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Der Püterichshof lag schwül in der hundstäglichen Spätnachmittagssonne, so weit dieselbe ihn abreichen konnte, da. Es war dazu ein eifriger Geschäftstag der Firma Aldenberger und Kompagnie, und ein fast wildes Getreibe herrschte vor den Torwölbungen, in den Höfen, Magazinen und auf den Speichern des alten Patrizierhauses. Lastwagen und Rollwagen fuhren ab und zu; Fässer wurden gerollt, in Keller versenkt und aus Kellern emporgewunden: Ballen und Kisten lagen hoch aufgetürmt oder schwebten an den Windeseilen von den Dachluken herab oder zu ihnen empor. Auf- und Ablader, Kommis, Buchhalter und Prinzipale befanden sich in brennendster Tätigkeit. Niemand schien für irgend etwas Zeit zu haben, und ein ältlicher, höchst anständiger Herr von sehr komfortablem Äußeren, der sich im Getümmel des Hofraumes nach einigen Mietsbewohnern des Gebäudes erkundigte, hatte seine Fragen mehrfach zu wiederholen, ehe er eine befriedigende Antwort erhielt.
»Baron Püterich? – Vorderhaus, linker Flügel, dritter Stock! – Herr von Magerstedt? – Zweites Stockwerk, eben dort! – Assessor Abwarter? – Hintergebäude, drei Treppen hoch, dort in die Tür!«
»Ich danke gehorsamst,« sprach der alte Herr mit dem rundlichen Bäuchlein und dem spanischen Rohr mit Goldknopf. Dabei rieb er sich das glattrasierte Kinn und zupfte an der Krawatte wie jemand, der sich nur mit einiger Mühe in einer ihm fremden Umgebung orientiert.
»Werde ich die Herren wohl zu Hause treffen?« fragte er noch einmal und hatte sich mit der Antwort zu begnügen:
»Darüber führen wir nicht Buch. Erkundigen Sie sich, Herr.«
Der alte Gentleman stieß ein wenig entrüstet sein spanisch Rohr auf den Boden und brummte etwas nicht ganz Verständliches vor sich hin; dann aber schritt er würdig der Tür und dem Hintergebäude zu, die, wie man ihm angegeben hatte, zur Wohnung des Assessors emporführte.
»Am Ende habe ich es noch für einen Trost zu nehmen, wenn ich den jungen Menschen auf seiner Stube finde!« murmelte er und stieg ein wenig mühsam die steilen Treppen empor.
Die Abendsonne vergoldete die Fenster des jungen Menschen, die Photographie seiner Geliebten auf der Miniaturstaffelei zwischen den Papieren des Schreibtisches und – mit einem letzten lächelnden Blick den jungen Menschen selber. Er aber lag auf dem Sofa, beide Hände unter dem wirren Haupte und vorläufig total unfähig, einen zureichenden Grund für sein längeres Atemholen, Aktenschreiben und Reimesuchen zu finden. In einer unbeschreiblichen Stimmung, das heißt in einer seelischen und körperlichen Abspannung, die leichter als sonst irgend etwas in der Welt nachzufühlen sein wird, lag er da. Die Schicksale der Menschen um ihn her gingen ihren Lauf, sein eigenes Schicksal aber schien still zu stehen. Rundum war die Welt in lebhaftester Bewegung, und er hatte still zu sitzen oder vielmehr dazuliegen und alles, den Geschäftslärm der Firma Aldenberger und Kompagnie nicht ausgeschlossen, auf seine Nerven wirken zu lassen. Eine Nase von seinem Vorgesetzten, Geschäftsversäumnis betreffend, die er gestern abend nach seiner Heimkehr aus dem Walde auf seinem Tische fand, hatte das Siegel auf seine heutigen Zustände gedrückt; wenn wir sagen wollten, daß die Hölle in seinem Busen wüte, so würde dieses nur sehr wenig übertrieben sein.
»Und wie sitzt sie?« stöhnte er. »Sie haben sie zwischen sich auf dem Sofa, wenn sie sie nicht gar an den Locken durch den Salon hin- und herziehen! Ich male es mir! Schreien möchte ich da: anch' io son pittore. Und was ist das Monitum des alten Tribulationsrates, meines Herrn Chefs, gegen das, was Papa und Mama ihr anzuhören geben werden? Und das grinsende Scheusal, der Magerstedt, ist mir vorhin, als ich zur Table d'hôte mich schleppte, in der Gasse begegnet – uh, solchen Appetit wie den meinigen heute dürfte der Wirt im Deutschen Hause dreist und ehrlich allen seinen Tischgästen wünschen; – ein reicher Mann könnte er dabei werden. Und dieser Ein–siedler! Dieser Va–ter Konstantius! Unser Weg zu ihm war nichts als ein Holzweg. Er ein Anachoret? – Ein Anachronismus und weiter nichts ist er! – Und Rosa von Krippen war ebenfalls nur ein Erzeugnis des Kollegen, des Polizeiassessors, und seines schlechten Punsches.«
Er deckte von neuem beide Hände auf die Augen, und von neuem führte ihn seine fiebernde Phantasie in den Wald voll Abendsonne und Vogelsang. Er stand mit der Geliebten abermals an dem magischen Weiher und hörte von der hohlen Weide her das liebliche Kichern, und darüber überhörte er das Pochen an seiner Stubentür zum ersten Male.
Er überhörte es noch einmal.
»Wenn er wirklich noch, was ich aber nicht glaube, sein Versprechen hält und in die Stadt kommt, um mit dem Onkel Püterich, Papa und Mama und – seinem Bankier zu sprechen, so – kenne ich die Menschheit: er zieht nicht wieder hinaus! Dann steht seine Birkenhütte leer, und Ernesta und ich können –«
Zum dritten Male klopfte der Besucher nicht; er öffnete, ohne dazu eingeladen worden zu sein, und erschien auf der Schwelle, wie wir ihn im Hofe des Püterichshofes sahen, ein ältlicher, glattrasierter, glatzköpfiger Herr von wohlwollend behaglicher Miene und Komplexion, der sich, den Stock unter dem Arme, mit dem weißen Sacktuch die schweißglänzende Stirn trocknete und freundlich fragte:
»Nicht wahr, da bin ich? Und ich komme hoffentlich immer noch recht und auch noch zur rechten Zeit?«
Überrascht von seinem Sofa aufspringend und alle Winkel seines Gedächtnisses mit möglichster Schnelligkeit, aber vergeblich durchstöbernd, stotterte der junge Mann, daß – er nicht die Ehre habe, um sodann die höfliche Frage dran zu knüpfen – mit wem er die Ehre habe?
Und Hut, Stock und Handschuhe ablegend, nannte sich der lächelnde Greis, indem er hinzufügte:
»So, wie ihr gestern mich fandet, konnte ich mich doch unmöglich vor einem anständigen Menschen sehen lassen.«
»Ernesta?!« rief Hilarion, als ob er schon seit Monaten mit ihr verheiratet sei und sie jetzt nur aus dem nächsten Gemache herbeirufe, damit sie außer allen übrigen auch sein augenblickliches Erstaunen und seine Erstarrung mit ihm teile.
»O Herr – mein verehrter – mein teuerster Herr, das ist in der Tat – ist es denn möglich? – eine Überraschung! – Bitte, nehmen Sie Platz – ich weiß nicht, wo mir der Kopf sieht – was würde, was wird mein armes Kind, meine Ernesta, dazu sagen?!«
»Dieses wollen wir den nächsten Stunden anheimstellen,« erwiderte ruhig der Vater Konstantius. »Wie mich deucht, werde ich jedenfalls dem guten Mädchen heute weniger abstoßend erscheinen als gestern. Gestern schien ich ihr, wie mir heute scheint, einen nicht ganz unbegründeten Schauder und Abscheu einzuflößen; heute war ich beim Schneider, Haarschneider und Zahnarzt. Doch lassen wir das fürs erste auf sich beruhen, und gehen wir jetzt – man sitzt nicht dreißig Jahre lang unbelehrt in der Einsamkeit! – gehen wir so rasch und sachgemäß als möglich zur Lösung aller vorliegenden Fragen und Verwickelungen vor. Was also die Nachtseite der Natur betrifft, so bitte ich um eine kurze Auskunft. Aus welcher Wand trat die von Ihnen erblickte Erscheinung hervor?«
»Aus welcher Wand, mein teurer Herr? Ich saß da, dort an meinem Schreibtisch in – in Kummer und Sorgen; da stand das weiße – zarte Bild, das heißt als ich aufgestanden war, das Fenster zu schließen, saß es da auf meinem Stuhle.«
Der Vater Konstantius besah den Stuhl und murmelte:
»Da? Ha!«
»Es ging auch nicht durch die Wand fort, es löste sich auf, ohne daß ich sagen kann, wie.«
Der Vater Konstantius murmelte etwas von Spektralanalyse und überflog mit lang ausgerecktem Halse die Papiere auf dem Arbeitstische des Assessors.
»Sie haben häufiger die Gabe, zwischen Ihren Akten allerlei Geister zu sehen, junger Freund?« fragte er dann. »Sie pflegen zu poetisieren – dann und wann?«
Hilarion konnte bei vorliegenden corporibus delicti die Tatsache nicht leugnen, gab sie aber nur vermittelst längerer Auseinandersetzung zu, während welcher der Vater Konstantius stumm und kopfschüttelnd an allen vier Wänden des Zimmers entlang ging und von Zeit zu Zeit mit dem Knöchel anpochte.
Als der Assessor mit seiner Schutzrede zu Ende war, war auch der Exeremit mit seiner Untersuchung fertig und äußerte sich seinerseits:
»Hohl klingt es überall, aber nirgends gespenstisch. Ich werde nicht klug daraus, höchstens klüger. Von Geist keine Spur! Statten wir, wenn Sie sich ganz wieder dem realen Leben gewachsen fühlen, dem Herrn Onkel Püterich einen Besuch ab.«
Zu sich selber gewendet, fügte er hinzu:
»Es war merkwürdig, ist merkwürdig und bleibt merkwürdig, wie nahe zusammen stets das alles wohnte und wohnt!«
Der Assessor, der dem Gebaren seines Gastes stumm und wie hülflos zugesehen hatte, fuhr fast erschrocken zurück, als der Alte, aus dem elegisch-melancholischen Ton seiner letzten Bemerkung in den vollkommenen Gegensatz fallend, ihn schnarrend anschnauzte:
»Nun, ich meine, Sie haben es eilig mit Ihrer Hochzeit? Oder wollen Sie mich etwa in Schlafrock und Pantoffeln zu meinem Freunde Püterich begleiten?«
»Zu dem Herrn Baron?« stammelte Hilarion. »Gewiß, gewiß! Aber ich glaubte – ich dachte, wir gingen zuerst –«
»Zu den Eltern der jungen Person? – Rasch in die Stiefeln, junger Mann! Ich glaube, Sie sind imstande, sich einzubilden, daß nur Sie allein in der Welt das Herz treibt? Aber Sie irren sich, – auch mich treibt das meinige, und ich wünsche jetzt vor allen Dingen dem Onkel Püterich meine Visite zu machen. Die Welt hat sich doch nicht im geringsten verändert während meiner Abwesenheit. O Innocentia! Wo nehmen wir heute abend nach abgewickelten Verwickelungen das Souper ein? Irgend etwas Gebratenem, einem guten Glas Wein, einem italienischen Salat und einer verständigen Bowle würde ich mich nicht ungern einmal wieder gegenüber finden.«
Für einen Einsiedler, der dreißig Jahre lang nichts als die schmalste Waldkost genossen hatte, sprach der Vater Konstantius sehr vernünftig. Daß ihm acht Tage hindurch ein Stück von einer Eichel im hohlen Backenzahn gesteckt hatte, merkte man ihm auch nicht mehr an, und – wie im Traume fuhr Hilarion in Rock und Stiefeln, wie im Traum begleitete er seinen Anachoreten zu der Pforte des Barons Philibert Püterich, und wie im Traum vernahm er das augenblicklich letzte Wort des Klausners:
»Erwarten Sie uns drüben in der Konditorei; ein Viertelstündchen wünsche ich mit ihm allein zu sein.«
»Daß ich Rosa von Krippen erblickt habe, daß wir – die andere im Walde sahen, ist gar nichts!« ächzte der Assessor bei der Regierung Hilarion Abwarter, gänzlich gebrochen sich an dem Geländer der Treppe im Vordergebäude des Püterichshofes herniedertastend; – – – wir sagen: ob einem eine Putzmachermamsell oder die höchstselige Majestät von Dänemark, Hamlet der Erste, – Mamsell Rasmussen oder König Friedrich der Siebente erscheint, ist ganz einerlei. Es kommt immer nur darauf an, wie man sich zu den Erscheinungen in dieser Welt zu stellen weiß. – –
Wenn man nun hier und da in eine Dichtung hineingeht gleich wie in ein Naturalienkabinett oder eine Altertümersammlung und mit einem Gewirr von mouches volantes vor den Augen und einem intensiven Gefühl von Steifigkeit im Nacken wieder herauskommt, so ist in unserer Geschichte an dieser Stelle dem nicht so. Es ist nicht nur von Rechts wegen unsere Schuldigkeit, die Leser und Leserinnen zu ersuchen, mit dem Geliebten Ernestas drüben in der Konditorei zu warten, sondern wir dürfen sie auch dreist auffordern, mit dem Vater Konstantius bei dem Onkel Püterich einzutreten und dem erfreulichen Wiederfinden und Wiedersehen anzuwohnen. Wenn wir nicht ganz und gar eine Bürgschaft gegen ein geistiges Mückensehen übernehmen können, so liegt die Schuld nicht auf unserer Seite.
Der Vater Konstantius klopfte an, und der Onkel Püterich rief Herein. Der Vater Konstantius, in der Meinung, daß in der Ferne eine schlecht geölte Tür geknarrt habe, klopfte auch hier zum zweiten Male, und der Onkel Püterich rief wieder Herein.
»Ein sonderbares Organ!« sprach der Exeinsiedler und öffnete, um sich einem noch sonderbareren Anblicke gegenüber zu finden: dem Jugendfreunde in seinen alten Tagen nämlich.
Der Vater Konstantius ließ den Hut aus der Linken fallen, um sich mit beiden Händen auf den Stockknopf stützen zu können. Er faltete die Hände über diesem Stockknopf, schlug die Augen zur Decke empor und murmelte mit einem tief aus der Brust geholten Atemzuge:
»O du meine Güte – Pü–te–rich?!«
Der Onkel und Geisterseher im Flanell-Schafpelzschlafrock, Philibert nervös, der Baron Püterich mit Rosa von Krippen hinter seinem Lehnstuhl in der Wand, war in der Tat ein Spektakel, bei welchem man die eigene Güte und die des Himmels anrufen durfte.
»Du erinnerst dich meiner wohl nicht mehr, mon cher?« fragte der Waldbruder. »Da ich meinesteils längere Zeit gebraucht habe, um dich zu vergessen, so werde ich dir hierüber keinen Vorwurf machen. Mein Name ist –«
Er nannte den Namen, und der Baron, aus seinem Lehnstuhl emporschnellend, stieß einen quietschenden Laut aus, gleich einer gefangenen Fledermaus, und setzte sich wieder mit einem so gläsernen Blick auf den Besucher, daß dieser einen Schlagfluß, wenn nicht befürchtete, so doch recht wohl für möglich hielt.
Doch es kam anders!
Auch der Baron nannte nach einer Weile den richtigen Namen des Einsiedlers, den wir, wie gesagt, lieber nicht gebrauchen werden, und fügte hinzu:
»Was ist das nun wieder für eine neue Niederträchtigkeit? Hat man denn keinen Augenblick in seinem Leben für sich?! – Mein Herr, der Herr, für den Sie sich auszugeben die Frechheit haben, ist bereits vor zwanzig Jahren in türkischen Diensten als Diogenes-Bey zu Sinope an der Pest gestorben, und ich werde sofort nach der hiesigen Polizei schicken!«
»Püterich?!« sagte der Vater Konstantius, seinen Hut ruhig aufhebend und ihn samt seinem spanischen Rohr auf den Tisch legend. »Püterich?!« rief er, zog einen Stuhl an den Lehnstuhl des Barons, setzte sich gleichfalls, klopfte dem Jugendfreunde auf das magere Knie und sprach beruhigend:
»Püterich, die Gespenster kommen von Zeit zu Zeit doch auch bei Tage zum Vorschein. Püterich, Philibert, in einem fast dreißigjährigen Eremitenleben ist es mir gelungen, mich für dich mit zu fassen; du wirst mich genau ansehen und nicht nach der Polizei schicken, sondern nach unserm beiderseitigen Freunde Magerstedt. Er wohnt ja hier in diesem Hause ein Stockwerk unter dir, und ich habe auch mit ihm ein Weniges zu verhandeln.«
»Auch der Schuft?!« ächzte der Onkel, und plötzlich, in aller Frische und Kraft der Wut und Verzweiflung aufhüpfend, krähte er: »Mir mag noch passieren, was da will, ich glaube an alles, aber auf nichts, nichts, nichts lasse ich mich mehr ein. Ich habe das Meinige genossen und bin wenigstens kein blöder Esel gewesen, und Sie, Herr, seien Sie, wer Sie wollen – tun Sie, was Sie wollen – rufen Sie, wen Sie wollen; mir ist alles gleichgültig, alles einerlei – ich bin und bleibe der, welcher ich war und welcher ich sein werde – mein Name ist Püterich, und jetzt seien Sie und heißen Sie meinetwegen, wie es Ihnen beliebt.«
»Bravo, Püterich! Bravissimo, alter, guter, lieber Freund!« schrillte es, als ob ein Rattenkönig menschliche Stimme und menschlichen Ausdruck erhalten habe, um seinen Beifall kund zu geben.
Da stand der Herr von Magerstedt gleichfalls im Zimmer, auch in weichen Pantoffeln und im Schlafrock, mit einer Mappe voll höchst bedenklich aussehender Papiere unter dem Arme.
»Ich nehme an, daß der Herr auch einer deiner verehrten Kreditoren ist, und lege mir deshalb keinen Zwang auf, bester Philibert. Du weißt, daß ich ein Mann der Ordnung war, bin und bleibe, und so habe ich mir bei unserem letzten Abschied überlegt, daß diese Stunde mir und dir die passendste sein werde, einmal freundschaftlich diese Dokumente zu überfliegen. Sie sind meistens alle von deiner Hand gezeichnet; wenn es dir also gefällig ist und du mich diesem Herrn bekannt gemacht hast, so können wir –«
Der Einsiedler hatte sich gesetzt; aber der Baron Philibert Püterich war aufgesprungen und sprang hin und her mit einer Behendigkeit und Bockfüßigkeit, die uns eine gehörige Dosis von Gift, Wut und Galle allen Ärzten der Welt als das beste Kordiale anempfehlen läßt. Er verlor den einen seiner pelzgefütterten Filzschuhe und er verlor den anderen. Die Mütze schleuderte er selber gegen die Decke, und mit einem Male auf den Vater Konstantius sich stürzend, ihn an den Schultern packend und schüttelnd, schrie er:
»Bitte, jetzt sieh ihn dir an! Ich glaube alles, was du mir vorgetragen hast, Mensch; aber sieh ihn dir an und bedenke, daß ich dreißig Jahre lang mit ihm wie – in einem Bett geschlafen habe; daß er meine Nichte heiraten will, daß mir Rosa – Rosa von Krippen – – uh, wenn dieses alte Haus, das Haus meiner Ahnen, ihm, ihr, mir und dir, Konstantius, über dem Kopfe zusammenfiele, so wäre vielleicht uns allen geholfen, mir aber jedenfalls! Es ist kein Lumpenstreich, zu dem mich der Kerl da nicht vermittelst seiner Mappe unter seinem Arme bringen kann, zu welchem er mich nicht gebracht hat. Mein Gemüt kennst du ja und weißt von Jugend auf, wie leicht sich mit mir verkehren läßt. O, wenn ich ihm nur über seine Mappe weg ein einziges Mal an die Gurgel könnte!«
»He, he, he,« kicherte Herr von Magerstedt.
Doch wir, fest uns im Gedächtnis haltend, daß Fräulein Rosa immer noch hinter der Tapete zwischen den Bettwanzen haftet und alles sieht und hört, was im Gemache vorgeht, wir wenden uns zu dem Vater Konstantius, dem Exeremiten.
Er hatte die Weste aufgeknöpft und saß am Tische, den Kopf mit der Hand stützend. Er hatte oft in seiner Waldhütte gesessen und nichts von dem Sturme draußen vor der Tür vernommen, doch nie so weltabgezogen, so nur mit sich selber beschäftigt wie jetzt, im lebendigsten Mittelpunkte der Stadt, die Freunde seiner Jugend neben sich, die liebliche Freundin hinter der Wandtapete.
Politik, Kunst, Wissenschaft, Staatsleben, Liebe, Freundschaft und Verwandtschaft?
»O Innocentia!« seufzte er, und dann dachte er an seinen Wald im Frühling mit Pulmonaria officinalis, Hepatica nobilis, Anemone nemorosa, sowie und vor allen anderen Primula veris in Blüte und Sonnenschein. Nicht mit der Spitze des kleinen Fingers tippte er sich, sondern mit der Faust klopfte er sich vor die Stirn, während die zwei Spukgestalten des Tages aufeinander einzeterten. Er sah sich am Winterabend, während die Kartoffeln in der Asche des niedergesunkenen Kaminfeuers brieten, mit – Oppermann im traulichen Verkehr und – – griff nach seinem Hut und Stock.
»Mit diesem Gesindel soll ich mich noch einmal herumschlagen?« murmelte er. »Nicht um die Glorie aller drei schlesischen Kriege, nicht um den ganzen Ruhm des alten Fritz!« schrie er und hieb dabei mit solchem Ingrimm auf den Tisch, daß des Barons Teegeschirr (er trank Kamillentee) hinunterhüpfte, daß der Baron selber sich statt auf das Sofa daneben auf den Teppich setzte und der Herr von Magerstedt seine Dokumentenmappe zur Erde fallen ließ. »Lassen Sie sich von dem da sagen, wer ich bin, Magerstedt! Ob Sie mich dann auch zu Ihren Gläubigern zählen werden, ist mir ganz gleichgültig. Machen Sie Ihre Geschäfte ruhig weiter unter sich ab, zu den meinigen habe ich Sie nicht weiter nötig. Ich empfehle mich.«
Er empfahl sich in der Tat durch diese Art Abschied zu nehmen mehr als durch irgend etwas anderes, was er im Verlaufe dieser Historia sagte oder tat. Aus der Wand hervor drang ein schwirrender, zirpender Ton; aber der liebe Himmel bewahre jedermann vor einem derartigen Heimchen am häuslichen Herde.
»O, werde du mir nur erst ganz zum Geist, Philibert!« kicherte Rosa hinter der Tapete; – ja, sie kicherte diesmal auch, jedoch auf eine ganz andere Weise als der holdselige Spuk im Walde.
Der Einsiedler ging bereits die Treppe hinunter, als der Freund Magerstedt an den Onkel Püterich sehr verblüfft die Frage stellte:
»Werde ich es vielleicht erfahren, wer dieser rohe Patron mit dieser so ungemein gesunden Lunge und plebejerhaften Faust war?«
Der Onkel nannte kaum vernehmbar den Namen, und der Herr von Magerstedt nahm Platz in dem Lehnstuhle seines Freundes, ohne fürs erste imstande zu sein, seine Schuldverschreibungen auf dem Fußboden zusammenzulesen. In dem Augenblicke jedoch, als der Vater Konstantius drüben jenseits der Gasse die Tür der Konditorei aufdrückte, hatte er sich bereits wieder gefaßt und sprach:
»Kennst du das Trauerspiel Herzog Theodor von Gothland vom Auditeur Grabbe in Detmold, Püterich?«
Der Onkel mußte es verneinen.
»Nun, du warst immer ein unliterarischer sensueller Bursche, Philibert; während ich stets meine höchsten Genüsse in Ästheticis suchte und fand. Nun sieh, in jener anmutigen Tragödie schleppt der Herzog seinen Todfeind, den Mohren Berdoa, in eine düstere grausenvolle Höhle mit den aufmunternd traulichen Worten:
– – – – – – – – – – Von keinem Fuß
Wird sie betreten, und ununterbrochen ist's
In ihren Räumen stille wie ein Grab! Dort
Sind wir allein! Dort will ich dich morden!
Püterich, hier in deiner Höhle sind wir jetzt auch allein, hier will ich dich morden. Die kleine Piepenschniederin kriege ich weder auf deinen noch meinen Kredit mehr. Zwanzig Jahre lang hast du auf meine Kosten gelebt, und heute befinden sich meine Finanzen in einer ebenso totalen Auflösung wie die deinigen. Die Sonne sinkt,
An deinem ganzen Körper sehe ich
Kein einziges Glied, das mich nicht schwer
Beleidigt hätte; schmeichle dir nicht, daß
Du eher stirbst, als bis ein jegliches
Die Schuld gebüßt hat; –
nimm Platz und laß uns abrechnen. Mensch, du kannst dich gar nicht setzen, ohne daß ich mir wütend sage, daß ich allein es bin, der die Fähigkeit dazu diese ganzen Jahre hindurch an dir weiter gefüttert hat! He, he, und solch ein Zusammentreffen – stoßen wie da eben, soll einen wohl gar noch milde stimmen? O ja, Der fehlte mir auch gerade noch zum heutigen Abend und – zum – Abend – unseres – Lebens – mein guter Püterich! Sonst aber mag er sich doch ja nicht einbilden, daß er überhaupt noch für mich existiert!«