Wilhelm Raabe
Der Dräumling
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das erste Kapitel.

Es war ein ziemlich bedeutender Morast, an dessen Rande der Storch stand, auf welchen wir, da es einmal nicht anders sein kann, die Aufmerksamkeit des Publikums hinwenden möchten.

Die Sonne war vor ungefähr einer Stunde untergegangen; eine warme Dämmerung lag auf der weiten hügeligen Ebene; gelbes und rotes Gewölk auf grauem Grunde spiegelte sich im stehenden Gewässer, und die feine Sichel des Mondes stand fast ebenso zartscharf unten im glatten Teiche, wie oben am dunkelnden Himmelsgewölbe. Schilf, Binse und Weidenstrauch regten sich so wenig wie der ernsthafte nachdenkliche Vogel, welcher der träumerischen Landschaft vor kurzem sein Nachtessen in Gestalt dreier wohlbeleibter Frösche entnommen hatte und nunmehr ruhig verdauete, ebenfalls mit seinem Bilde zu seinen Füßen in den stillen Fluten.

O, wie wir vor einer Viertelstunde noch dieses lang- und rotbeinige, dünnschnäblige Exemplar von Ciconia alba haßten! Wir hatten es streng im Verdachte, um fünf Uhr nachmittags unsere Helden »gebracht« zu haben, und was dem Leser und unter Umständen auch der Leserin ein Vergnügen oder höchstens ein kurzer Überdruß gewesen wäre, das hätte dem Autor sicherlich das Gegenteil vom erstern und eine hundertfach verdoppelte Dosis des letztern bedeutet.

Wir hatten uns wieder einmal geirrt! Das Tier war von einem viel allgemeinern Gesichtspunkte aus zu betrachten, und wir ersuchen auch die verehrliche Leserin, es von einem solchen aus anzusehen. –

Der Sumpf hieß der Dräumling und war seit uralten Zeiten berühmt wegen seiner fetten Frösche und seiner derben Jungen und Mädchen; und wir – wir können und wollen es nicht hindern, daß alles auf dieser Erde seine gewiesenen Wege gehe, und daß immerfort ein wimmelnder Überfluß des Lebens aus der Tiefe in die Höhe geholt wurde.

Der Sumpf oder Morast war von Wäldern, Heiden und kärglichen Ackerfeldern umgeben, und in die Wälder zog er sich in vielen Armen und Abzweigungen hinein; hier stundenbreit sich ausdehnend, dort sich in fast natürliche Gräben und Kanäle zusammenziehend. Eine ärmliche Bevölkerung nährte sich durch harte Arbeit um ihn und in ihm: Waldleute, Landleute, Fischer, Schäfer, und vor allem Bienenzüchter, Torfstecher und Torffuhrleute. – Ein Flüßchen durchschlich – durchschlich wie schlaftrunken die wunderliche Landschaft, und wo dasselbe in Verbindung mit dem Sumpfe und mit Hilfe einer von Hügeln umgebenen Niederung einen See gebildet hatte, lag auf einer Art Halbinsel ein Städtchen von etwa siebentausend Seelen, Paddenau genannt, von Wenden um ein heidnisch greuliches Götzenbild aufgerichtet, von Niedersachsen zur Zeit Heinrichs des Schwarzen und der Frau Wulfhild, der reichen Tochter Herzogs Magnus, der Erbin des Billungschen Allods niedergebrannt und um ein christlich Heiligtum zu Ehren des heiligen Ursus (was für ein Heiliger das war, weiß ich nicht!) von neuem wieder aufgebaut.

Das ist entsetzlich lange her! Es ist aus jener Zeit nichts übrig geblieben als das Grundgemäuer der Ursuskirche, die im Laufe der Jahrhunderte selbstverständlich einiger Reparaturen bedurft hatte, – und eine Sage von einer Sumpffee des Namens Wulfhilde, welche in Mondscheinnächten durch Bruch und Moor und über das stille Gewässer des Teiches einherzieht, mit dem Falken auf dem zierlichen gespenstischen Fausthandschuh und mit einem großen Gefolge von luftigen Fräulein und durchsichtigen Rittern. Paddenau ist jetzt ein ganz gewöhnliches Landstädtchen, das sich weder um den Herzog Magnus, noch den schwarzen Heinrich und das Erbe der Billunger im geringsten kümmert, und welchem die Frau Oberamtsrichter und ihre Töchter viel bedeutendere Erscheinungen sind, als die Damen der Frau Herzogin Wulfhilde von Sachsen und die Frau Herzogin selber. –

»Kurr, krr, krack, klapp, papp, papp!« sagte unser langbeiniger, rotschnäbeliger Freund, sich wie widerwillig dem tiefsinnigen Spiel seiner Gedanken entreißend und seine Flügel dehnend. Aber wie im klaren über den ruhigen Fortgang seines Verdauungsprozesses erhob er sich in die Luft und nahm seinen Flug Paddenau zu, und wir folgen ihm, wenn auch nicht durch die Lüfte, so doch durch Ried, Wald und Heide zu den Lichtern des Städtchens, die nun bereits in der Dämmerung zu flimmern beginnen und sich in dem See um den dunkeln Häuserhaufen spiegeln, mit demselben Rechte wie die immer klarer hervortretende Mondsichel.

Da heben sich Pfähle aus dem Wasser, Füllplätze an Garten- und Hausmauern, schwarze Gebäude mit spitzen Giebeln und rauchenden Schornsteinen. Einige Kähne liegen am Ufer, und ein Plätschern, Kreischen und Lachen erschallt von Kindern, die nacktbeinig in der seichten, warmen Flut waten. Die Erwachsenen und die Alten sitzen nach vollbrachtem Tagewerk vor den Häusern oder in den Gärten. Von Zeit zu Zeit trifft ein Geruch von gebratenem Speck, von Eierkuchen und dazwischen auch wohl ein absonderlicher süßer Duft von selbstgebautem Tabak die Nase; – alles in allem genommen riechen wir Paddenau viel früher, als wir es sehen; doch das ist einerlei: wir halten uns für heute an den Lampenschein, der aus den Fenstern des Hauses fällt, auf dessen Giebel Bartold der Adebar sich soeben niederläßt, um klappernd sich im Neste seiner Ahnen zur Ruhe zu begeben.

Auch dieses Haus grenzt mit seinem Gärtchen an den Paddenauer See, und der Schimmer von zwei Lichtern, die im ersten Stockwerk brennen, zieht uns bedeutend an. Das erste flimmert hinter den Fenstern des Rektors Gustav Fischarth und das andere in der Wohnstube der Frau Agnes Fischarth, des ehelichen Weibes des Rektors von Paddenau –

Drillinge! – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Wir treten in das letztgenannte Gemach in dem Augenblicke, wo der dreimal glückliche Vater den einen seiner Sprößlinge, und zwar den männlichen (die beiden andern sind weiblichen Geschlechtes), so hoch, als es die niedrige Stubendecke gestattet, emporschwingt und dazu mit sonderbarem Pathos deklamiert:

»Weh der gefügigen Wog', die den Helden
Schaukelte an den bithynischen Strand,
Und das beflügeltste Herz von Hellas
Gab in die feige, barbarische Hand!«

»O Gott, Gustav, wie närrisch!« tönte eine matte, verdrießliche Stimme von dem verhangenen Bette her. »Leg ihn wieder hin und laß ihn in Ruhe, wenn du ihm weiter nichts zu sagen hast.«

»Närrisch? Schatz, ich meine, wenn ich mich hier mit ihm auf den Kopf stellte, so solltest du das für angemessen, natürlich und höchst verständig halten! Versetze dich in den Taumel meiner Seele, wenn es dir möglich ist! O, du würdest einen schönen, schönen Tanz aufführen, wenn das dir passiert wäre, Agnes! Komm, o du des Klinias Sohn und der Dinomache, wollt' ich sagen, Gustav und Agnes Fischarths dreifacher Schlingel; hätte mir mein Vater gleich vom Anfang an einen Gradus ad Parnassum unter das Kopfkissen gelegt, so würde auch aus mir ein wenig mehr als ein Rektor von Paddenau geworden sein! Holla – ä – ä – häh – bäh! Da, Frau Lurchenbach, nehmen Sie mir den jungen Lyriker ab, und du – Agnes – nochmals meinen besten Dank, du hast deine Sache ganz ausgezeichnet gemacht –«

»Ja, du hast gut sprechen!«

»Sehr brav hast du deine Sache gemacht, und jetzt schlaf im Glück und träume vom Glück. Frau Lurchenbach, ich verlasse mich ganz auf Sie und sitze nebenan wach bis zur Morgenröte.«

»Das können Sie!« sprach die Wärterin, und der Rektor von Paddenau zog sich nach einem Blick in die Wiege der beiden weiblichen Bruchteile des so überraschend reichlich ihm zuteil gewordenen Familiensegens in sein eigenes Zimmer zurück, setzte sich an den Schreibtisch, nahm ein Papier auf und las mit der verbessernden Feder in der Hand:

»Schwüles Gewölk aus mäotischem Sumpfe,
Vorgezerrt von harpyischem Griff,
Treiben und hetzen thrakische Winde
Über des fliehenden Feldherrn Schiff.
Töchter des Pontus, weißliche Nebel
Peitscht der Sturmgott zum persischen Meer,
Und von Carambis bis Susa beben
Des Königs Sklaven und atmen schwer.

Carambis – bis – bis – ein wenig hart. Atmen schwer – des Königs Sklaven atmen schwer! Ich weiß nicht, ob das gedruckt den Leuten gefallen würde, aber mir gefällt es ausnehmend, vorzüglich nach den Erlebnissen der letzten Tage; denn da hab' ich doch wahrlich erfahren, was ein schweres Atmen zu bedeuten hat. Evan! Evoë! fällt mir das Trifolium gerade in diese herrliche Ballade von der grausamen Ermordung des Alkibiades! Ist das nun ein Omen? Wie soll ich ihn taufen lassen, Alkibiades oder Pharnabazus? Pharnabazus! das wäre etwas, was freilich noch nicht in Paddenau groß geworden ist!

Weh der gefügigen Wog', die den Helden
Schaukelte an den bithynischen Strand,
Und das beflügeltste Herz von Hellas
Gab in die feige, barbarische Hand!

Grade so wie mich und meine Frau, oder vielmehr wie meine Frau und mich! Evan, Evoë! Es ist doch ein großes Gefühl, sich alles in Hülle und Fülle selber zu machen! seine Kinder, seine Gedichte und seine gute Laune! o, was nicht sonst alles! Setzen wir schnell einen Drücker auf unsern Übermut, wenn auch nur der alten Warnung vom Neide der Götter zuliebe. Nehmen wir schleunigst diesen Haufen deutscher Stilübungen hiesiger dem hyperboräischen Sumpfe entsprossener Jugend zur Hand. Die Korrektur wird uns gerade bis Mitternacht wach erhalten, und nichts hindert uns, dazwischen den Mantel der hochherzigen Hetäre Timandra in unser Gedicht hinein zu skandieren.«

 


 


 << zurück weiter >>