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Der schmale Pfad verlor sich immer mehr in das fröhliche Märchen. Schon seit ewiger Zeit konnten Hilarion und Ernesta nicht mehr Hand in Hand gehen; sie wanden sich hintereinander durch das verwachsene Gezweig. Hilarion bahnte den Weg und Ernesta folgte. Sie litten beide an einer süßen Eingenommenheit aller Sinne, die sie unfähig machte, nochmals über sich, ihr seltsames Unterfangen und die kuriosen Dämonen, denen sie sich anvertraut hatten, nachzudenken. Die Vögel rund umher sangen so aufmunternd in ihre Betäubung hinein, daß sie für jedes Mirakel, welches ihnen begegnen mochte, bereit waren.
Zuerst aber begegnete ihnen kein anderer als Freund Oppermann, und zwar ganz im richtigen Moment, nämlich in dem Augenblick, wo sie zum ersten Mal stillstanden und sich umsahen. Der Wald war sehr umfangreich, erstreckte sich meilenweit nach allen Richtungen hin; aber es lebte nur Ein Einsiedler Konstantius drin, und der war also, wenn das Glück und der Zufall nicht halfen, gerade so schwer zu finden, wie die bekannte Nähnadel im Heuwagen.
»Du hast dich hoffentlich nach dem Wege erkundigt, Hilli?« fragte die Geliebte, und kleinlaut mußte der Geliebte gestehen, daß er weder bei Rosa von Krippen noch auf der Polizei danach angefragt habe.
»Das ist aber höchst fatal,« rief Ernesta. »Was fangen wir denn nun an, Herz? Ich glaube, dieser Weg verläuft sich immer mehr in die vollständige Wildnis. O Hilarion, du hast mich hergeführt, und ich verlasse mich ganz und gar auf dich!«
»Das sollst du auch können, Liebste, Beste,« sagte der Assessor. »Von welcher Seite sind wir denn aber eigentlich hergekommen?«
»Ich meine von dort!«
»Nein, das meine ich nicht; denn bei unserem Eintritt in den Wald hatten wir die Sonne zur Rechten.«
»Solltest du dich da nicht irren, bester Hilli?«
»Gewiß nicht! Aber warte nur; es führen alle Wege doch irgend wohin, und so muß doch auch dieser seine Richtung haben. Laß uns nur noch ein Streckchen weiter gehen, wir gelangen sicherlich bald auf einen gebahnteren Pfad.«
Sie wanden sich noch ein Streckchen weiter durch das Unterholz, und der Jungfrau wurde es immer unbehaglicher zumute. Plötzlich stand sie von neuem still und sagte ein wenig vorwurfsvoll:
»Siehst du, dieser Weg führt nirgends hin! O Gott, was soll daraus werden, wenn es Abend, wenn es Nacht wird und wir hier noch immer in der Irre herumlaufen. Der Kutscher wird nicht warten bis morgen früh; er wird nach Hause fahren. Wir werden den Einsiedler Konstantius nicht finden. Du hast doch nur geträumt, und ich habe mich viel zu schnell zu dieser gräßlichen Unbesonnenheit verführen lassen!«
»Mein liebes Kind –«
»O, du trägst alle Verantwortung! Du hast mich hier in die Angst, in die Verwirrung gebracht. O Gott, o Gott, was werden Papa und Mama, und der Onkel Püterich sagen? Was wird die ganze Stadt sagen? O Gott, da will ich doch tausendmal lieber hier in der Wildnis umkommen und mich von den wilden Tieren fressen lassen, als nach der Stadt zurückkommen und die Leute und Papa und Mama reden hören! O, o, oh, hätte ich mich doch auf der Stelle nach Lausanne zu Madame Septchaines zurückbringen lassen!«
»Ernesta?!« rief der Geliebte vorwurfsvoll.
»Ja, ja, Hilarion! Mit tausend Freuden wollte ich da meine Erziehung von neuem anfangen lassen! und auf morgen abend sind wir zu Erbachers zum Gartenfest, Konzert und Ball gebeten. Meiner Mama Pate, der junge Herr Richard, ist aus Paris zurückgekommen!« schluchzte jetzt schon das gute Kind, obgleich die Sonne noch immer hell und freudig am Himmel stand und die Vögel lustiger und lebensmutiger denn je zwitscherten und pfiffen. Gerade jetzt aber vernahmen sie – Er und Sie – ein Kichern neben sich – vor sich, hinter sich – über sich; sie wußten selber nicht, woher es kam. –
»Was war das?« fragten sie beide; Oppermann, den ihnen ihr Schicksal jetzt zu Rat und Trost hersendete, war es jedenfalls nicht.
Der raschelte, hustete, fluchte und schnaufte höchst menschlich und deutlich zu ihrer Linken im Busch.
»Gottlob, da kommt ein Mensch!« seufzte der Assessor bei der Regierung aus etwas befreiterer Brust; er hatte sich selten in seinem Leben so sehr nach irgendeinem Menschen, den jungen Herrn von Erbacher vielleicht ausgenommen, gesehnt. Er, der in seinem Umgange sonst außerordentlich wählerisch war, machte in diesem Augenblicke die allerbescheidensten Ansprüche, und Oppermann genügte denselben vollständig.
Er war natürlich betrunken, und jünger und hübscher war er seit dem Tage, an welchem er den Eremiten zuerst in seinem Revier entdeckte, auch nicht geworden. Als er aus dem Buschwerk hervorbrach und taumelte, stieß Ernesta einen Angstruf aus und klammerte sich wieder fester an den Geliebten. Oppermann aber legte die Hand über die schwimmenden Äuglein, griff militärisch, so gut es ging, zum Gruße an die Mütze, schwankte noch drei Schritte näher und grüßte zum zweiten Mal mit einem unbeholfenen Kratzfuß sehr zutunlich und, wie es schien, gleichfalls recht erfreut über die angenehme Begegnung.
»Herrje, Herrje,« stammelte er grinsend, »da – sind wir – die jungen Herrschaften ja schon wieder! Mit Verlaub – Fräulein, was – haben Sie denn bei uns gestern vergessen?«
»Gestern?« fragte das Fräulein, und:
»Gestern?!« wiederholte Hilarion ebenso verwundert wie sein Bräutchen.
»Mit Verlaub, ich hab' Sie beide doch gestern nachmittag erst aus dem Walde herausgedigerieret. Zwanzig Silbergroschen Douceur – der junge Herr hätte auch wohl einen Taler draus machen können.«
»Liebster Mann,« rief der Assessor dem immer vergnüglicher blinzelnden Oppermann zu: »gestern waren wir, ich und das Fräulein, nicht hier in Eurem verhexten Walde, und Ihr habt uns also auch nicht wieder hinausdirigieren können. Aber einen Taler zahle ich Euch mit Freuden, wenn Ihr uns jetzt noch tiefer hineinführt, das heißt zu dem Herrn Konstantius, der hier in der Gegend wohnen soll!«
Der Alte hatte sich glucksend an einen Baum gelehnt und schüttelte bedenklich den Kopf.
»Mit Verlaub, Sie waren es nicht, die gestern schon bei Herrn Konstantius um Rat waren?«
»Gewiß nicht; auf Ehre!«
»Na,« rief der muntere Greis nickend, »hören Sie, dann fängt es aber allnachgerade an von Ihnen hier im Revier zu wimmeln, und der Va–ter – Konstan–ti–us hat recht.«
»Worin hat der Vater Konstantius recht?«
»Darin – nämlich, daß es ihm zu viel wird und er ausziehen will.«
»Gütiger Himmel!« flüsterte Ernesta; aber ihr kluger Hilli war mit seinen Überredungskünsten glücklicherweise noch nicht zu Ende.
»Hören Sie, alter Freund,« sagte er zutraulich, »es soll mir auch auf zwei Taler nicht ankommen, wenn Sie uns diesmal noch den Weg zu Ihrem Einsiedler führen.«
»Hm!« murmelte der Alte, vor einem durch das Gezweig blitzenden Strahl der sinkenden Sonne niesend und dann die Nase mit dem Knöchel des rechten Zeigefingers reibend.
»Ne!« brummte er, einen Entschluß herausreibend. »Ich tu' es nicht! Er ist seit dreißig Jahren mein einzigster Kumpan und Trost in der Einöde, und er will keine unglücklichen Liebespaare mehr. Er will sich nicht mehr überlaufen lassen. Weshalb sind Sie es gestern nicht gewesen? Gestern wären Sie die Allerletzten gewesen, die er vor sich gelassen hat.«
»Siehst du, Hilarion?« schluchzte Ernesta, »o Gott, gib ihm nur schnell ein Trinkgeld, und laß ihn uns zu unserer Droschke zurückbringen!«
»Ernesta?!« stammelte Hilarion nun wirklich ein wenig vorwurfsvoll; doch glücklicherweise hatte Oppermann der Brave das bängliche Wort des armen Kindes überhört und ergriff seinerseits von neuem mit immer dickerer Zunge stammelnd das Wort:
»Wissen Sie, was ich tun will für die zwei Taler? Ich will Ihnen die Direktion angeben, und wenn Sie hernach Ihren Weg allein finden, so ist uns allen geholfen. Wollen Sie?«
»Gewiß, Sie alter –« schrie der Assessor bei der Regierung, das Hauptwort im Satze verschluckend.
»Na, dann verlassen Sie sich nur auf Oppermann; Sie sein die ersten nicht, denen er die Direktion angegeben hat. Sie halten sich also zuerst –«
Und er fuhr fort, wir aber fahren nicht in dieser Richtung fort, ihm zu folgen, denn eine umständlichere Wegbeschreibung hatten Hilarion und Ernesta noch nimmer in ihrem Leben erhalten; es war unter allen Umständen ein Jammer, daß er – der Vater Konstantius – noch in keinem Reisebuch stand, und daß weder Herr Bädeker noch Herr von Berlepsch ihn in seiner Wildnis aufgefunden und touristengerecht gemacht hatten!
Den Schluß von Oppermanns Rat und Andeutung dürfen wir jedoch unseren Lesern nicht vorenthalten, denn er war in mehr als einer Hinsicht von Wichtigkeit und in jeder ungemein merkwürdig.
»Ohne meinen Dorst hätten Sie lange suchen sollen, liebste junge Herrschaft! Das Trinkgeld ist redlich verdient, da verlassen Sie sich auf Oppermann. Aber eines will ich Sie noch in den Handel geben, Fräulein; nämlich zweierlei. Als wie erstens, wenn Ihnen etwas Absonderliches begegnen sollte auf dem Wege, so erschrecken Sie mich nicht zu arg. Es meint's nicht böse und es tut Ihnen nichts, und mehr darf ich nicht sagen. Einige sagen, es ist ein Spuk, andere sagen, es ist eine Dummheit; aber Oppermann sagt, alle sind sie Esel und kennen den Wald nicht und was sein Wesen in ihm hat bei Tag und Nacht, bei Sturm und Sonne, bei Winter- und Sommerzeit. Passen Sie nur auf! wenn Es sich meldet, so denken Sie an Oppermann. Es kennt mich, und wenn Es hinter mir lacht, so denk' ich nur: Na, na! – und wenn Es mir als ein Funken, Vogel oder als eine nackte Jungfer in Spinneweb kommt, dann sage ich auch: Na, na! – und Es kennt Oppermann auch, und Es ist es und nicht das Echo, das lacht: Aber, Oppermann, Oppermann! und auch sein Pläsier an mir hat –«
»Allmächtiger, Hilarion!« rief Ernesta in heller Angst, »hat es nicht vorhin schon gelacht, und wir wußten nicht, was es war?«
»Sehen Sie, Fräulein!« sprach der Alte, sich fester auf den Füßen stellend und mit dem Zeigefinger auf das angstvolle Kind einbohrend – »Das ist Es schon gewesen! Das war Es! und nachher kommen die Leute und sagen, Oppermann hat wieder mal 'nen Rausch gehabt, welches ich von Ihnen doch nicht denken kann, liebes Fräulein.«
»Hm!« murmelte der Assessor, an die Stirn greifend, und:
»Wir wollen umkehren! ich will zu Papa und Mama!« rief das Liebchen.
»Wir wollen weiter – wir müssen und wollen weiter!« rief der Liebhaber, den Arm um das zitternde Mädchen legend, und Oppermann meinte, ganz väterlich begütigend und beruhigend:
»Ja, gehen Sie nur ruhig zu! Es tut Ihnen nichts, Fräulein; gar nichts! Lachen Sie wieder, wenn Es lacht; das hat Es am liebsten, und womit ich zu meinem zweiten Punkt komme, nämlich zu dem Herrn Konstantius, wenn Sie ihn zuerst zu Gesicht kriegen werden, daß Sie denn nicht erst recht erschrecken und mit Recht. Schauderhaft! schauderhaft, sage ich Ihnen! Mit Erlaubnis, haben Sie in Ihrem Leben schon früher einmal einen Einsiedler gesehen?«
»Nein – bis jetzt noch nicht,« stotterten Hilarion und Ernesta, worauf Oppermann, mit der Hand rechts abwinkend, während er das Haupt gegen links neigte, stöhnte:
»Na, denn gratuliere ich.«
»Wozu?« rief Hilarion, allmählich auch immer verstörter um sich blickend.
»Dazu, daß Sie wahrscheinlich erst bei einbrechender Nacht die Bekanntschaft machen. Scheußlich, schauderhaft, gräßlich! – Vor dreißig Jahren ging es noch an; aber dreißig Jahre lang ungekämmt und ungewaschen ist eine schöne lange Zeit. Ich bin sein Freund; aber wenn ich ihn nicht kennte, so brauchte ich länger als einen Tag, um ihn ansehen zu lernen. Uh, und wenn Sie keinen Einsiedler kennen, so kennen Sie auch keinen Einsiedler, der ein Stück von einer Eichel vom vorigen Jahre in seinem letzten Backenzahn stecken hat –«
»Siehst du, Ernesta!« schrie Hilarion, »o Rosa! o, du guter Geist – o Rosa! – Ernesta! siehst du, es war kein Traum, ich habe dich nicht getäuscht – er hat Zahnweh – wir finden ihn zu Hause, und alles, alles wird gut, mein Herz, mein Lieb, mein liebes, armes, liebes Mädchen, und nun komme mir nicht wieder mit deinem Gartenfest morgen abend und dem verruchten Laffen, Monsieur Richard d'Erbacher, deiner Mama Patenkind! ich halte es nicht aus! Da haben Sie meine ganze Börse, Oppermann! und jetzt komm, mein Herz; wir finden den Weg, wir finden den Vater Konstantius, und alles, alles wird gut, – komm, komm!«
Er zog die Geliebte fast heftig hinter sich drein; Oppermann aber, den Geldbeutel des entzückten Jünglings in der harten, knochigen, haarigen Tatze, sprach schwankend das tiefsinnige Wort:
»Und nachher – soll ich – denn immer allein überquer gehen und Dinge sehen und hören – die kein anderer sieht – und die Oberforstbehörde – am wenigsten. Na, laß sie nur gehen, Oppermann; wir beide kennen uns, – und der Herr Konstantius kennt uns auch.«