Wilhelm Raabe
Vom alten Proteus
Wilhelm Raabe

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Zwölftes Kapitel.

Die in ihrem süßen Fach doch an manche schöne Leistung gewöhnte junge Dame hinter dem Büfett hatte eine solche wie die des Assessors Hilarion innerhalb der halben Stunde seines Aufenthalts in ihrem Lokal nie erlebt.

Selbst sie, die den großartigsten Kuchenesserinnen und Pasteten- und Likörkonsumisten der Stadt ruhig zusah, sagte sich mit immer steigendem Erstaunen:

»Wenn dies aber gut geht, so will ich es loben!«

Nie hatte ein aufgeregter Verliebter in der Angst und Qual seiner Seele derartig in Süßigkeiten gewütet, wie jetzt unser junger Freund. Zucker, Schlagsahne und Obstsäfte flossen ihm um Lippen und Kinn; alles, was ihm in die Hand fiel, schien ihm recht zu kommen. Eine Säule abgeleerter Kristallteller und Tellerchen türmte sich auf dem Seitentischchen neben seinem Ellbogen auf, und mit einer Atemnot ringend, setzte er einen Maraschino auf einen Rosoglio, und nicht bloß das, sondern im steten Wechsel gelangte er gänzlich unzurechnungsfähig von Plaisir des dames über Parfait amour zu Lait de vieillesse, als ob nie etwas Natürlicheres für ihn je einem Wiesen- oder Waldborn entsprudelt sei.

Dabei behielt er natürlich stieren Blickes durch die Glastür des Konditors die hohe gewölbte Pforte des Püterichshofes drüben mit zwei altersschwachen bärbeißigen Karyatiden fortwährend im Auge.

»Hier soll ich auf ihn – sie – wen – warten? Es ist ein Fegefeuer – eine Hölle!« stöhnte er und schlang und schlürfte halb bewußtlos weiter.

»Wenn er noch eine Mama – wenn er eine Braut hat, so kann er es eigentlich nicht verantworten!« flüsterte das Fräulein hinter ihren Glasglocken, jetzt vollständig ängstlich die Hände auf ihrem weißen Schürzchen zusammenlegend. »So bange hat mir noch keine Kunde gemacht; – – oh – da, hab' ich es mir nicht gedacht?! Da haben wir es schon!«

Es hatte wohl so ungefähr den Anschein. Bleich, an einer letzten Pastete würgend und ein Stück Obstkuchen in der Hand, hatte sich der Assessor plötzlich in dem roten Samtsessel zurückgelehnt. Er sah den Vater Konstantius vom Püterichshofe her über die Gasse stürzen und zwar allein.

»Wie ich es mir gedacht habe!« stöhnte er. »Es war noch ein Strohhalm der Hoffnung, daß er etwas bei dem alten Ungeheuer, dem – Onkel – Philibert ausrichte, aber da bricht auch er. O, er kannte eben den Onkel Püterich und seinen Freund Magerstedt nicht!«

Aber in den Konditorladen stürzend, schrie der Einsiedler:

»Sind Sie noch da, Abwarter? – Einen Moment! – Fräulein, einen Absynth! – Noch einen – und – noch einen! – Ah, oh! Ah, das war die letzte Rettung, Hilarion, mein Sohn! Die ganze Seele wollte durch die Kehle! So – ah! – O mein Sohn, mein Sohn, ich hatte in der Tat völlig vergessen, wie es in der Welt aussieht, und wie die Menschen drin aussehen; aber jetzt weiß ich es wieder – gottlob! Geben Sie mir einen Stuhl, Fräulein, und geben Sie mir – noch einen Wermut!«

Er setzte sich, und Hilarion stierte ihn an und wagte es erst nach einer geraumen Weile zu stammeln:

»Und Ernesta?«

Der Vater Konstantius stierte ihn seinerseits an, rieb sich dann die Stirn, schnäuzte sich und sprach gedehnt:

»Ernesta? – Ja so! Hm, ei – ei freilich. Die hatte ich meinerseits eben auch ganz aus dem Gedächtnisse verloren.«

»Aber ich nicht! Ich, ich, ich, ich nicht!« rief der Jüngling außer sich vor Schmerz, Verdruß, Wehmut und sonstigem Unbehagen. »Es ist keine Sekunde, in welcher sie mir nicht in ihrem Elend vor Augen steht, und jetzt wird es wiederum bald Nacht, und wiederum ist sie hülflos allen Insinuationen von Papa und Mama und allem eigenen Jammer um mich und sich anheimgegeben. Und nun kommen Sie, mein Herr, der Sie behaupteten, dreißig Jahre lang einer unglücklichen Liebe wegen in der Wildnis gesessen zu haben, der Sie mich hier eben noch eine Stunde lang auf den Folterstuhl spannten, und haben nicht einmal an mich und mein armes Mädchen gedacht!?«

»Vergessen hab' ich euch nur auf einen Moment,« brummte der Waldbruder. »Unglückliche Liebe? Ach was, dummes Zeug! Dreißig Jahre lang habe ich in Frieden gelebt und die ganze Welt vergessen! Verlange nicht zu viel von einem sterblichen Menschen, mein Sohn Hilarion! Übrigens haben wir noch zu allem Zeit. Für einen ersten Besuch bei anständigen Leuten ist zwar die Stunde ein wenig vorgerückt; allein ich bin ein Mensch des Ausnahmezustandes, und du, mein Kind, befindest dich wenigstens augenblicklich in einem ähnlichen Zustande. Was kümmert uns der Onkel Püterich? Gib mir deinen Arm und laß uns nach der Villa Piepenschnieder fahren. Meinetwegen!«

Der Assessor zahlte in fliegender Hast; der Einsiedler sehr bedächtig. Was aber den Konsum Hilarions anbetraf, so machte es der jungen Dame hinter dem Ladentisch einige Mühe, die Posten zusammenzurechnen, und der Vater Konstantius meinte nachher in der Gasse mit einem gleichfalls höchst besorglichen Blick erst auf die Konfitüren im Schaufenster und dann auf den jungen Freund:

»Mein Sohn, wir wollen lieber nicht fahren, sondern gehen. Ein längerer Fußweg wird Ihnen wahrscheinlich sehr wohl tun.«

Und sie gingen; – der Alte diesmal weniger mit der Harfe als mit dem spanischen Rohr; trotz aller Seelenunruhe und Körperanstrengung des Tages aber strack und helläugig; der Junge diesmal durchaus nicht frisch und blühend, wohl aber wie gebeugt unter der Last eines imaginären Leierkastens und dazu zwar mit viel Musik in sich selber, aber einer höchst lugubren und unheimlichen Trauermusik.

So durchkreuzten sie einen bedeutenden Teil der Stadt und gelangten wiederum auf die volkswimmelnde Promenade.

»O, vermöchtest du es doch, dich wenigstens teilweise in meine Gefühle und Stimmungen zu versetzen!« rief der Vater Konstantius. »Es würde dich sicherlich zerstreuen. Ich bitte dich um Gotteswillen, mein Kind, wandele ich hier nicht als ein lebendiges Kompendium aller Philosophie der Welt dir zur Seite? – Hm, ist das nicht Sankt Jocosi Kirchhof, Hilarion?«

Er war stehen geblieben und deutete mit seinem Stabe auf ein hohes schwarzes Gitter.

»Er ist es,« seufzte der Assessor; »man läßt ihn jedoch seit einigen Jahren eingehen.«

»Hm,« murmelte der Vater Konstantius, »treten wir einen Augenblick ein.«

»Mein verehrtester Herr, ich fühle mich –«

»Sei still! Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich habe mich zu seiner Zeit ähnlich, ja vielleicht wohl noch tiefer empfunden als du dich jetzt. Auch ich war eine sensitive Natur und klappte meine Blütenblätter bei der leisesten Berührung von außen sofort zusammen. O Innocentia! o Rosa von Krippen! o Püterich, Püterich, Püterich! Komm herein, Hilarion, vielleicht kann ich dir noch zeigen, wo man sie zur ewigen Ruhe niedergelegt hat – wenn du mir auch dann noch dein Ehrenwort darauf gibst, daß du immer noch an deine Halluzinationen sowohl in deinem Junggesellenstübchen wie auch am Weiher in meinem Walde glaubst, so will ich dir auch glauben! Was Leben? Was Tod? – Vielleicht finden wir auch zwei Steine mit den Namen Magerstedt und Püterich; und dann habe auch ich mich heute nachmittag im Püterichshofe geirrt und der Welt Scheinbilder für ihre Wesenheit genommen. Nachher haben wir ja wohl kaum noch fünfhundert Schritte zu dem Dache deiner Geliebten oder vielmehr dem Besitztum ihrer Eltern?«

»Mir ist sehr weh zumute!« stöhnte der Assessor, aber der Einsiedler versicherte nicht von neuem, daß er ihm das auch ohne sein Wort glaube. Er zog ihn mit sich hinein in die düstere Pforte und dann suchten sie.

Sie suchten lange zwischen den Leuten, die man bereits vor dreißig Jahren hier begraben hatte, und die Dämmerung half ihnen durchaus nicht dabei. Endlich wies sie ein alter Nachbar des Friedhofes von einem Neubau aus über die Hecke zu dem rechten Jahrgang, und der Vater Konstantius fand, was er gesucht hatte.

Eine geraume Zeitlang sagte er gar nichts; dann aber sprach er:

»Nenne es, wie du willst, junger Mensch – nenne es eine Herzensroheit sondergleichen; aber ich werde mich, ich kann mich nicht zu Boden legen wie gestern, als du mir den Gruß von diesem Platze her ausrichtetest. Wir wissen nichts, und was wir erfahren, fühlen und empfinden, hat uns bis jetzt noch nicht klüger gemacht. Du siehst nach der Uhr? Du siehst immer ungeduldiger nach der Uhr? So komm, du Träumer im Traum der Welt – wecken kann ich dich nicht, so wenig, als du vor dreißig Jahren mich geweckt haben würdest. – Wirf, da die Reihe an dir ist!«

Nach einem Dauertrab von fünf Minuten standen sie richtig am Tor der Villa Piepenschnieder und schöpften Atem. Dann zog der Vater Konstantius die Glocke, und es dauerte eine ziemliche Weile, ehe durch die warme Abenddämmerung einer der Diener heranschlenderte, um sich nach ihren Wünschen zu erkundigen.

»Der Herr Kommerzienrat zu sprechen, Jean?« fragte Hilarion unendlich höflich und suchte vergeblich sein Herzklopfen dadurch zu bändigen, daß er die Hand auf die bewegte keuchende Brust drückte.

»Bedaure, Herr Assessor. Der Herr, die gnädige Frau und das Fräulein sind gerade vor einer Viertelstunde zum Herrn von Erbacher gefahren –«

»Fräulein – Fräulein Ernesta auch?« stammelte Hilarion.

»Fräulein auch,« versicherte der Diener ruhig. »Die Herrschaften haben sich von unserer Herrschaft die Ehre ausgebeten, zu einem Gartenfest und Geburtstagsfest des jungen Herrn und zum Quartett im Freien.«

»Siehst du, mein Sohn!« sprach der Eremit. »Morgen ist sie die Deinige oder – du bist der Meinige.«

»Ich würde mein Herzblut darum geben, wenn ich jetzt drei Worte mit ihr reden könnte!« krächzte der Assessor, die Hände ringend.

»Der Herr von Erbacher ist zwar auch mein Bankier und Vermögensverwalter, wir würden sicherlich ihm bei seinem Gartenfest, Geburtstagsfest und Quartett höchlichst willkommen sein, allein, mein Kind, ich meine doch, wir rufen ruhig die erste Droschke an und fahren zurück nach dem Püterichshofe. Dem Wunsch erscheint mir töricht: erhalten wir uns unsere Illusionen solange als möglich! Gib deine Karte ab, Hilarion, und notiere meinen Namen mit Bleistift darauf; – – und nun laß uns gehen; ich schlafe diese Nacht auf deinem Sofa. Vielleicht erscheint auch mir dein Geist noch einmal, um mir ein wenig deutlicher mitzuteilen, weshalb eigentlich er dich und dein Liebchen gestern zu mir in den Wald schickte.«

In der letzteren Hoffnung irrte er sich. Sie gelangten erst gegen zehn Uhr nach Hause, und gegen halb zehn Uhr bereits hatte sich in dem Gemache des Onkels Püterich, gerade als der Herr von Magerstedt dem Baron ganz programmäßig moralisch auf der Seele kniete und körperlich ohne alle Moral ihn vollständig gerädert hatte, ein höchst wunderbarer Duft verbreitet.

Es roch da auf einmal ganz merkwürdig nach Lilien, und Freund Magerstedt sog den Geruch ein, ohne sich im geringsten erklären zu können, woher er komme. Er hatte keine Ahnung davon, daß Rosa von Krippen in diesem Duft ihre Erlösung fand.

»Von dir geht er nicht aus, Püterich!« sprach er. »Auf meine Rechnung hin stehst du nicht mehr im guten Geruche!« schrie er. »Aus und zu Ende ist es damit!« schrie er gellend. – –

»Gütiger Himmel, ein Stiefelknecht! Wie hätte ich es mir gestern vorstellen können, daß ich mich doch noch einmal eines Stiefelknechtes bedienen würde?« lallte der Vater Konstantius auf dem Sofa seines jungen Freundes. »Ah, aber ich setze ihn dafür auch zu meinem Erben ein.«

Es ist ein Glück, daß wir wissen, wen er meinte; aus seinen schlaftrunkenen Worten ging's nicht klar hervor.

»Er soll heiraten, wen er will. Auch sein allerliebstes, rares, nettes Piepenschniederchen! – Ah, oh, so häufig sind die großen Sünderinnen und die überschwenglichen Engel in dieser Alltagswelt nicht, daß auf jeden braven Tropf eine fällt, um das Herz für ihn zu brechen. Ja, er soll heiraten, und ich – werde Gevatter stehen: so summt das Lied und das Leben weiter, und der Wald, der Püterichshof und Sankt Jocosi Kirchhof halten's nicht auf.«

Aus der Kammer nebenan und von dem Lager des Assessors klang fortwährend schweres Geseufze und angstvolles Gestöhn her.

»Das arme Kind!« seufzte auch der Eremit, sich noch einmal auf dem Ellbogen emporrichtend. »Es hat sich gründlich den Magen verdorben.«

Fünf Minuten später schlief er sanft und ruhig, wie eben nur ein Einsiedler, der dreißig Jahre lang in der Wildnis und Einöde nicht nur sein Gewissen, sondern auch seine Konstitution im guten Zustande erhielt, zu schlafen vermag, selbst wenn es seinem Nebenmenschen nebenan schlecht geht und es demselben herzlich übel zu Sinne ist.

Aber einen Traum hatte er doch gegen Morgen, als die Sonne aufging.

Er befand sich im Walde, in seinem Walde, und stand in der Morgensonne an dem Weiher und lauschte nach der alten hohlen Weide hinüber.

»Es soll mich doch wundern, ob ich nicht auch zu Gesichte bekomme, was sich dem jungen Volk auf seinem Wege zu mir kund gab und mich grüßen ließ,« brummte er; und dann lachte die ganze schöne Wildnis und dazwischen klang ein lieblich Gekicher:

»Ach, Konstantius, wenn das eine Strafe sein sollte, so habe ich sie mit Vergnügen getragen. Himmlisch habe ich mich diese dreißig Jahre hindurch unterhalten vor deiner Tür. Du warst zu drollig, mio caro; doch nun – lebe wohl! Du bist immer ein Gelehrter gewesen, also wird es dich freuen, wenn ich dir sage: der Vater Tausendkünstler, der alte Proteus, ruft, und Psamothe, mein Mütterchen, wird ungeduldig. Nun tanzen wir wieder zwischen Rhodus und Kreta, auf den lichten Wassern vielgestaltig, ewig uns wandelnd, dem Papa beim Robbenhüten helfend. Addio, Constantio!«

Und er sah eine liebe lichte Gestalt im Morgenglanze sich verflüchtigen. Er sah eine zierliche Hand, die ihm eine gelbe Rose an die Nase warf, und er griff nach dieser Rose, faßte seine Nase und erwachte.

Wir aber erwachen gleichfalls; der alte Proteus entschlüpft wieder einmal unseren haltenden Armen: er behält nur zu gern all sein Wissen des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen für sich allein.

 

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