Wilhelm Raabe
Der Dräumling
Wilhelm Raabe

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Das zwölfte Kapitel.

Es war nicht ziemlich spät in der Nacht; nur der Abend war ziemlich weit vorgeschritten, und der Maler Rudolf Haeseler, welchem der Geheime Hofrat Mühlenhoff mit einem Male unerträglich widerwärtig geworden war, hatte die letzte Bemerkung des letztern Herrn als einen zarten Wink genommen und sich ihm für diesmal empfohlen. Jetzt stand er in der Marktstraße von Paddenau, in einem winterlichen Nebelregen, blickte nach rechts und nach links in die Dunkelheit hinein und zu einigen erleuchteten Fenstern empor und sprach:

»Ich glaube, ich habe bereits neulich mir die Bemerkung gestattet, daß es kein kleines Geschenk des Höchsten sei, wenn er einem Menschen die Fähigkeit verleiht, dann und wann vollständig reine Bahn in sich zu machen; – was tue ich nun, – gehe ich nach Hause, oder gehe ich in den grünen Esel?«

Es ist sicherlich eine schöne Kunst und Gabe, zur rechten Zeit tabula rasa in seinem Innern zu machen: aber dem schönen Mädchen gegenüber wollte sie dem Maler am heutigen Abend durchaus nicht gelingen. Vor seinem Künstlerauge leuchtete zu hell die Erinnerung daran, wie vor zehn Minuten Wulfhilde Mühlenhoff, von ihrem Besuche bei der Frau Agnes Fischarth zurückkehrend, ins Zimmer trat, um sich von dem mißvergnügten, mürrischen, grämelnd-launischen Prinzenerzieher außer Dienst sofort eine bissige Bemerkung nach der andern machen zu lassen, sowohl über ihr Ausbleiben wie über ihr Wiederkommen. Ärgerlich dachte der Maler daran, wie er so erbärmlich das schöne Gleichnis von dem Lichte in der Nacht des Correggio an den Geheimen Hofrat verschleudert habe; aber noch bedeutend mehr Ärgernis gewährte ihm der Gedanke an den Vetter aus Hamburg, Herrn George Knackstert und an die Kohlenstriche, welche er heute morgen der Tochter des Geheimen Hofrats wegen auf seine Papierwand gezogen hatte, und welche er morgen mit Farben ausfüllen sollte, um der holden Wulfhilde zu genügen und den Dräumling in Erstaunen zu setzen.

»Also die künftige Madame Knackstert! . . . Knackstert Witwe und Sohn! . . . Mit wem rechte ich darüber? Mit den Göttern, mit mir selber, oder mit dem Dräumlinge? Bei den Olympiern und bei meiner Seele, sollte es möglich sein, daß nun auch der Dräumling anfinge, mir unheimlich zu werden und sich als eine größere Macht zu erweisen, als die kleine, helle, die Welt bis jetzt so ziemlich klar widerspiegelnde Blase in meinem Gehirne? . . . Was schlägt es da? Halb zehn Uhr? Wenn ich gewiß wüßte, daß ich im grünen Esel noch einen kleinen Krakeel, einen kleinen Meinungsaustausch bis an die Grenze der Stuhlbeine und Spazierstöcke erzeugen könnte, würde ich dem lieben Tiere noch einige Augenblicke meines Daseins widmen. Wohlan, das Einfachste ist, den Versuch zu machen.«

Mit diesem löblichen Entschluß wandelte er fürbaß, erreichte das wirtliche Haus und blickte, bevor er in die offene Pforte trat, durch das beschweißte Fenster in das gastliche Gemach, in welches er schlechterweise die Brand- und Kriegsfackel schleudern wollte, um den Tumult im eigenen Busen zu übertäuben. Aber Paddenau war bereits solide nach Hause gegangen; der höhnische Lauscher sah nur zwei undeutliche Gestalten am Tische der Gaststube einander gegenübersitzen, – die eine ruhig und unbewegt, die andere mit beiden Armen in der Luft herumfahrend.

»Die Möglichkeit ist auch mit dem schwachen Material gegeben,« tröstete sich der Maler und trat in das Haus; das Schicksal aber hielt ihn am Worte, und ach, er ahnte durchaus nicht, wie sehr für ihn die Möglichkeit gegeben war, das Schlachtenglück zu versuchen.

»Guten Abend, meine Herren – was Fischarth? Du noch? Ei, ei, da wackelt daheim der Lar doch sicherlich auf seinem Postament.«

»Laß ihn wackeln; – guten Abend, Haeseler; – die großen Tage und der Herr hier werden mich bei meiner Frau entschuldigen,« sagte der Rektor ungemein erhitzt, aber auch sehr würdig. »Du wirst dich ebenfalls freuen, Rudolf, wenn ich dir hiermit einen Vetter unseres trefflichen Freundes, des Herrn Hofrats Mühlenhoff, vorstelle. Herr Bankier Knackstert aus Hamburg – Herr Rudolf Haeseler aus – aus Europa – der Mann, dessen Ansichten ich Ihnen soeben mitteilte, Herr Knackstert.«

Der Maler mochte sich an irgendeinem freilich etwas fern gelegenen Zeitpunkte freuen, Herrn George Daniel Knackstert kennen gelernt zu haben; im gegenwärtigen Augenblick aber hielt selbst seine Lebensgewandtheit dem Vergnügen nicht stand. Der Genuß kam zu überraschend, und der Künstler griff weniger nach einem Stuhlbeine als nach einer Stuhllehne; er ließ den Stock mit dem Hute fallen und murmelte etwas, welches alles sein konnte, selbst die Versicherung achtungsvollster Zärtlichkeit.

Knackstert Witwe und Sohn erhoben sich, gaben die steifste der Verbeugungen als Rezepisse und saßen wieder fest hin, ohne alle Affektation ihres Wertes sich bewußt.

»Der Herr wurde mir heute abend bereits vorgestellt,« stotterte der Maler und fügte auf den verwunderten Blick des Vetters hinzu: »Der Herr Geheime Hofrat hatte die Güte. Ich komme soeben aus dem Mühlenhoffschen Hause, Gustav.«

»Herr Knackstert wird sich einige Zeit hier aufhalten, Rudolf. Er ist zu spät am Abend in Paddenau angelangt, um heute noch den Verwandten einen Besuch abstatten zu können. Herr Knackstert hat deshalb mit uns im grünen Esel vorlieb genommen, es ist eine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen uns entstanden: Herr Knackstert behauptet, von Hamburg abgereist zu sein, um den dortigen Vorbereitungen zur Schillerfeier und der Schillerfeier selbst aus dem Wege zu gehen, und ich behaupte, das sei nicht möglich, und will diesen Reisegrund nicht gelten lassen. Unsere Paddenauer Mitbürger stellten sich größtenteils auf die Seite des Herrn Knackstert, und es ist mir um so lieber, Haeseler, daß du noch den Weg hierher gefunden hast. Ich bitte dich dringend um deine Mitteilung; du siehst, daß ich einigermaßen aufgeregt bin, und ich glaube, allen Grund dazu zu haben.«

»Ich stelle mich mit deinen Paddenauer Mitbürgern ganz auf die Seite des Herrn Knackstert,« sprach der Maler, der sich unter der sprudelnden Rede des Rektors allmählich wieder gefaßt hatte und sofort den gewohnten Gebrauch von dieser Fassung machte. »Ich bedaure den Herrn aber um so mehr; denn wenn es an der Elbe regnet, so gießt es im Dräumlinge, und ich sehe es Herrn Knackstert an, daß er allgemach die Erfahrung gewonnen hat, daß Paddenau sich nicht von der allgemeinen Erregung ausschließt, daß auch Paddenau seine Vorbereitungen zu dem großen Feste trifft.«

»Ich habe dem Herrn Rektor darüber bereits das Nötige mitgeteilt,« sagte der Hamburger Vetter kleinlaut verdrossen. »In der Beziehung hätte ich mir die Unbequemlichkeiten der Reise ersparen können; doch sieht man immer noch lieber ein fremdes, als sein eigenes Gemeinwesen sich lächerlich machen.«

»Herr?!« schrie der Rektor von Paddenau außer sich.

»Herr, ich nehme mein Wort nicht zurück. Was wollen Sie denn? Ich sage Ihnen ja, daß ich Ihren Poeten mit bedeutend mehr Gleichmut in hiesiger Stadt feiere, als mir in Hamburg zu liefern möglich wäre. Herr, was verlangen Sie mehr?«

»Herr, Sie lästern ganz einfach die Hoheit des deutschen Volkes! Sie beschimpfen unsere Mutter, und das dulde ich nicht!«

»Ach was, Mutter! Bis jetzt ist Hamburg noch nicht in den Zollverein eingetreten.«

Der Rektor von Paddenau stemmte ächzend beide krampfhaft zuckenden Hände auf die Oberschenkel und lachte wie ein Gemarterter auf der Folter.

»Ei, so beruhige dich, Fischarth,« sagte der Sumpfmaler behaglich. »Ist es denn unumgänglich notwendig, daß du uns von unserm Standpunkte herabdrängst? Herr Knackstert, Paddenau und ich stehen nun einmal, wo wir stehen; aber Fräulein Wulfhilde Mühlenhoff hat sich auf deine Seite gestellt, und ich meine, damit könntest du dich zufrieden geben. Wende dich in dieser Nacht in deinem stillen Kämmerlein an den Dichter selbst und frage ihn um seine Ansicht. Ich bin fest überzeugt, daß er deine Aufregung sehr komisch und dein entsetzliches Geschrei sehr überflüssig finden wird. Gib mir Fräulein Wulfhilde als Mitarbeiterin, als Helferin bei einem Werke, und das Universum hat mir nichts mehr zu sagen, was mir wichtig wäre.«

»Mein lieber Herr – Herr Hänseler, wenn ich nicht irre – wie kommt – was ist – was hat das Fräulein, dessen Namen Sie soeben nannten, mit dem Eifer und der Erhitzung jenes Herrn zu schaffen?« fragte der Vetter aus Hamburg mit einem unbeschreiblichen Ausdruck mißvergnügten Erstaunens.

»Sehen Sie!« rief der Maler. »Sie wissen doch noch nicht ganz und vollständig, wie Paddenau das Schillerfest feiern wird, und in welcher Weise es den Schauplatz der Hamburger Dramaturgie in den Schatten zu stellen vermag. O Herr Knackstert, Sie sind nicht umsonst von Hamburg gen Paddenau gekommen; das schöne Fräulein –«

»Ja, das gute Kind wird am zehnten November hier im grünen Esel meine mangelhaften Verse deklamieren,« unterbrach der Rektor mit ehrlichem Gebrumme den Freund. »Es ist sehr gütig von ihr, und ich habe schon ihretwegen mein Bestes getan.«

Gänzlich versteinert konnte man den Hamburger Vetter nicht nennen; sein Mund öffnete sich und seine Augen rollten langsam nach rechts und nach links und sahen erst den Rektor an und dann den Maler Rudolf Haeseler. Er konnte auch noch sprechen; denn nach einer Weile sagte er:

»Das ist nicht möglich!«

»Was ist nicht möglich?«

»Hier in diesem Gasthofe? In dem Saale, an welchen mein Schlafgemach grenzt?«

Der Rektor nickte mit großer Bestimmtheit, und Herr George Knackstert stand plötzlich auf den Füßen, schlug mit der Hand auf den Tisch und rief:

»Mein Herr, ich sage Ihnen, es ist nicht möglich! Sie irren sich, mein Herr. Wissen Sie gewiß, daß da keine Verwechselung zwischen zwei Personen desselben Namens stattfindet?«

Der Rektor zuckte stumm die Achseln, und der Vetter aus Hamburg stöhnte:

»In einer öffentlichen Versammlung?«

»Vor allem Volk des Dräumlings!« sprach der Maler. »Bei den Manen des gefeierten Sängers, ich wollte, auch meine Zimmer stießen am zehnten November an den Saal des grünen Esels!«

»Kellner,« rief der Vetter, »Licht!« und ohne fernern Gruß und Wunsch schritten Knackstert Witwe und Sohn hinaus, und beide Freunde blickten nach einigen Augenblicken von der Tür nach der Stubendecke.

Es ging da über ihren Köpfen jemand auf und ab, der, seinen Fußtritten nach zu urteilen, fürs erste nicht imstande war, fromm sein Nachtgebet zu sprechen, seinen Nächsten darin einzuschließen und sich still und friedlich ins Bett zu legen. Nicht alle, die sich eines gesunden Schlafes erfreuen, können unter allen Umständen sofort einschlafen.

 


 


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