Wilhelm Raabe
Vom alten Proteus
Wilhelm Raabe

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Sechstes Kapitel.

Nun ist es wieder süße Abenddämmerung mitten im schönen Sommer, und wieder hat Ernesta sich auf das Recht der Jahreszeit und der Natur gestellt und allen ihren Verpflichtungen gegen die lieben Eltern ein Schnippchen geschlagen. Die lieben Eltern wollen es ja nicht anders, und so ist das gute Mädchen bei sinkender Nacht hinter den eindringlichsten Vermahnungen, Ge- und Verboten von Papa und Mama weggeschlichen und hinter den Büschen zu dem zierlichen Gartengitter geschlüpft, an dessen Außenseite der Geliebte in aller Verwirrung, Unruhe und Aufregung des Daseins gleichfalls hinter dem Busche harrte.

Unter Umständen soll ein verstohlener Kuß durchs Gitter köstlicher sein als hundert von fünfzig Tanten genehmigte vor vollständig versammelter Verwandtschaft. Hilarion und Ernesta aber fanden das heute abend noch weniger als am gestrigen und vorgestrigen. Ernesta hatte eine entsetzliche Angst, und der Assessor bei der Regierung hatte einen Geist gesehen und der Geliebten Mitteilung davon zu machen.

Und er hatte die Geschichte, das wunderbare, wundersame Erlebnis dreimal vorzutragen, ehe er imstande war, seine Verlobte zu der Überzeugung zu bringen, daß er ihr nichts vorlüge. In der Beziehung war es jammerschade, daß er den Onkel Püterich nicht mit als anderen Zeugen an das Gartengitter führen konnte; ihm hätte die Geliebte vielleicht auf das erste Wort geglaubt.

Der Geliebten erstes Wort war natürlich:

»Hilarion?!«

Worauf der Geliebte in fliegender, sich überstürzender Hast erwiderte:

»Ich habe in Leipzig, Bonn und Berlin studiert; ich war heute Morgen auf dem Polizeibureau und ließ mir die Bevölkerungsregister nachschlagen. Ich habe auch keine Ahnung gehabt, daß Rosa von Krippen existiert hat: Ernesta, es gibt doch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als sich unsere Schulweisheit träumen läßt!«

Nomina sunt odiosa, aber Zitate sind oft noch viel odioser: kein Gott hilft uns davon, das von neuem drucken lassen zu müssen, was die klügsten Leute immer wieder als etwas Frisches beibringen! Crambe bis cocta, zweimal gekochter Kohl kann etwas ganz Delikates sein; aber wenn Ernesta, nachdem sie zum dritten Mal den Geliebten hat ausreden lassen, flüstert: »Also auch die Geisterwelt hält ihre schützende Hand über uns!« so glauben wir auch das schon häufiger als zweimal in einem Buche gelesen zu haben, ständen uns jedoch selber nicht wenig im Lichte oder vielmehr vor dem Löffel, wenn wir durch diese Bemerkung irgend jemand den Appetit verdorben hätten.

»Ich möchte mich hier hinwerfen und die Erde mit meinen Nägeln aufreißen, wenn ich mir vorstelle, daß dieses in Fleisch und Blut umher hinkende Gespenst, deines Onkels Freund, in diesem Augenblick sich den Tisch in seinem Hinterstübchen hat decken lassen!« stöhnte Hilarion. »Stelle es dir vor, daß er dabei nur in der Aussicht schwelgt, dich demnächst als Gegenüber bei seiner Hafergrütze zu haben! Stelle dir mich, stelle dir meine Aussicht dann aus meinen Fenstern auf dich vor und sage mir, was wir tun sollen, um das abzuwenden?«

Er hatte sich mit beiden Händen in die Haare gegriffen, und mit beiden armen kleinen Händchen hielt sich Ernesta an den eleganten Eisenstangen, die sie von dem Geliebten trennten.

»Entsetzlich wäre es!« flüsterte sie schaudernd. »Ist dieser Einsiedler im tiefen Walde wirklich keine Fabel, kein Märchen, Hilarion?«

Der Assessor zog die eine Hand aus den Locken zurück, jedoch nur, um sich mit ihr vor die Stirn zu schlagen.

»Himmel, wie dumm, wie vergeßlich, wie verwirrt der Mensch ist! Hätte ich mich nicht gleich auch danach auf der Polizei erkundigen können? Daß er existiert, weiß ich freilich. Darin hatte die Erscheinung, hatte – Rosas Geist recht.«

»Herz, so will ich all meinen Mut zusammennehmen, und wir wollen es darauf ankommen lassen. Wo willst du mich mit der Droschke erwarten? und zu welcher Stunde ist es dir am passendsten? Was mich hier erwartet, weiß ich, und es ist das Schrecklichste, was mir begegnen kann. Was haben wir sonst noch zu fürchten, gesetzt den Fall, du habest dich geirrt und nur wunderlich geträumt?! Ich meine, morgen nach Mittag, wenn Papa und Mama Mittagsruhe halten, ist die gelegenste Zeit. Erwarte mich hier mit einem Wagen und hilf mir über das Gitter. Wir fahren zu deinem Einsiedler, und die Geisterwelt mag fernerhin schützend ihre Hand über uns halten.«

»Ernesta! Ernesta! wo steckst du?« rief man in diesem Moment zum zweiten Mal in dieser wahrhaftigen Geschichte vom Hause her, und wiederum flötete das liebe Kind zurück:

»Hier, Mama!«

»Punkt vier Uhr morgen nachmittag!« flüsterte Hilarion tief, tief aus dem Jammer der Welt hervor, und Ernesta eilte nach einem krampfigen Händedruck der Villa zu. Bis morgen nachmittag um vier Uhr wissen wir mit keiner Seele in dieser Historie das geringste anzufangen und füllen daher die uns sich aufdringenden Mußestunden so gut wie möglich aus. Der Narr rechnet nach Jahren, der Kluge nach Tagen, der Weise nach Minuten, und wir, die wir das alles durcheinander sind, wir nehmen den Hut vom Nagel und machen einen Spaziergang durch den Aprilabend. Nicht dick und fett mit den Gefühlen eines Philisters, der das fetteste Schwein in der Gemeinde geschlachtet hat; auch nicht mit den Gefühlen des Genius, der da sagt: »Heute habe ich aber mal wieder das Dasein von hundert Individualitäten in meiner eigenen durchgekostet und theatrum mundi mag nun meinetwegen einfallen!« – sondern ganz schmächtig und bescheiden als des hohen Dichters entfernter armer Vetter oder vielmehr Halbbruder, wie die Ästhetiker sagen, der den Tag über wieder einmal saß und allerhand Rauchbilder des Lebens auf den Teller kritzelte. Unseren Lesern und Leserinnen wünschen wir auf ihre Teller ein nahrhafteres Gericht, und dieser Wunsch kommt gewißlich aus einem guten Herzen; denn wir finden in unserer Bekanntschaft nur einen einzigen Menschen, der sich lächelnd ob seiner Behaglichkeit beneiden läßt, und dieser seltene Glückliche gründet sein Wohlsein einzig und allein in dem Schmunzeln, mit dem er sein Tellertuch auf den Knien ausbreitet und ächzt:

»Ha, das ist einmal wieder ein Essen, das einen für viel geistigen Kummer entschädigt!«

Der Mann hat recht! Der Mann ist glücklich, während der große Genius, der vorher erwähnte Poet sich's ausmalt, wie Homeros den König Alexander den Großen zwang, um das Grabmal des Achilleus zu laufen – und sich den Kopf darüber zerbricht, wie nun er es anfangen soll, einen künftigen Heros zu bewegen, sich seines Opus wegen außer Atem zu bringen und in Schweiß zu setzen. Daß das seine Schwierigkeiten hat, weiß er, und daß, zum Exempel, Kaiser Wilhelm und Bismarck sich nicht darauf einlassen würden, weiß er auch. Zu Tische kann er mit der Gewißheit ja auch gehen; aber ob auch ihn das Essen für seinen geistigen Kummer entschädigt, ist eine andere Frage. Unsere tägliche Selbsttäuschung gib uns heute!


Und Papa und Mama hielten ihre Siesta, und der Assessor Abwarter hielt mit seiner Droschke an der verabredeten Stelle. Ernesta ließ nur zehn Minuten über die verabredete Zeit auf sich warten; dafür aber brachte sie denn auch den Schlüssel zu einem Hinterpförtchen des väterlichen Gartens mit. Sie war ungemein bänglich erregt, faßte sich aber um desto rascher in dem Gedanken, daß es eben nicht anders gehe, und daß die Eltern es ja so gewollt hatten.

»Was ich tue, so tue ich immer eine Sünde!« schluchzte sie, als sie sich von dem Geliebten in den Wagen heben ließ.

»Du bleibst immer gut! und alles, was du tust, tue ich mit,« flüsterte der Assessor, neben ihr Platz nehmend. Die Gäule zogen an, es gab einen Ruck, infolgedessen Mund und Mund sich so nahe zusammenfanden, daß – nun, wir schreiben keine Abhandlung über die Sünde, und was die Erbsünde anbetrifft, so – kurz, sie steckten beide, Jüngling und Jungfrau, im Jammer der Welt, die Droschke rollte in der vorgeschriebenen Richtung fort, und es war einer der heißesten Julitage im Jahr.

Nach fünf Minuten sagte die Jungfrau, ein wenig freier atmend:

»Bester Hilli, du hast doch die Gartentür wieder zugeschlossen? Ich wollte es dir noch sagen, daß du es tun und den Schlüssel dann über das Staket auf den Sandweg werfen solltest, habe es aber in der Aufregung natürlich ganz vergessen. Alle Diebe und Bösewichte, die dem Papa seine Blumen wegholen, schleichen sich von dieser Seite ein.«

Der unvorsichtige Assessor hatte eben so natürlich in der Aufregung an dieses auch nicht gedacht. Die Tür stand offen, der Schlüssel steckte im Schloß, und noch einmal den Kutscher umwenden zu lassen, war doch nicht rätlich. Sie fuhren eine halbe Stunde Weges um die äußersten Barrieren der Stadt; dann in einer Pappelallee wieder eine halbe Stunde lang; dann bog der Wagen in einen Kommunalweg – sie befanden sich im freien Felde und erblickten den Wald auf einer sanft ansteigenden Höhe vor sich.

»O Gott, o Gott, was werden wir erleben?« seufzte Ernesta, und der Assessor wußte keine Antwort darauf; aber ein Trostwort fand er leicht.

Der Kutscher auf seinem Kutschbock pfiff melancholisch die Weise: O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter; – punkt sechs Uhr abends erreichten sie die ersten in das sonnige Feld ihren Schatten werfenden Bäume der Wildnis; die Droschke hielt, der Kutscher stieg ab, öffnete den Schlag und sah mit einem fragenden Blick auf seine Fahrgäste nach seiner Uhr.

»Wir nehmen Sie auf Zeit, lieber Mann,« sprach Hilarion. »Sie warten hier so lange, bis wir zurückkehren.«

»Ganz, wie's den Herrschaften gefällig ist,« erwiderte der Kerl, und der Geliebte führte die Geliebte unter den niedrigen Hainbuchen fort, durch das Haselgebüsch auf einem engen Pfade dem Hochwalde zu. Solange es ihm möglich war, sah ihnen der Kutscher nach; dann wendete er sich zu seinen zwei mageren Gäulen und forderte sie durch einen stummen, aber unbeschreiblich ausdrucksvollen Gestus auf, seine Ansicht von der Sache zu teilen; und bitten wir unsere Leser einmal von neuem mit uns zu erkennen, daß eine wahrhaftige Geschichte immer wahr bleibt, und wenn sie auch vor hundert und mehr Jahren erzählt worden sein sollte.

Die zwei abgerackerten, kaum in Haut und Knochen zusammenhängenden Houyhnhmns schüttelten mit dem guten, treuen Blick ihres edlen Geschlechtes die Köpfe. Was aber die Yahoos anbetrifft, so sind die seit Dr. Jonathan Swifts und Lemuel Gullivers Zeiten in Bildung und Feinheit und Genußfähigkeit weit vorgeschritten: sie haben jetzo auch eine Kunst und Literatur! Dem deutschen, edeln Volke den Rat zu geben, sich einmal auch in dieser Yahooliteratur umzusehen, ist leider nicht notwendig. Es hat sich schon längst darin umgesehen, weiß merkwürdig genau darin Bescheid, vergnügt sich ungemein dabei und – gestattet uns die Bemerkung, daß das rosigste Fleisch, allem andern Fleisch zum Trotz, doch nur ein frisch gewaschen Ferkel aufzuweisen hat, das über frisch gefallenen Schnee zu Markte getrieben wird. – –

Sie gingen Hand in Hand auf dem lieblichen Waldpfade nach der schwülen, weinerlich-bänglichen, fieberhaften Fahrt von der heißen Stadt herauf. Die Sonne ging erst nach ein Viertel auf neun Uhr am Abend unter, und es war für das Liebespaar also noch Zeit für alles – Lichtgedanken, Dämmerungsgefühle und das, was die Nacht in der Menschen Seelen wachzurufen versteht. Folgen wir ihm!

 


 


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