gedanken und Gefühle hatte sich Akani zu dem Entschluß durchgekämpft, auf Ceylon zu bleiben. Seine Lippen brannten, und er tastete nach der Schale kalten Tees, die neben seinem Lager stand. Eine köstlich kühle Nachtbrise wehte zum Fenster herein, milderte die Hitze und verscheuchte die in hohen Tönen summenden Moskitos.

Bei dem flackernden Schein des Lichtes las Akani den langen Brief seiner Tochter Amarin, der dem Schreiben seiner Schwester beigefügt war. Sechs Jahre lang hatte er sie nicht mehr gesehen, und er liebte sie sehr.

Welche Kämpfe und Irrungen mochten ihr in dieser Daseinsform noch bevorstehen? Wie gestaltete sich wohl ihr Schicksal? Würde auch sie das köstliche Nirwana erlangen, geläutert durch die Erkenntnis vom Leiden?

Aber für den Jünger Buddhas gibt es keine Familie. Er ist hinausgezogen aus der Heimat in die Heimatlosigkeit, und er darf selbst seiner nächsten und liebsten Angehörigen im Gebet nur wie aller anderen Menschen und der gesamten leidenden Natur gedenken.

*

Als Nen Vinai in der Mitte der dritten Nachtwache leise den Raum betrat, um neues Kokosöl auf die Lampe zu gießen, weilten die Gedanken des Oberpriesters nicht mehr bei Prinzessin Amarin oder der politischen Zukunft seines Landes. Er war den verführerischen Einflüsterungen des Bösen nicht erlegen und hatte sich wieder tief in die erhabene Lehre des Vollendeten versenkt.

Erst im Morgengrauen beendete er seine Meditation und legte das Haupt zu kurzer Ruhe auf die harte, hölzerne Stütze. Eine runde Vertiefung hielt den Kopf auch während des Schlafes, damit er nicht zur Rechten oder zur Linken sinken konnte, sondern stets in der vorgeschriebenen Richtung nach Osten gewandt blieb.


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