Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Am 12. Januar.

Ich hab's mir wohl gedacht, als ich diese Bogen falzte, und ich hab's auch wohl mit aufgeschrieben, daß ihr Inhalt nicht viel Zusammenhang haben würde. Ich weile in der Minute und springe über Jahre fort; ich male Bilder und bringe keine Handlung; ich breche ab, ohne den alten Ton ausklingen zu lassen: ich will nicht lehren, sondern ich will vergessen, ich – schreibe keinen Roman! Heute werfe ich zum erstenmal einen prüfenden Blick zurück und muß selber lächeln. Alter Kopf, was machst du? Was werden die vernünftigen Leute sagen, wenn diese Blätter einmal das Unglück haben sollten, hinauszugeraten unter sie?

Doch – einerlei! Laß sie sprechen, was sie wollen: ich segne doch die Stunde, wo ich den Entschluß faßte, diese Blätter zu bekritzeln, mit einem Fuß in der Gegenwart und Wirklichkeit, mit dem andern im Traum und in der Vergangenheit! – Wieviel trübe, einsame Stunden sind mir dadurch nicht vorübergeschlüpft sonnig und hell, ein Bild das andere nachziehend, dieses festgehalten, jenes entgleitend: ein buntes, freundliches Wechselspiel! So schreibe ich weiter.

Manche alte verstaubte Mappe mit Büchern, Heften, Zeichnungen, vertrockneten Blumen und Bändern liegt da; ich brauche nur hineinzugreifen, um eine süße oder traurige Erinnerung aufsteigen zu lassen, keine aber so duftig, so waldfrisch als die folgende, welche ich überschreibe:

Ein Tag im Walde.

»Fahren wir, oder gehen wir?« hatte Lieschen am Abend jenes auf den vorigen Seiten beschriebenen, so ereignisvollen Tages noch gefragt.

»Wir fahren!« war die Antwort gewesen, und glücklich darüber hatte das Kind das Näschen nach der Wand gekehrt und war eingeschlafen.

Mit dem Wagen erschien am andern Morgen auch Roder, der Lehrer Elisens, den leichten Strohhut auf dem Kopf, die grüne Botanisierbüchse auf dem Rücken, schon an der Ecke lustig nach dem Fenster hinaufwinkend.

Die alte Martha hatte den Kaffee fertig, und Lieschen, die bei ihrem Eifer, ebenfalls fertig zu sein, diesmal mehr Hülfe als gewöhnlich nötig gehabt hatte, sprang die Treppe hinunter und erschien nun, den Lehrer hinter sich herziehend.

Roder ist einer jener Volkslehrer, wie sie nur Deutschland hervorbringt. Er ist, wie es sich fast von selbst versteht, der Sohn eines Schulmeisters, der wiederum der Sohn eines Schulmeisters war; denn wenn es einen Stand gibt, der sich durch Generationen fortpflanzt, so ist es das deutsche Volkslehrertum. Da bringt der Vater vom Lande einen seiner gewöhnlich sehr zahlreichen Söhne in die Stadt mit einer Bibel, einem Gesangbuch und vor allem einem Choralbuch als Bibliothek. Der Junge ist der Stolz seines Vaters. Wer hat ein größeres Talent, die Orgel zu spielen? Wer hat eine bessere Stimme – wenn sie auch gerade sich setzt? So ausgerüstet betritt der junge Gelehrte den Schauplatz seiner weitern Ausbildung; gewaltig packt ihn anfangs das Heimweh unter der wilden Bande seiner Mitschüler, die ihn hänseln und zum besten haben in seiner Gutmütigkeit und Unerfahrenheit. Das Leben ist ihm anfangs nur ein erster April, wo man die Narren »umherschickt – in den April«. Selbst der Zuwachs seiner Bibliothek, bestehend aus den Schulbüchern seiner Klasse und Funkes Naturgeschichte, vermag ihn nur mittelmäßig zu trösten; ein größerer Freund ist ihm in dieser Epoche seines Daseins das alte wacklige Klavier, welches ihm der Vater für ein billiges gemietet und in sein Dachstübchen gestellt hat. Davor sitzt der Arme und spielt seine Choräle und Volksweisen – letztere nach dem Gehör, und denkt zurück an sein Dorf, an seine Eltern und Geschwister, und vor allem an die Schule, wo er der Erste war – ja sogar in der Ernte den Vater zuweilen vertreten durfte; während er hier – er, der große Bengel! – ganz unten seinen Platz unter den Kleinsten, Dummsten und Faulsten bekommen hat!

Warte nur, armer Kerl, – sieh, da bricht schon der erste freudige Strahl in dein dunkles Sein. Gewöhnlich gibt es auf jeder Schule einen Lehrer, der ein Original, ein Sammler, vielleicht ein leidenschaftlicher Naturfreund ist, womit meistens die Gabe der Mitteilung sich verbindet, dem begegne, du armes einsames Gemüt, und du wirst einen Freund gefunden haben. Jetzt verändert sich alles!

Welch ein Schweifen nun über Berg und Tal; welch ein Versenken in all die kleinen und kleinsten gewaltigen Wunder in der Luft, im Wasser, auf und unter der Erde! Wie sich das Dachstübchen füllt mit Käfern, Schmetterlingen, Herbarien usw. Welch eine selige Ermüdung an jedem Abend, welch ein Träumen in der Nacht, welch ein Erwachen am Morgen!

Nun zieht eine Wissenschaft alle andern nach sich; die Klassen werden durchflogen – den Schiller lernen wir auswendig, und die Welt dehnt sich immer schöner und weiter vor uns aus. – Ach, ein Faust zu sein, ist es nicht nötig, alles studiert zu haben: das Wollen allein genügt, den Mephistopheles aus dem Nebel hervortreten zu lassen!

Stütze nur die heiße Stirn auf die Hand, du Sohn Deutschlands, in langen durchwachten Nächten, beschwöre nur die Geister alter und neuer Zeit herauf, sie sind doch stets um dich, die Gespenster: Lebensnot und Zweifel und vergebliches Streben!

Der Arm der Notwendigkeit faßt dich und schleudert dich mit deinem Wissensdrang in ein kleines abgelegenes Walddorf oder an die Armenschule einer großen Stadt; da begrab dein volles Herz und suche – zu vergessen!

Glücklich, wenn du's kannst; glücklicher aber vielleicht doch, wenn es dir gegeben ist, auch hier weiter zu suchen. Der Pulsschlag des Weltgeistes pocht ja überall: »Suchet, so werdet ihr ihn finden!« sagt das schönste der Bücher, das so leicht zu verstehen ist und so schwer verstanden wird.

Ungeduldig klatscht der Kutscher unten vor der Tür, ungeduldig treibt Elise; während Martha noch immer Zurüstungen macht wie zu einer Reise nach dem Nordpol. Endlich aber steigen wir in den Wagen.

Unsere Sonntagsodyssee beginnt.

»Hätte der Onkel Doktor nicht morgen abreisen können?« fragt noch Lieschen nach dem Zettel droben schauend, auf welchem die Madam Pimpernell ankündigt:

»Hier ist eine Stube mit Kabinett zu vermieten.«

Roder lächelt, scheint etwas auf dem Herzen zu haben, aber sich gegenwärtig auf weiteres nicht einlassen zu wollen, und so rollen wir durch die noch stillen Straßen dem Tore zu. An den Wochentagen ist's um diese Zeit schon lebendig genug, heute aber schläft das Volk der Arbeit in den Morgen und den Sonntag hinein; es hat das Recht dazu nach sechs Schöpfungstagen.

Jetzt sind wir in den grünen Anlagen, die sich rings um die Stadt ziehen. Landhäuser und Gärten fassen auf beiden Seiten die Straße ein. Eine Eisenbahnlinie geht mitten über den Weg, und wir müssen anhalten, denn ein Zug fliegt eben brausend und schnaubend dem Bahnhofe zu. Der Sonntag, der den Städter hinausführt, bringt den Landmann hinein in die Stadt, und alle die Tausende, die heute ein- und ausfliegen werden, suchen alle ein anderes Ziel des Genusses, jeder die Freude auf eine andere Weise.

Schon haben wir die letzten Gärten hinter uns und fahren nun langsam die Pappelallee hinauf den Höhen zu, welche im weiten Umkreis die große Ebene und die große Stadt umgrenzen. Die Sonne steigt empor über dem Walde; die Knospen, die Blätter, die Blumen tragen alle einen Tautropfen, das Geschenk der Nacht; die Lerche erhebt sich jubelnd in die blaue frische Luft, und auch sie schüttelt Tau von den Flügeln. Wenn wir zurückblicken, liegt die große Stadt noch verhüllt in dem silbergrauen Duftschleier, den sie selbst sich webt und den sie, wie Penelope den ihrigen, nur zertrennt, um ihn von neuem zu knüpfen. Wie eingewebte Goldsterne blitzen die Kreuze der Türme – die Zeichen des Leids – darauf. – Wir aber fahren schon im vollen Sonnenschein, und jetzt sind wir am Rande des Waldes angekommen; nun brauchen wir den Wagen nicht mehr, und schnell rollt er die Höhen wieder hinab der Stadt zu.

Was trappelt auf einmal vor uns und raschelt durch das welke Laub des vorigen Jahres, das den Boden bedeckt? Was bricht da durchs Gebüsch, die Ohren und den schwarzen Pelz naß vom Morgentau, lustig jetzt um uns her bellend und springend und die hellen, blitzenden Tropfen abschüttelnd?

»Hurra! Willkommen im Walde!« ruft eine wohlbekannte Baßstimme.

Wer trabt da lachend her – hinter einer kleinen Rauchwolke, eine hohe, schwankende Königskerze auf dem Hut, – auf dem Fußpfade, der seitab tiefer ins Holz führt?

»Willkommen, fahrender Recke!« ruft Roder, den Hut schwingend.

»Allerseits schönsten guten Morgen!« grüßt der ausgewiesene Doktor, den abgenommenen Maulkorb des Pudels in die Höhe schleudernd und wiederfangend.

»Hast du mit Rezensent im Walde geschlafen?« fragt die kleine Liese.

»Der Herr Polizeikommissarius läßt Sie grüßen, Wimmer!« lache ich.

Jeder hat zu gleicher Zeit zu fragen und zu antworten, und jeder tut es auch, während Rezensent sich immer dicht an Elise hält, von Zeit zu Zeit ein kurzes fideles Gebell ausstößt und fest unsern Proviantkorb im Auge behält.

Mit pathetischer Gebärde tritt jetzt der Doktor an den Rand der Höhe, streckt den Arm gegen die Stadt aus und deklamiert: »Ha, da liegt sie – die Undankbare, sie, wo ich meine Nächte durchwachte und meine Tage verschlief – Sänger und Sängerinnen, Schauspieler und Schauspielerinnen, Ballettänzer und Ballettänzerinnen lobte oder herunterriß – wo ich so manchen Leitartikel schrieb – wo ich so manche Pfeife rauchte! Da liegt sie wollüstig träumend im Morgenschlummer, während ich umherirre, verbannt, vertrieben, an die Luft gesetzt, eliminito, wie der Doktor Brummer sagte, gejagt, gemaßregelt – ein Lamm im scharfen Nordwind. Nest! – Brüste dich mit deinen Gardeleutnants, deiner famosen Musenbude, die ich dort über die Dächer zwischen dem Pfeffer- und Salzfasse ragen sehe, – ich verachte dich, ein deutscher Zeitungsschreiber! Mache in der Liste deiner unter polizeilicher Aufsicht Stehenden ein dickes Kreuz hinter dem Namen: Heinrich Theobald Wimmer, Dr. phil., setze ein dreimal unterstrichenes ›Ausgewiesen‹ dahinter; ich schüttle deinen Staub von meinen Füßen, ich verachte dich! – Bin ich nicht heimatsberechtigt in München an der Isar, stehen nicht viele Löcher offen im edlen Was-ist-des-Deutschen-Vaterland? Zeugt nicht dieser solide Bauch (hier schlug sich der Doktor auf den erwähnten Körperteil) von Bayern? Es lebe München! – Ha, prophetisch verkünde ich dir, ausweisender Pascha von soundsoviel Roßschweifen: ein Schmächtigerer, aber Giftigerer wird meine Stelle einnehmen. Erfahren sollst du, zeitungenüberwachende Behörde, daß das, was ihr Unkraut nennt, wenigstens auch die Tugend desselben hat: nämlich nicht zu verderben und auszugehen! Fort in die Bresche, mein unbekannter Mitkämpfer! Mein Segen begleitet dich! Dixi, ich habe gesprochen! – Komm, Lieschen!«

Damit warf der Doktor den Maulkorb den Berg hinunter der Stadt zu, hob die Kleine empor, setzte sie mit ihrer Tasche und den ersten während seiner Rede von ihr gepflückten Blumen auf seine Schulter und schrie: »Allons, meine Herren; hinein in den Wald! Kehren wir dem Neste den Rücken zu!«

Mit diesen Worten trabte der tolle Gesell auf dem Fußpfad, auf dem er gekommen war, zurück ins Holz; Roder und ich folgten lachend. Der Exredaktionspudel sprang auch wie toll hinter uns her; »gaudeamus igitur« tönte des Doktors Baß in das beginnende Konzert der Vögel, unser Sommersonntag im Walde hatte begonnen.

Welch ein Tag war das!

Dieses erste Eintreten in die grüne Blätterwelt – dieses Aufatmen aus voller Brust! Der Doktor hatte mit der sich gewaltig sträubenden Liese einen ordentlichen Galopp angeschlagen und war unsern Augen entschwunden, unsern Ohren aber nicht. Die Kleine lachte – wurde ärgerlich – bat; der Pudel bellte aus Leibeskräften, und der Doktor fiel aus einem seiner Studentenlieder ins andere.

Mit seiner Ausweisung schien der alte Jenenser Bursch alle gesellschaftlichen Bande für aufgelöst zu halten.


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