Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Am 11. Januar.

Wie der Efeu aus dem Ulfeldener Walde höher und höher hinaufsteigt an der Wand des Fensters, geküßt von der warmen Sonne, getränkt von kleinen, sorgenden Händen, welche alle verwelkten gelben Blätter abpflücken, daß die Pflanze immer frisch und jung dastehe! Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate, aus Monaten Jahre, und das junge Menschenkind wächst und entfaltet sich schöner und blühender als die köstlichste, wundersamste Pflanze. Die alte Martha wird immer älter und gebückter, und graues Haar mischt sich mehr und mehr unter mein braunes. Zum erstenmal ist der Tod an mein Kind herangetreten. Es hat über der ersten Leiche geweint. Der hübsche, goldgelbe Kanarienvogel, der so zahm und lieb war, lag eines Morgens kalt und erstarrt auf dem Boden seines kleinen Hauses.

So fand ihn Elise und schrie auf, nahm ihn in ihre Hände, hauchte ihn an und suchte ihn zu erwärmen – ach, armes Kind: die Toten kommen nicht wieder!

Leg ihn nieder, deinen kleinen Freund; auch dir jungem Wesen ist es jetzt schon nicht mehr vergönnt, zu klagen und zu trauern, wie du wohl möchtest; auch dich hat das Leben jetzt schon erfaßt und in seine Wirbel gezogen; – gehe hin mit deinem gedrückten kleinen Herzen – daß du die Schule nicht versäumst! – Elf Jahre alt ist mein Kind jetzt in den Blättern der Chronik. Das runde Gesichtchen zieht sich schon mehr und mehr zu jenem Oval, welches das Bild dort an der Wand so lieblich macht; aus Lieschens Kinderstimme klingt mir nun oftmals – wenn sie sich wundert, sich freut oder klagt – ein Ton entgegen, der mich fast erschreckt auffahren läßt. Es ist derselbe Ausruf, den sie an sich hatte! Wer hat ihn dich gelehrt, kleines Herz? Diesen Ton, den ich für ewig verklungen hielt und welcher jetzt nach so langen Jahren wieder frisch und lebendig wird?

Weine nicht mehr, Lieschen, sieh, ich will dich an ernstere Gräber führen, draußen vor der Stadt. Da wollen wir uns hinsetzen unter die blühenden Rosenbüsche und denken, daß die Welt so groß, so unendlich groß sei und doch nichts darin verlorengehe! Da wollen wir auch dem toten Vogel sein kleines Grab graben und uns vorstellen, daß im nächsten Frühlinge aus seinem Leibe eine hübsche goldgelbe Blume aufsprießen werde: zur Freude des bunten, winzigen Schmetterlings und des großen, ewigen Gottes.

Stecke dein Butterbrod in deine Korbtasche, Lieschen (wenn du es heute vielleicht auch verschenken wirst) – gib mir einen Kuß und grüße den Herrn Lehrer Roder. Du kannst ihn auch fragen, ob er nicht morgen am Sonntag mit uns hinausgehen wolle in den Wald und vielleicht noch weiter.

Lieschen nickte und ging – noch immer schluchzend; ich aber machte mich auf den Weg zur Expedition der ›Welken Blätter‹ ohne eine Ahnung von dem neuen tragischen Ereignis, welches den Tag noch wichtig machen sollte.

Mohrenstraße Nr. 66 war damals schon und ist auch heut noch das Büro dieses bekannten Blattes. Ich hatte bald meine Geschäfte abgemacht mit dem Hauptredakteur, dem Doktor Brummer, einem kleinen, quecksilbrigen Individuum mit goldener Brille und roter Perücke – jetzt lange tot – und schwatzte noch mit den anwesenden Journalisten und den Künstlern beiderlei Geschlechts, die gelobt sein wollten, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und der Doktor Wimmer erschien, begleitet von dem uns nur zu wohl bekannten dicken, hochrotgesichtigen Polizeikommissar Stulpnase. Da sie miteinander eintraten, war es nicht ausgemacht, wer von beiden den andern eigentlich mitschleppe.

»Meine Herren«, schrie, einen gestempelten Bogen schwingend, der Doktor, »ausgewiesen!«

»Ausgewiesen!?« ertönte es im Chor verwundert und fragend.

»Auskewiesen? Was das sein, Signore dottore?« fragte Signora Lucia Pollastra, die jüngst angekommene Baßsängerin.

»Ausgewiesen – ausgewiesen – das heißt – cela veut dire: – eliminito!« sagte der Hauptredakteur, der alle Sprachen zu kennen glaubte.

»Dio mio!« rief die Sängerin, die so klug als zuvor war.

»Sehen Sie, Wimmer, ich hab's mir gleich gedacht!« schrie eine feine sächsische Stimme, die dem zweiten Redakteur Flußmann aus »Dresen« zugehörte, – »wie konnten Sie aber auch das schreiben?«

Der Journalist nahm die letzte Nummer der ›Welken Blätter‹ und las:

... Und wenn alle Esel dieser Maßregel Beifall brüllen sollten: ich kann sie nur »bewimmern«!

- »Und er hatte seinen Lohn dahin und wurde selbst gemaßregelt!« sagte der Doktor, welcher sehr gemütlich, den Hut auf einem Ohr, die Zigarre im Munde, auf einem hohen Dreibein saß.

»Ich hätte das deinetwegen schon nicht aufnehmen sollen, Wimmer!« sagte Brummer.

»Dann hättest du ja selbst unter die Beifallsbrüller gehört, Alter!«

Jetzt mischte sich aber die hohe Polizei ein, welche bis dahin stillgeschwiegen und nur mit Würde geschnauft hatte.

»Also in vierundzwanzig Stunden, Herr Doktor« ...

»Habe ich das Nest hinter mir, Edelster! Seien Sie unbesorgt!« lachte der Doktor. »Aber halt, Verehrtester, würden Sie mir vielleicht wohl erlauben, Ihnen jetzt noch eine kleine Rede zu halten? – Fritze, Lümmel! Gib dem Herrn Kommissar einen Stuhl!«

Fritze, der unendlich selig grinste, kam dem Gebote nach; die Polizei ließ sich schnaufend nieder, und ihr Opfer – begann:

»Ich habe in Jena studiert, Herr Polizeikommissarius. Das ist eine allgemeinhistorische Tatsache, aber es knüpft sich Bemerkenswertes daran. Damals gab es dort einen raffiniert groben Philister, Deppe genannt, der alle Augenblicke eine sehr drastische Redensart herausdonnerte, überigens aber der Gott aller der wilden Völkerschaften: Vandalen, Hunnen, Alanen, Viso- Mäso- und Ostrogoten usw. usw. war. Verehrtester Herr Kommissarius, der deutsche Student, viel zu zartfühlend, viel zu sehr von Albertis Komplimentierbuch angekränkelt, konnte unmöglich diese Redensart adoptieren. Ebensowenig aber konnte er auch den Effekt derselben auf Pedelle, Manichäer und dergleichen Gesindel entbehren. Was tat er? – Er deckte Rosen auf den Molch und sagte: Deppe! – Deppe überall! Deppe konnte jeder Rektor magnificus, Deppe jeder Professor, Deppe jede Professorentochter sagen. Also, Herr Polizeikommissarius: Deppe! – 'n Morgen, meine Herren! Addio, Signora Pollastra, brüllen auch Sie wohl! Ich muß packen!«

Damit erhob sich der Doktor der Philosophie Heinrich Wimmer und verließ das Expeditionszimmer der ›Welken Blätter‹, um es nie wieder zu betreten.

Nie aber habe ich ein solches Gesicht wiedergesehen als das des edlen Stulpnase. Sprachlos saß er da; auf einmal aber sprang er auf, stülpte den Dreimaster über und schrie:

»Man soll ja nicht denken, seinen Spaß mit einer hohen Behörde treiben zu können!« Damit stürzte auch er fort.

»Wenn er nur nicht herausbringt, was Deppe heißt!« sagte der Hauptredakteur unter dem unendlichen Gelächter der Redaktion und der Anwesenden, und die Versammlung löste sich auf. –

Nach Hause zurückgekehrt, traf ich die kleine Liese, die bereits aus ihrer Schule heimgekommen war, über einer bunten Pappschachtel an, in welche Martha den Vogel gelegt hatte. Den Doktor hörte ich drüben gewaltig rumoren, und von Zeit zu Zeit erschien er am Fenster, blies eine Rauchwolke zum blauen Sommerhimmel hinauf oder pfiff eine Passage aus dem östreichischen Landsturm, seinem Lieblingsstück. Der kleinen Liese sagte ich von dem Schicksal ihres dicken Freundes noch nichts; ich wollte ihr das Herz nicht noch schwerer machen. Mittags konnte sie schon so vor Betrübnis nichts essen, obgleich sie ihr Butterbrot richtig weggeschenkt hatte. Alle Augenblicke richteten sich ihre Augen auf die bunte Schachtel, worin das tote Tier lag.

Am Abend begruben wir es unter dem blühenden Rosenstrauch zu den Füßen der Gräber von Franz und Marie. Die roten Abendwolken segelten über uns weg, die Rosen dufteten so herrlich, überall Licht und Blumen. Ich saß auf dem Bänkchen neben den Gräbern; Elise hatte ihr Köpfchen an meine Brust gelegt, sie hatte sich so müde getrauert, daß sie – o glückliche Kindheit! – die Augen schloß und einschlummerte.

Eine schöne, ältere, bleiche, schwarzgekleidete Dame kam und kniete an einem einfachen Denkmale nieder; arme Kinder legten, weiter weg an der Kirchhofsmauer, Waldblumenkränze auf das Grab des toten Vaters; ein Greis schritt gebückt unter den Steinen und Kreuzen umher, die Aufschriften lesend.

In der Stadt verkündeten alle Glocken den morgenden Sonntag; voll und rein wogten die feierlichen Klänge, die in den Straßen im Rollen und Rauschen der Arbeit ersticken, über diese stille Welt hinweg. Immer goldner glänzte der Himmel im Westen, immer tiefer sank die Sonne dem Horizont zu. Nacht ward's auf der einen Hälfte dieses drehenden Balles, während auf dem großen Atlantischen Ozean vielleicht eben ein Schiff, dem jungen Amerika entgegensegelnd, die Sonne aufsteigend begrüßte. Vielleicht ist es nur ein Schiff, das jetzt im jungen Tage segelt, während hier die Nacht sich über so viele Millionen legt. Dort steht der Führer auf dem Verdeck, das Fernrohr in der Hand; im Mastkorb schaut ein freudiges Auge nach dem ersehnten Lande aus, überall Leben und Bewegung. – Hier zündet der einsame Denker seine Lampe an und schlägt die Bücher der Vergangenheit auf, die Zukunft daraus zu enträtseln, und findet vielleicht, daß die Nacht, die auf den Völkern liegt, ewig dauern wird, in demselben Augenblick, wo auf jenem einsamen Schiff der Willkommenschuß donnert, »Amerika!« die zu dem Schiffsrand stürzende Auswandrerschar ruft und eine Mutter ihr kleines, lächelndes Kind in die Morgensonne und dem neuen Vaterland entgegenhält!

Das Gras fängt an, feucht zu werden, ich muß meine kleine Schläferin aufwecken. Die bleiche Frau erhebt sich ebenfalls; sie kommt auf uns zu. Wir kennen uns nicht; aber hier auf dem Kirchhof scheut sie sich nicht, sich über mich und das schlummernde Kind zu beugen. »Lassen Sie mich die Kleine küssen!« sagt sie.

Ich sehe sie unter den Bäumen verschwinden, ein Tuch vor den Augen.

Elise erwacht: »O wie schön!« ruft sie, in die Glut des Abends schauend.

»Gute Nacht, Franz! Gute Nacht Maria!«

Holla! Was ist in der Sperlingsgasse los? Als wir nach Haus kommen, herrscht ein Tumult darin, wie ich ihn noch nie darin erlebt habe. In allen Haustüren schwatzende Gruppen, jede Arbeit eingestellt: Salatwaschen, Schuhflicken, Strümpfestopfen, Hämmern, Sägen, Federkritzeln, alles ins Stocken geraten, nur nicht – die Zungen!

»O je, o je, Herr Wachholder, sehen Sie mal da oben!« schreit Martha, die auf der Treppe unserer Haustür, umgeben von einem Kreis Nachbarinnen, Posto gefaßt hat, mir schon von weitem zu.

»Was gibt's denn, Martha? was ist los?« rufe ich ihr entgegen.

»Der Herr Doktor Wimmer ist los!« jubeln zwanzig Stimmen um mich her, und zwanzig Finger zeigen nach dem Fenster des vortrefflichen Burschen, welcher bis jetzt der »bunte Hund« der ganzen Gasse war.

Ein großer Bogen Papier flattert dort oben, und darauf steht mit gewaltigen Buchstaben:

DR. WIMMER
P.P.C.

Aus dem offenen Fenster aber beugt sich – Herrn Polizeikommissarius Stulpnases ehrwürdiges Vollmondgesicht, und seine weißbehandschuhten Hände sind bemüht, den Zettel abzunehmen.

Ich überliefere schnell die verwunderte Liese der alten Martha und steige die Treppen zu der Wohnung des Doktors hinauf, welches sehr langsam geht, denn vor mir her schiebt sich eine unbeschreibliche, wunderbare Masse von Kleidungsstücken ächzend und stöhnend den engen Weg langsam, langsam hinauf.

Das war die dicke Madam Pimpernell, die das Ereignis seit langen Jahren zum ersten Male wieder in die obern Räume ihres Hauses trieb.

Das Zimmer beschrieb ich neulich bei meinem Besuch des Zeichners Strobel und brauche daher jetzt nur zu sagen, daß der Nachlaß des Doktors in einem zerspaltenen Stiefelknecht, einer leeren Zigarrenkiste Fumadores regalia und – einem Exemplar der Flodoardine bestand. Stulpnase saß da auf einem Stuhl, schaute das leere Nest wehmütig-grimmig an und ächzte:

»Ausgewiesen! Nun gar ausgekniffen! Donnerwetter – ohne erst für seinen ›Deppe‹ gesessen zu haben.«

»Jotte, einer armen Witfrau ihren besten Mieter abzutreiben, is das in der Ordnung, Herr Kumzarius? Habe ich darum Ihrer Frau die Butter immer um 'nen Dreier billiger gelassen?« greint die dicke Madam Pimpernell, die ebenfalls dem Beamten gegenüber auf einen Stuhl gesunken ist.

»Halte Sie das Maul, Frau!« schnauzt Stulpnase, worauf die Dicke ein Gesicht macht, wie es einst jedes brave korinthische Weib geschnitten haben muß, als es das Wort des Apostels Paulus hörte: Mulier taceat in ecclesia.

Nach einer feierlichen Stille von einigen Minuten stößt Stulpnase ein dumpfes Geheul aus und seufzt in sich: »Deppe.« Plötzlich aber, mit Wut auf seine Brusttasche schlagend, schreit er: »Und hier hab ich den Verhaftsbefehl: Beleidigung eines Beamten im Dienst, und – ausgekniffen!«

Ich wage es nicht, den aufgebrachten Leuen durch Lachen noch mehr zu reizen, verschwinde und platze erst auf der Treppe los, die beiden Würdigen einander gegenüber sitzen lassend.

In der Gasse steckt mir Marquart ein Billet zu und flüstert geheimnisvoll, nach dem Fenster des Doktors deutend:

»Das hat er zurückgelassen für Sie, Herr Wachholder!«

Der Zettel lautet:

»Liebster Freund!

Eine hohe Polizei weiß, was ›Deppe‹ heißt, obgleich es nicht im Konversationslexikon steht. Ein Freund hat mich gewarnt – ich verschwinde! – In den böhmischen Wäldern sehen wir uns wieder!

Dr. Wimmer.

P. Scr. Der Redaktionspudel begleitet mich!«

»Onkel, was soll denn das alles bedeuten, wo ist denn der Onkel Doktor?« fragt die kleine Liese, welche, obgleich schon im Nachtzeug, nicht vom Fenster weggekommen ist.

Ich schreibe: pour prendre congé auf einen Zettel, und Lieschen, die jetzt schon eine kleine Gelehrte ist, hat mit Hülfe eines Diktionärs noch vor dem Schlafengehen heraus:

»Um – nehmen – Abschied.«

»Der Onkel Wimmer muß eine kleine Reise machen, Schatz!«

Damit geht Elise getröstet zu Bette und verschläft und verträumt sanft ihren ersten Schmerz. In diesem Alter genügt noch eine Nacht, ihn zu begraben.


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