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So, was man so nennt – so ganz natürlich war das Ding denn doch nicht zugegangen; wir, der Autor, gehetzt mit allen Hunden der Kultur des neunzehnten Jahrhunderts, wissen das und geben den Nerven der beiden alten Herren recht und nicht dem Fassungsvermögen ihrer logischen Denkfähigkeit; wobei wir uns die Anmerkung gestatten, daß die ersteren immer eine Realität sind, während das letztere dann und wann eine schöne Redensart ist und auch bleibt.
Es war Rosa von Krippens Geist oder Schatten, der seit einem Menschenalter hinter der Tapete im Wohngemache des Barons Püterich im Püterichshofe klebte, und dem der Nagel, welcher das Bild der schönen Sünderin Innocentia an der Wand befestigte, gerade durch das Schattenherz ging. Wie ein aufgespießter Gespensterschmetterling haftete Rosa von Krippens Schemen zwischen der Mauer und dem aufgekleisterten Tapetenleder und hatte alles anzuhören und anzusehen, was in dem Gemache des Barons gesprochen und getan wurde.
Und Rosa war um den Baron am gebrochenen Herzen gestorben und klebte zur Strafe und Sühne dafür hinter der Tapete; und der Nagel, der sie anheftete und zugleich das Bild der schönen bösen Innocentia hielt, hatte auch seine mehr als symbolische Bedeutung. Noch nie, seit es Gespenstergeschichten gibt, war die geistige Quintessenz eines Menschenwesens auf gleiche wirkungsvoll begründete Weise zum Dableiben, Zuhören und Beobachten im Erdentreiben genötigt worden. Noch nie war ein jungfräulich-nervös-schüchtern Erdennärrchen in gleicher Art wie hier Fräulein Rosa in die Ecke gestellt worden mit dem uralten Erziehungswort:
»Hier stehst du so lange, bis ich die Überzeugung gewonnen habe, daß du es nicht wieder tun wirst.«
Und länger als dreißig lange Jahre hatte Rosa von Krippen, unbeschreiblich dünn ausgebreitet, hinter der Tapete gehaftet und den Geliebten dreißig Jahre älter werden sehen und Gelegenheit gehabt, während dieser Zeit Dinge von ihm und an ihm zu sehen, von denen sie vor dreißig Jahren – keine Ahnung gehabt hatte! –
Die naturhistorische Gesellschaft sehr platter Tierchen, die mit ihr ihren Aufenthaltsort hinter der Tapete teilte, konnte bei ihren sonstigen Gefühlen nicht im geringsten in Betracht kommen. Was dieser feinfühligen Mädchenseele auferlegt worden war, war etwas; – und ein Jahrhunderte langes »Als-feuriger-Mann-Herumgehen« der Grenzverrücker, der Schätzeverscharrer, der unentdeckten Moritätler war nichts – dagegen! gar nichts!!
Daß ein Mann den Urteils- oder Bannspruch gesprochen hatte, lag klar am Tage oder vielmehr hinter der Tapete, und daß ein weiblicher Gerichtsbeisitzer bei manchem mündlichen und schriftlichen, öffentlichen und geheimen Rechtsverfahren in weiblichen Angelegenheiten sehr am Platze wäre, liegt uns klar am Tage und der holden, aber, wie wir voraussetzen, augenblicklich höchst entrüsteten Leserin sicherlich auch.
»Bah – am gebrochenen Herzen sterben! Mir sollte einer noch mal damit kommen!« ruft die letztere; unbedingt jedoch das Verdienst eines Mannes – aber eines getreuen Eckarts in diesem Fall – nämlich das Verdienst des Autors ist's, sie auf die möglichen, ja sogar wahrscheinlichen Folgen aufmerksam gemacht zu haben, was bei einer künftigen neuen Regelung der gesellschaftlichen und sittlichen Verhältnisse zwischen den zwei Geschlechtern auch in Berücksichtigung zu nehmen sein wird.
»So?« fragt die Leserin, und infolge dieses kleinen Fragewörtchens bleibt alles fürs erste (wenigstens im alten Deutschland) beim alten. – –
»Das ist doch ganz kurios!« meinte der Baron, mit dem Nagel und dem Bilde in der Hand. »Ein Erdbeben hat nicht stattgefunden, und wir beide, Magerstedt, haben uns auch nicht außergewöhnlich lebhaft bewegt. War es dir nicht auch, als ob das Porträt wie durch einen Stoß von der Wand geschleudert worden sei?«
»Ich habe nicht darauf acht gegeben,« brummte der andere. »Ich habe jüngere Dinge im Kopfe als die Bilder der Weiber unserer Vergangenheit. Und was diese da im besonderen betrifft, so –«
»So standest du nie mit ihr auf einem besonders guten Fuße!« kicherte der Onkel Püterich. »Gott, wie solch ein Zufall die verflossene Zeit in einem rege machen kann: Innocentia! – ah!«
»Und Rosa – Rosa von Krippen, Püterich?!« schnurrte der Herr von Magerstedt boshaft grämlich. Ei ja, ei ja, es ist eine lang versunkene Welt; aber – gottlob! – wir sind noch vorhanden, und das ist doch die Hauptsache.«
»Freilich – o gewiß!« murmelte der Baron, in ein immer tieferes Nachdenken versinkend.
Der liebenswürdige Freund hielt sich währenddem wieder an seine Dose, bis ihm die Geschichte zu langweilig wurde und er den Onkel dadurch aus seinen Träumen erweckte, daß er sich emporhob und ihm auf die Schulter klopfte:
»Also du hältst dich an unsere Verabredungen. Ich verlasse mich ganz auf dich und dulde keine ferneren Ausflüchte und Verzögerungen mehr.«
»Verlasse dich darauf. Morgen früh fahren wir zusammen vor, und heute abend mache ich noch dem Nichtchen und ihren braven Eltern eine Visite.«
Er lehnte das Bild Innocentias gegen die Wand, von der es heruntergefallen war, und die beiden Euleriche nahmen für diesmal Abschied voneinander – zärtlich, gerührt, bewegt können wir denselben jedoch nicht nennen. Außerdem, daß sie wußten, was sie voneinander zu halten hatten, wußten sie ja auch, daß sie nahe beisammen – der eine unter dem andern – wohnten, und daß sie sich recht bald wiedersehen würden.
In der angenehmen Abendkühle erschien der Onkel Püterich in der Villa der Eltern Ernestas, und um Mitternacht erschien der Geist Rosa von Krippens dem Assessor bei der Regierung Abwarter, dem Geliebten und verstohlen Verlobten Ernestas.
Alte Gebäuderumpeleien zu schildern und unsere Stimmung daher zu nehmen, ist uns zwar sonst ein Vergnügen, aber dennoch lassen wir diesmal den Püterichshof ruhig bestehen, wie er steht, und versetzen uns ganz und gar in die Gefühle der Seele Fräulein Rosa von Krippens, nachdem der Nagel heraus war, der sie dreißig Jahre lang hinter der Tapete ihres einsilbigen Geliebten und stadtkundig vor Eltern, sonstigen Verwandten, Freunden und Freundinnen Verlobten festgehalten hatte. Daraus saugen wir unsere Stimmung und bringen hoffentlich allen unseren Leserinnen einen Hauch der Befreiung mit.
»Uh,« hauchte vor allen Dingen der Geist Rosas, sich zum ersten Male seit dreißig Jahren frei zusammenziehend und wieder ausbreitend. »Barmherziger Gott, bist du so gut? Ist es denn möglich?! Ist es wahr?!!!!«
Es ist wahr! Die naturhistorische Gesellschaft Acanthia im Kleister fing an unruhig zu werden, weil es möglich, weil es wahr war: der Geist Rosas durfte zum ersten Mal wieder die Stellung verändern, den Platz wechseln! Was Rosa von Krippen im Leben nie zu tun gewagt hatte, das tat ihre Seele jetzt nach nahezu vollendeter Buße: sie reckte und dehnte sich natürlich – sie schüttelte sich sogar. Sie wendete sich schaudernd von der Aussicht in dem Zimmer des Onkels Püterich ab; – mit dem Gesicht gegen die Wand, mit der Rückseite gegen die Hinterseite der Tapete gedreht, fuhr sie auf und ab an der Mauer; Innocentia, die Tänzerin, hätte ihr ihre Schattensprünge nicht nachgemacht – –
Meine Damen, man muß dreißig Jahre lang selber als prüde, prätentiöse deutsche Jungfrau hinter der Tapete geklebt haben, um ihr diese Gefühle nachempfinden zu können – – – – –! Was uns, den Gewährsmann, angeht, so entnehmen wir, wie gesagt, nur unsere gegenwärtige Stimmung daraus. Unser Geschick bewahre uns gnädig davor, in ähnlicher Weise festgenagelt zu werden. Wenn uns der Nagel nicht durch das Herz geht, so wird er uns sicherlich durch die Stirn getrieben werden; aber, bei den Unsterblichen, es gelüstet uns nichtsdestoweniger, zu wissen, für wessen Bild er durch die Tapete und unser Hirn in die Mauer geschlagen werden wird!
»Stecken Sie sich doch gefälligst hinter die Tapete,« wird die freundliche Leserin lächelnd raten; und wir brechen ab, das heißt wir fahren anlautend fort, den Gefühlen Fräulein Rosas weiter Folge zu geben.
»Es ist mir im Leben schwer geworden, mich zu äußern, wie ich empfand,« hauchte der gelöste Geist; »jetzt möchte ich schreien können, um zu sagen, wie ich mich fühle! Ich habe mich immer nur ahnen lassen wollen und habe in Verdrießlichkeit und trübseligem Schmollen meine Tage verbracht, wenn meine Umgebung nicht fähig war, mich zu fassen. O Gott, frei, frei, frei von der Wand! Frei von diesem fürchterlichen Nagel! Ah! – ah! – oh!«
Und Rosas Geist sah den Onkel Püterich Toilette machen, sah ihn seine bessere Perücke aufsetzen, sah ihn nach seinem Hut und Stock suchen und sah ihn abziehen. Er hörte ihn die Treppen hinunterhuschen (ist es nicht seltsam, daß wir von Rosas innerstem Wesen als einem Er reden müssen?), und er hörte die Droschke fortrollen, die den einstigen Geliebten zur Villa Piepenschnieder führte. Er zögerte noch ein Weilchen, dann wagte er's bangend und streckte die Zehenspitze durch die Tapete (unsichtbar natürlich, da es noch Tag war!), das Knie folgte, eine Hand folgte, es folgte die andere – der Nasenspitze folgte der Rest des Gesichtes und sonstigen Körpers: Rosa von Krippen stand mit einem Geistersprung inmitten des Gemaches Philibert Püterichs!
»Ah!« –
Wenn wir auch einmal die Wohligkeit einer solchen oder ähnlichen Erlösung gekostet haben werden, sind wir vielleicht imstande, den Zustand ganz genau zu schildern, und finden auch vielleicht jemand, dem wir ihn in die Feder diktieren können. Was wir heute angeben können, ist nur ein verhältnismäßig Äußerliches: Rosas Geist drehte sich drei Minuten mit der Geschwindigkeit eines Kreisels um die eigene Achse; Rosas Geist hob die linke Fußspitze gegen die Decke und hob die rechte. Rosas Geist hüpfte auf und drehte sich von neuem ein halb Dutzend Mal in der Luft um sich selber. Rosas Geist war eben im Begriff, sich auf den Kopf zu stellen, was selbst Innocentia in ihrem Erdendasein nur in ihrer kindlichsten Jugend öffentlich getan hatte, als leider Gottes jemand – vielleicht der Briefträger – an die Tür pochte, und – er (Rosas Geist) in einem jähen Rückfall in die alte Erdenschüchternheit sich blitzschnell zurück hinter die Tapete rettete. Der Pochende marschierte, da niemand ihm öffnete, verdrießlich wieder ab; aber Rosa von Krippen fühlte es durch ihren ganzen Schatten, daß sie sich von dem Schrecken zu erholen habe, blieb bis Mitternacht an der Stelle, wo sie dreißig Jahre lang gewesen war, und wagte sich dann erst zum zweiten Mal hervor, ihrerseits den Leuten zum ersten Mal im Verlaufe ihres Banns einen Schrecken einzujagen. An dem Herausfliegen des Nagels und dem Herunterfallen der Lithographie vorhin war sie ja nicht schuld, – durchaus nicht! – aber die Sünderin Innocentia kann vielleicht Auskunft darüber geben; – sie will aber vielleicht nicht.
Es ist jetzt für uns Mitternacht. Am anderen Ende der Stadt schlummern in der Villa Piepenschnieder Papa und Mama sänftiglich. Die Dienerschaft schläft, leise rauschen die dunkeln Bäume und Büsche um das Haus. Die Rosen duften auch in der Nacht, und der Springbrunnen vor Ernestas Fenster treibt gleichfalls im Dunkeln sein munter Spiel weiter. In der Villa Piepenschnieder, in ihrem Kämmerlein sitzt nur das Fräulein des Hauses wach in ihrem Bette. Eine Viertelstunde nach Ankunft des guten Onkels hat man sie aus dem Garten in den Salon zitiert, und sie hat schöne Dinge zu hören bekommen. Um Mitternacht überlegt Ernesta immer noch diese Dinge und sucht vergeblich sich in sie zu finden.
Um Mitternacht schläft im Püterichshofe der Onkel Püterich den Schlaf des Gerechten, der irgendeinen, ihm selbst recht löblich erscheinenden Vorsatz wieder einmal zur Ausführung gebracht hat. Er schnarcht, und Rosas Geist hört ihn durch drei Wände hindurch schnarchen. Die zwölf feierlichen Schläge sind eben verhallt, und – Rosas Geist wagt es zum zweiten Mal, aus der Tapeten hervorzutreten. Aber er muß durch des Onkels und einstigen Geliebten Schlafgemach, um in die Wohnung des Assessors bei der Regierung Hilarion zu gelangen, und er zittert auf der Wand, wie jeder andere Schatten hinter einem flackernden Lichte.
Er muß! er fühlt es, daß er muß, und er nimmt alle seine Energie zusammen! Er wagt es – er geht durch die drei Wände, die ihn von dem schlummernden Baron trennen – schreckhaft gleitet er an dem Lager desselben vorüber. Er hoffte eben, unbemerkt durchzugelangen und, – er irrte sich: Die Stunde der Sühne war da – war auch für den alten Sünder Püterich da! der graue höhnisch-kalte Heimtücker und Baron sollte den Geist der Geliebten sehen und – er sah ihn!
Er saß mit einem Mal aufrecht im Bett, auf beide Hände krampfig sich stützend, und starrte auf den zarten, ihm einst so zärtlichen Spuk. Die Haare konnten ihm nicht emporsteigen, denn seine Perücke hing über dem Perückenstock auf dem Tische neben seinem Bette, aber was er noch an Zähnen besaß, klapperte zusammen, und sein Blut koagulierte, und kein Geschüttel machte es ihm für den Rest des Tages wieder flüssig.
»Allbarmherziger! – was ist? – Rosa!«
Mit beiden Schemenhänden abwehrend, zog sich die Erscheinung gegen die nächste Wand. Von ihr den Rücken gedeckt, sah sie noch einmal stumm mit den Gespensteraugen auf den gänzlich unzurechnungsfähigen alten Verbrecher, und dann – dann hatte noch nie, seitdem tote Geliebte den treulosen Liebhabern erschienen sind, eine Grabesbraut mit solcher Heftigkeit und solchem schaudernden Widerwillen ihre Schleier und sonstigen Gewänder bis aufs Hemd zusammengefaßt, um durch die Mauer zu verschwinden. Kein lieblich Erdenkind, kein Fräulein der besseren Stände entflatterte, von einem Besuch im tiefsten Negligé ertappt, jemals schreckhafter durch die Tür, wie in diesem Augenblick der Geist Rosas durch den Kleiderschrank ihres Philiberts.
Philibert aber fiel hin, wie am Nachmittag das Bild Innocentias. Es war fünf Minuten und drei und eine halbe Sekunde nach zwölf Uhr, und um zehn Uhr morgens lag er noch immer. Es war eines der größten Mirakel, daß er überhaupt je wieder aufstand, und es zeugte jedenfalls von seiner guten Konstitution; denn mancher andere in seinem Alter wäre nach einem solchen Schrecken in alle Ewigkeit liegen geblieben.