Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Am 5. Dezember.

Meinem Versprechen gemäß hatte ich der Redaktion der Welken Blätter – Wimmerianischen Angedenkens – einige der Federzeichnungen meines Nachbars Strobel vorgelegt und konnte heute schon ihm seine Aufnahme unter die Zeichner jenes witzigen Journals ankündigen. Da ich seine Nase hinter den Scheiben seiner Fenster einige Male hatte hervorlugen sehen, so machte ich mich auf den Weg hinüber zu meiner alten Wohnung, in der ich, seit ich sie verlassen, so viele ein- und ausziehen gesehen habe.

Die dicke Madam Pimpernell hat es aufgegeben, in eigener, gewichtiger Person über den Vorräten des Viktualienladens zu thronen, sie hat sich in einen gewaltigen, ausgepolsterten Lehnstuhl hinter dem Ofen zurückgezogen, von wo aus sie oft genug Dorette – auch Rettchen genannt –, ihre hagere Tochter und Nachfolgerin im Reich der Käse, der Butter und der Milch, zur Verzweiflung zu bringen vermag.

Das mittlere Stockwerk des Hauses Nr. elf steht augenblicklich leer, indem nach heftigen Kämpfen mit dem Parterre, treppauf und -ab, die letzten Einwohnerinnen: die verwitwete Geheime Oberfinanzsekretärin Trampel und ihre zwei sehr ältlichen und sehr ansäuerlichen Töchter Heloise und Klara – Öllise und Knarre von der Madam Pimpernell genannt –, abgezogen sind. Klavier, Harfe und Gitarre, die drei Marterinstrumente der Sperlingsgasse, nahmen sie glücklicherweise mit, sowie auch den edlen Kater Eros und den ebenso edlen, schiefbeinigen Teckelhund Anteros – Geschenke eines neuen und doch schon antediluvianischen Abälards und Egmonts.

Wie oft bin ich einst diese steilen, engen Treppen hinauf- und hinabgeklettert, jetzt einen Haufen Bücher unter dem Arm, jetzt einen, wie ich glaubte, Furore machen sollenden Leitartikel in der Rocktasche. Wie oft haben Mariens kleine Füße diese schmutzigen Stufen betreten, wenn sie mit Franz zu einem prächtigen Teeabend kam, dem ich immer mit so untadelhafter, hausväterlicher Würde vorzustehen wußte! Wie ich dann ihr helles Lachen, welches die feuchten, schwarzen Wände so fröhlich wiedergaben, erwartete; wie sie so reizend über meine verwilderte Stube spötteln konnte und dann trotz aller meiner vorherigen stundenlangen Bemühungen erst durch fünf Minuten ihrer Anwesenheit einen menschlichen Aufenthaltsort daraus machte! Wie ich dann später von der kleinen Quälerin gezwungen wurde, eine unglückliche Flöte hervorzuholen und steinerweichend eine klägliche Nachahmung von »Guter Mond, du gehst so stille« hervorzujammern, bis Franz Einspruch tat oder mir der Atem ausging oder der kleinen Tyrannin die Kraft zu lachen! Es waren selige Abende, und ich nahm das Andenken daran mit hinauf bis zur Tür des Zeichners. Auf mein Anklopfen erschallte drinnen ein unverständliches Gebrumme; ich trat ein.

Manche Junggesellenwirtschaft habe ich kennengelernt und kann viel vertragen in dieser Hinsicht. Den Doktor Wimmer, den Schauspieler Müller, den Musiker Schmidt, den Kandidaten der Theologie Schulze habe ich in ihrer Häuslichkeit gesehen, von meiner eigenen Unordnung nicht zu sprechen, aber eine solche malerische Liederlichkeit war mir doch noch nicht vorgekommen. Eine Phantasie, durch Justinus Kerners kakodämonischen Magnetismus in Verwirrung geraten, könnte – gefroren, versteinert, verkörpert in einem anatomischen Museum ausgestellt – keinen tolleren Anblick gewähren! Auf einem unaussprechlich lächerlichen Sofa, viel zu kurz für ihn, lag, den Kopf gegen die Tür, die Beine über die Lehne weggestreckt und die Füße gegen die Fensterwand gestemmt, der lange Zeichner, die Zigarre, die große Trostspenderin des neunzehnten Jahrhunderts, im Munde, ein Zeichenbrett auf den Knieen und den Stift in der Hand. Ein dreibeiniger Tisch, der ohne Zweifel einst unter die Quadrupeden gehört hatte, war an diese Lagerstatt gezogen; ein leerer Bierkrug, eine halbgeleerte Zigarrenkiste, Tuschnäpfchen, bekritzelte Papiere und andere heterogene Gegenstände bedeckten ihn im reizendsten Mischmasch. Drei verschieden gestaltete Stühle hatte die »Bude« aufzuweisen; der eine aus der Rokokozeit diente als Bibliothek, der andere, ein grünangestrichener Gartenstuhl, verrichtete die Dienste eines Kleiderschranks und der dritte, von dessen früherem Polster nur noch der zerfetzte Überzug herabhing, war, o horror! – zur – Toilette entwürdigt, und ein Waschnapf, Seife, Kämme und Zahnbürsten machten sich viel breiter auf ihm, als irgend nötig war. In einer Ecke des Zimmers lehnte der Ziegenhainer des wanderlustigen Karikaturenzeichners, und auf ihm hing sein breitrandiger Filz. In einem andern Winkel hing eine umfangreiche Reisetasche, und die Wände entlang war mit Stecknadeln eine tolle Zeichnung neben der andern festgenagelt. Das Ganze ein wahres Pandämonium von Humor und skurrilem Unsinn.

»Ah, mein Nachbar!« rief Meister Strobel, bei meinem Eintritt von seinem Sofa aufspringend, mit der einen Hand das Zeichenbrett fortlehnend, mit der andern den wackelnden Tisch am Fallen hindernd. »Das ist sehr edel von Ihnen, daß Sie meinen Besuch so bald erwidern; seien Sie herzlichst gegrüßt und nehmen Sie Platz!« Mit diesen Worten ließ er die Last des Bibliothekstuhls zur Erde gleiten und zog ihn an den Tisch, von dem er ebenfalls die meisten Gegenstände an beliebige Plätze schleuderte.

»Ich bin gekommen, Ihnen mitzuteilen, Herr Strobel, daß Ihre Blätter großen Anklang bei der Redaktion der ›Welken Blätter‹ gefunden haben und daß dieselbe stolz sein wird, Sie unter ihre Mitarbeiter zu zählen.«

»Sehr verbunden«, sagte der Zeichner, der sich auf mysteriöse Weise eben am Ofen beschäftigte, »bitte, nehmen Sie eine Zigarre und erlauben Sie mir, Ihnen eine Tasse Kaffee anzubieten.«

Er sah und roch in einen sehr verdächtig aussehenden Topf, den er aus der Ofenröhre nahm. – »O weh«, rief er, während ich alle Heiligen des Kalenders anrief, »die Quelle ist versiegt!«

»Bitte, machen Sie keine Umstände, Ihre Zigarren sind ausgezeichnet!«

»Ja«, sagte Strobel, sich nun wieder auf sein Sofa setzend, »das ist der einzige Luxus, den ich nicht entbehren könnte, und ich preise meinen Stern, der mich in einer Zeit geboren werden ließ, wo man die Redensart ›Kein Vergnügen ohne die Damen‹ in die jedenfalls passendere ›Kein Vergnügen ohne eine Zigarre‹ umgeändert hat.«

»Sind Sie ein solcher Weiberfeind?«

»Keineswegs; im Gegenteil, ich beuge mich ganz und gar dem französischen Wort ›Ce que femme veut, Dieu le veut‹ und ziehe – deshalb gerade – die nicht so anspruchsvolle Zigarre vor, die für uns glüht, ohne das gleiche zu verlangen, die interessant ist, ohne interessiert sein zu wollen, und so weiter, und so weiter!«

»Sie sind wirklich ein echtes Kind unserer Zeit, die durch zu viele und zu verschiedenartige Anspannungen im ganzen bei dem einzelnen das Gehenlassen, die Athaumasie, die Apathie zur Gottheit gemacht hat.«

»Puh«, sagte der Zeichner, eine gewaltige Dampfwolke fortblasend, »ich konnt's mir denken, da sind wir schon in einem solchen Gespräche, wie sie alles Zusammenleben jetzt verbittern; übrigens ist unsere Zeit durchaus nicht apathisch, aber der einzelne fängt an, das wahre Prinzip herauszufinden, daß nämlich die Sache durch die Sache gehen muß. – Nicht jeder erste und taliter qualiter beste soll sich fähig glauben, den Wegweiser spielen zu können, den Arm ausstrecken und schreien: Holla, da lauft, dort geht der rechte Weg, dorthin liegt das Ziel!«

»Und die seitwärts abführenden Holzwege? ...«

»Laufen alle der großen Straße wieder zu, nachdem sie an irgendeiner schönen, merkwürdigen, lehrreichen Stelle vorübergeführt haben. Ich, der Fußwanderer, habe nie so viel Erfahrungen für den Geist, so viel Skizzen für meine Mappe heimgebracht, als wenn ich mich verirrt hatte.«

»Sie müssen ein eigentümliches Leben geführt haben und führen!« sagte ich, den sonderbaren Menschen vor mir ansehend. Er strich mit der Hand über das sonnverbrannte, verschrumpfte Gesicht und lächelte.

»Ein Leben, das gern auf Irrwegen geht, ist stets eigentümlich!« sagte er. »Übrigens wird jeder Mensch mit irgendeiner Eigentümlichkeit geboren, die, wenn man sie gewähren läßt – was gewöhnlich nicht geschieht –, sich durch das ganze Leben zu ranken vermag, hier Blüten treibend, dort Stacheln ansetzend, dort – von außen gestochen – Galläpfel. Was mich betrifft, so bin ich von frühester Jugend auf mit der unwiderstehlichsten Neigung behaftet gewesen, mein Leben auf dem Rücken liegend hinzubringen und im Stehen und Gehen die Hände in die Hosentaschen zu stecken. Sie lächeln – aber was ich bin, bin ich dadurch geworden.«

»Ich lächelte nur über die Richtigkeit Ihrer Bemerkung. Wir alle sind Sonntagskinder, in jedem liegt ein Keim der Fähigkeit, das Geistervolk zu belauschen, aber es ist freilich ein zarter Keim, und das Pflänzchen kommt nicht gut fort unter dem Staub der Heerstraße und dem Lärm des Marktes.«

»Holla«, rief der Zeichner, plötzlich aufspringend und nach dem Fenster eilend, »sehen Sie, welch ein Bild!«

In der Dachwohnung über der meinigen drüben hatte sich ein Fenster geöffnet. Die kleine Ballettänzerin, welche dort wohnt, ließ ihr hübsches Kindchen nach den leise herabsinkenden Schneeflocken greifen. Das Kind streckte die Ärmchen aus und jubelte, wenn sich einer der großen weißen Sterne auf seine Händchen legte oder auf sein Näschen. Die arme, ohne die Schminke der Bühne so bleiche Mutter sah so glücklich aus, daß niemand in diesem Augenblick die traurige Geschichte des jungen Weibes geahnt hätte.

»Ich habe auf Ihrem Schreibtische Blätter gesehen mit der Überschrift: Chronik der Sperlingsgasse«, sagte Strobel; »das Bild da drüben gehört hinein, wie es in meine Skizzenmappe gehört.«

»In meinen Blättern würde es eine dunkle Seite bilden«, antwortete ich, »und die Chronik hat deren genug. Wie wär's aber, wenn Sie Mitarbeiter dieser Chronik der Sperlingsgasse würden; Sie haben ein gar glückliches Auge!«

»Glauben Sie?« fragte der Karikaturenzeichner, der den Kleiderschrankstuhl an das Fenster gezogen hatte und emsig auf einem Papier kritzelte. »Sie wollen keine dunkeln Blätter; – kennen Sie vielleicht die Geschichte jenes englischen Zerrbildzeichners, der vor dem Spiegel an seinem eigenen Gesichte die Fratzen der menschlichen Leidenschaften studierte?«

»Nein, ich kenne die Geschichte nicht. Was ward mit ihm?«

»Er – schnitt sich den Hals ab«, sagte der Zeichner dumpf, seine vollendete Skizze fortlegend.

Verwundert schaute ich auf. Das Gesicht Strobels hatte einen Ausdruck von Trübsinn angenommen, der mich fast erschreckte. Er sprach nicht weiter, und es trat eine Pause ein, während welcher drüben das Kind lachte und jubelte und die Tänzerin den Spatzen, die sich zwitschernd auf die Dachrinne setzten, Brotkrumen streute. Ich sah, daß der Zeichner allein sein wollte, und ging; der sonderbare Mensch begleitete mich bis zur Treppe. Dort sagte er, mir die Hand drückend und lächelnd:

»Ich will aber doch Mitarbeiter Ihrer Chronik werden, Signore!«

So endete mein erster Besuch bei dem Karikaturenzeichner Ulrich Strobel.


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