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Am 1. Mai. Abend.
Ich saß heute nachmittag draußen im Park in den warmen Sonnenstrahlen, die hell und lustig durch die noch kahlen Zweige der höheren Bäume und durch das mit zartem, frischem Grün bedeckte niedere Gesträuch fielen. Kinder mit Sträußen von Frühlingsblumen zogen an mir vorüber; ein Maikäfer, mit einem Zwirnfaden am Bein, hing schlaftrunken an einem Zweige mir zur Seite, und ein stubengesichtiger junger Mann, dem ein Buch hinten aus der Rocktasche guckte, grub sorgsam eine Pflanze aus. Es war ein prächtiger Frühlingsnachmittag. Da begannen auf einmal in der Stadt die Glocken zu läuten, den morgenden Sonntag zu verkünden, und wieder schwebte, von den »Himmelstönen« getragen, eine süße Erinnerung heran.
Es war auch ein erster Mai. Da war der Frühling gekommen mit jungem Grün, bauenden Schwalben und einem – Hochzeitstage in der alten, dunklen Sperlingsgasse. Sie hatten Blumen gestreut, und mit Blumen und Laubkränzen die Pfosten umwunden; sie hatten Sonntagskleider angezogen in der Sperlingsgasse, und alle hatten fröhliche, fröhliche Gesichter. Und der Himmel war blau, und die Sonne schien strahlend durch den Efeu, welchen vor so langen Jahren Marie Ralff im Ulfeldener Walde ausgegraben hatte; aber weder Himmelsblau noch Sonnenschein kamen an heiliger Reinheit dem Gesichtchen gleich, das sich an jenem ersten Mai an meine Schulter schmiegte und durch Tränen lächelnd zu mir aufschaute. Das Bild der Mutter sah aus seinem Rahmen und den Kränzen, die es heute umwanden, ebenfalls lächelnd auf uns herab. Lächeln, Lächeln überall! Und als das junge Herzchen an meiner Brust pochte, auf der andern Seite Gustav mir den Arm um die Schulter legte, als Helene weinend der jungen Braut den Kranz in die Locken drückte, da war es mir, als sei nun ein lange dunkles Rätsel gelöst, und ich senkte das Haupt vor der geheimnisvollen Macht, welche die Geschicke lenkt und ein Auge hat für das Kind in der Wiege und die Nation im Todeskampf. Wie die Fäden laufen mußten, um hier in der armen Gasse sich zusammenzuschürzen zu einem neuen Bunde! Wie so viele Herzen fast brechen wollten, um ein neues Glück aufsprießen zu lassen! Das ist die große, ewige Melodie, welche der Weltgeist greift auf der Harfe des Lebens und welche die Mutter im Lächeln ihres Kindes, der Denker in den Blättern der Natur und Geschichte wahrnimmt. –
Wir sprachen an jenem Tage nicht viel! Das Glück ist stumm, und was die Liebe – die wahre Offenbarung Gottes – sich zuflüstert, hat noch kein Dichter auf Papyrus, Pergament oder Papier festgehalten. Die kleine Kirche war gar feierlich heilig, als der junge Maler – er dachte in dem Augenblick gewiß nicht an sein gefeiertes Bild: Milton, den Galilei im Gefängnis zu Rom besuchend –, als der junge Maler seine schöne Braut hineinführte an den geschmückten, lichterglänzenden Altar. Und niemand fehlte in dem Kreise teilnehmender Gesichter umher! Da war das Atelier, da waren Elisens Freundinnen, da war vor allem die alte Martha und die Hausgenossenschaft und Nachbarschaft der Sperlingsgasse. Die Orgel begann den Choral – und die Jungfrau Elise Johanna Ralff und Herr Gustav Theodor Maximilian Berg wurden durch ein ganz leises, leises Ja und ein anderes viel lauteres auf eine gar verfängliche Frage Mann und Frau! –
Die Chronik der Gasse nähert sich ihrem Ende. Was sollte ich auch noch vieles erzählen? Unsere Kinder sind glücklich in dem schönen Italien; die alte Martha schläft nicht weit von Mariens Grabe auf dem Johanniskirchhofe; ich bin alt und grau. Wenn ein Paket von Rom gekommen ist, so gehe ich hinüber zu der freundlichen, schönen, weißhaarigen Frau, die da drüben in Nr. zwölf gewöhnlich strickend am Fenster sitzt, und unsere alten Herzen schlagen höher bei dem frischen Lebensglück, welches uns aus den engbeschriebenen Bogen entgegenleuchtet. Wir folgen den Kindern durch alle die alten und neuen Herrlichkeiten, wir stehen mit ihnen vor dem Laokoon, wir steigen mit ihnen zum Kapitol hinauf, unsere Schritte hallen an ihrer Seite in den Sälen des Vatikans, in den Loggien Raffaels wider. Wie eine reizende Märchenarabeske ist jeder Brief: blauer Himmel und Sonne und ein fröhliches Lachen auf jeder Seite!
Es ist spät in der Nacht, als ich dieses schreibe; tiefe Dunkelheit herrscht in der Gasse; kein einziges erhelltes Fenster ist zu erblicken. Der einzige Laut, den ich vernehme, ist das Schlagen der Turmuhren oder der Pfiff des Nachtwächters. Da liegen alle die bekritzelten Bogen vor mir – bunt genug sehen sie aus! –
Was sollte ich noch viel hinzufügen? Wenn die alten Chronikenschreiber ihre Aufzeichnungen bis zu ihren Tagen fortgeführt und ihr Werk beendet hatten, hefteten sie noch einige weiße Bogen hinten an, damit der künftige Besitzer die »wenigen« Ereignisse, welche vor dem Untergang der Welt noch geschehen würden, darauf nachtragen könne. Das nachzuahmen habe ich nicht im Sinn. Diese Erde wird sich noch lange drehen, in dieser engen Gasse wird noch manches Kind geboren werden, manche Leiche wird man hinaustragen und unter den letzteren vielleicht in nicht langer Zeit auch den, welchen sie Johannes Wachholder nannten. – Was die paar Tage, die mir noch übrig sind, bringen werden, will ich in Ruhe erwarten; viel Neues können sie mir nicht zeigen. –
Ich öffne das Fenster und blicke in die dunkle, stille, warme Nacht hinaus. Hier und da flimmert ein einsamer Stern an der schwarzen Himmelsdecke. Wie feierlich der Glockenton in der Nacht klingt! Zwölf Uhr. In wieviel Träume mag sich dieser Schall verschlingen? Der grübelnde Gelehrte wird von seinem Buche verwirrt aufsehen, das junge Mädchen wird von Tanz- und Ballmusik träumen, der arme Kranke wird von dem kommenden Tage Genesung erflehen, die Mutter wird im Schlaf ihr kleines Kind fester an sich drücken, und der Herrscher, die Stirn wund vom Druck einer Krone des Zeitalters der Revolution, wird das Haupt in die Kissen senken und seufzen: Ein neuer Tag! –
Meine Lampe flackert und ist dem Erlöschen nahe. Mit müder Hand schließe ich das Fenster und schreibe diese letzten Zeilen nieder:
Seid gegrüßt, alle ihr Herzen bei Tage und bei Nacht; sei gegrüßt, du großes, träumendes Vaterland; sei gegrüßt, du kleine, enge, dunkle Gasse; sei gegrüßt, du große, schaffende Gewalt, die du die ewige Liebe bist! – Amen! Das sei das Ende der Chronik der Sperlingsgasse! – –