Wilhelm Raabe
Der Dräumling
Wilhelm Raabe

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Das zehnte Kapitel.

Das goldene Kalb kämpft seit dem Anfange dieses Jahrhunderts in Paddenau mit dem grünen Esel um den Rang; wir aber haben für uns den Streit längst entschieden: der grüne Esel ist unbedingt für Mensch und Vieh der erste Gasthof des Dräumlings. Auf federschwingigen Sohlen und mit dem Finger auf den Lippen betreten wir seine Schwellen: das Komitee der Schillerfeier hält eine Schlußsitzung in einem Zimmer des untern Stockwerks, eine letzte Beratschlagung, in welche wir uns um keinen Preis eindrängen und einmischen werden. Aber um den großen Tisch in der allgemeinen Gaststube sitzen diejenigen Paddenauer, die auch nicht Mitglieder des Komitees geworden, wahrscheinlich um sich ebenfalls das Recht, über jeglichen Beschluß zu räsonieren, unbeschränkt und ungekränkt zu erhalten.

Wir kennen die meisten Stimmen bereits aus der Gartenwirtschaft zum Krebs. Der Chor der Alten hat sich recht wohl konserviert; die Stimmen haben nichts von ihrer Deutlichkeit verloren, und wir schmeicheln uns, ihnen ebenso gerecht zu werden, wie sämtliche griechische Tragiker, an denen wir uns, ihretwegen, halb tot studiert haben.

Das Zimmer der Ausschußsitzung und das allgemeine Gastzimmer stoßen aneinander und stehen durch eine augenblicklich geschlossene Tür in Verbindung. In beiden Gemächern ist die Diskussion lebhaft und der Austausch der Meinungen und Ansichten munter im Gange. Was die ausgeschossenen Enthusiasten über das große Fest auszufechten hatten, geht uns, wie gesagt, nichts an; aber der Chor der Greise redete nicht nur über das Fest, sondern auch über die Enthusiasten, und das geht uns sehr viel an.

»Das Ding wird mir nun bald über,« sagte die erste der ehrwürdigen Stimmen. »Wenn ich mir vorstelle, daß dieser Wirrwarr nimmermehr abrisse in Paddenau, so wäre es mit mir vorbei. Ein Trost ist es, daß er abreißen muß; – das trägt der Dräumling nicht! Habe ich recht?«

»Recht haben Sie schon, Herr Nachbar; allein mir ist an der Geschichte doch das wichtigste, daß sie mir wiederum ein Exempel ist, wie man sich in acht nehmen muß, daß man sich auf nichts einläßt, was man nicht kennt. Wenn ich ein Billett nach Burgdorf oder Peine bezahlt habe, dann verlange ich, nicht in Timbuktu oder auf dem Berge Ararat abgesetzt zu werden, und so, meine ich, ist es in diesem vorliegenden Falle so ziemlich uns allen ergangen.«

»Das ist es! Im ersten Anfange haben wir's alle für einen guten Spaß genommen, der uns weiter nicht in unserer Ruhe stören werde, und bei dem am Ende doch nichts herauskommen werde. Nun haben wir schon wochenlang die Bescherung, und heute ist unser einziger Trost geblieben, daß ein jedes Ding in der Welt einmal zu einem Beschluß kommen muß.«

»Was mich anbetrifft, so habe ich mir nichts vorzuwerfen. In meinem Hauswesen kommt alles auf Rechnung meiner Weibsleute. Ohne meine Töchter hätte ich gar nicht gewußt, wovon eigentlich die Rede sei. Ich kümmere mich um nichts, habe ich gesagt, und ich habe mich um nichts gekümmert.«

»Das ist recht gut, Nachbar; aber wer ein guter Bürger ist, der kümmert sich auch in allen Dingen ums Gemeinwesen und trägt alle Narrheiten und Eseleien mit, vorzüglich, wenn er auch alle Abgaben und Steuern nach der Ordnung mitträgt. Und nun frage ich Sie, meine Herren, ist das jemals im Dräumling erhört gewesen, daß ein städtischer Magistrat aufgefordert wird, Geldbeiträge für den Geburtstag eines vor hundert Jahren gestorbenen Komödienschreibers zu leisten, und daß er sie leistet?!«

»Geboren ist er vor hundert Jahren, sagt meine Tochter.«

»Das ist in diesem Falle ganz einerlei, ich habe ihn nicht über die Taufe gehalten; und selbst wenn der Mann in Paddenau geboren oder gestorben wäre, so änderte das meiner Meinung nach nichts. Da könnte nachher jeder kommen und sich feiern lassen. Heute der Schiller, morgen der Goethe, übermorgen der Klopstock, und so durch die ganze Leihbibliothek. Dafür zahlt man keine Kommunalabgaben, sage ich. Was andere tun, weiß ich nicht; aber ich lasse den Bürgermeister dran riechen und schreibe es ihm auf den Steuerzettel.«

»Aber Sie zahlen doch, und das ist dem Magistrate die Hauptsache; Ihre Anmerkungen legt er zu den Akten, und den Bürgermeister, den kenne ich, der tut vielleicht – noch was Niederträchtigeres –«

»Das wollte ich ihm nicht raten!«

»Na, nur ruhig, Nachbar, er wird Sie nicht auf das Rathaus zitieren, um Sie ein Protokoll darüber unterschreiben zu lassen.«

»Das wollte ich mir ganz gehorsamst hiermit ausbitten!«

Eine Pause, in welcher ein jeder der Stammgäste über das mögliche Verhalten des Bürgermeisters tiefsinnig nachzudenken schien, trat ein, und der Lärm der Debatte im Nebenzimmer machte sich jeglichem Ohr in der schweigenden Gaststube um so eindringlicher bemerklich. Erst als jemand aus dem Kreise der Alten sein leeres Glas einem Kellner über den Tisch reichte, löste sich der Bann, der sich so plötzlich über die würdigen Häupter gelegt hatte, und das Gespräch, von allen in der Runde frisch begossen, oder doch angefeuchtet, nahm einen neuen Aufschwung.

»Nun höre sie einer! ist es nicht, als ob das Heil von Himmel und Erde von ihrem Disput abhinge? Der Lärm ist wirklich zu groß für alle die, welche sich sonst nicht mit dergleichen Dingen abgeben, und ich begreife mehr als Einen dadrinnen nicht, von dem ich ganz gewiß weiß, daß er sich nicht damit abgibt.«

»So sind eben die Menschen, will ich Ihnen sagen, Gevatter. Das ist die Ehrbegierde, die in dem Verständigsten steckt und heraus und ans Licht muß, es koste, was es wolle. Einer will doch auch dabei sein, wenn die meisten dabei sind, und in einem solchen Falle noch dazu wird ein jeder für ein Viech gehalten, der sich ruhig abseits hält und seine Pfeife raucht. Und wissen Sie, so eine Ausschußsitzung hat für manchen ihre Reize; es ist mal ein Kneipen mit Hindernissen; man trinkt sein Glas und hat seine Meinung oder seine Stimme abzugeben, und was den Spektakel angeht, so hat noch kein Komitee ohne einen solchen zusammengesessen. Meine Herren, erinnern Sie sich nur an unsere Hundesteuersitzungen! und das war doch noch wenigstens eine ernste Sache, und niemand war hineingewählt worden, der nicht sein Verständnis dazu mitbrachte; aber was haben wir darin zu hören gekriegt, und wie heiser kamen wir jedesmal heraus!«

»Jetzt hat drinnen der Rektor wieder das Wort. Der ist der Löffel im Brei und rührt uns das ganze Pläsier zusammen. Der Mann wird mir immer unangenehmer, und ich glaube, seiner vorgesetzten Behörde geht es gerade so mit ihm. Man fängt an, ihm scharf auf die Finger zu passen, und was speziell dieses heidnische Jubiläum anbetrifft, so hat sich unsere Stadtgeistlichkeit da kräftig an den Laden gelegt und bittet seit Wochen in der Residenz um Verhaltungsmaßregeln.«

»Und vorigen Sonntag hat sie auf der Kanzel um ein tüchtiges Regenwetter für den Festzug gebeten, Herr Nachbar.«

»Das paßt nicht in das Jahrhundert!« sprachen wie aus einem Munde und in freisinnigster Entrüstung sämtliche Stammgäste des grünen Esels. Es war nicht einer im Kreise, der sich durch dieses Gebet der Geistlichkeit nicht aufs tiefste gekränkt fühlte, und es dauerte eine ziemliche Weile, ehe jemand sich so weit wiedergefunden hatte, um bemerken zu können:

»Es läuft jetzo überhaupt viel sonderbares Volk in Paddenau herum. Von dem Herrn Geheimen Hofrat Mühlenhoff rede ich nicht; der ist ein Paddenauer und eine Ehre für den Ort. Aber da ist der fremde Maler –«

Er vollendete nicht; denn hatte die Erwähnung des Verhaltens der hochwürdigen Geistlichkeit ein allgemeines Getöse hervorgerufen, so war das nichts gegen das Gesumm und Gebrumm, welches bei der Erwähnung der heitern Persönlichkeit unseres Freundes Haeseler entstand. Jeder Paddenauer, der eben sein Glas an den Mund gehoben hatte, setzte es wieder hin, ohne getrunken zu haben, und ein jeglicher Paddenauer, welcher die Spitze seiner Pfeife zwischen den Lippen hatte, blies eine Rauchwolke aus, die an Dichtigkeit und Bedeutung nichts zu wünschen übrig ließ.

»Sackerment!« sprach jemand dumpf und gehalten in der umwölkten Runde, und eine bogenlange Erzählung und Schilderung könnte uns über das Verhältnis, in welches sich der Maler zu dem Dräumling zu stellen gewußt hatte, nicht deutlicher aufklären, als es durch dieses eine Wort und die stumme Mimik der Gesellschaft, die dem Worte voranging, geschehen ist.

Leider entstand gerade in diesem Augenblicke auf dem Hausflur des grünen Esels jene Unruhe welche in jedem Wirtshause die Ankunft neuer Gäste begleitet. Die Glocke des Kellners und Hausknechtes erklang; es wurde schweres Gepäck auf den Boden niedergesetzt; man vernahm eine fremde Stimme und in höflicher Gegenrede die bekannte Stimme des Wirtes. Die Tür der Gaststube wurde von einer diensteifrigen Hand weit aufgerissen, und der neue Gast erschien auf der Schwelle.

In einer Großstadt oder in einem großen Badeorte sehen bei einer solchen Gelegenheit die übrigen Gäste kaum auf vom Teller oder von der Zeitung; in einer kleinen Stadt ist die Ankunft eines fremden Menschen von anständiger Erscheinung stets ein Ereignis für das bereits vorhandene Publikum. Es wird still im Raume, eine gewisse blöde Unruhe bemächtigt sich eines jeglichen, der Störung abholden Stammgastes, und je nach dem Charakter der Ortseingeborenen wird der anlangende Fremdling einer mehr oder weniger naiven Musterung unterzogen.

Diesmal durfte der neue Gast des grünen Esels dreist sich dieser Musterung unterwerfen. Er machte sofort den günstigsten Eindruck auf den Dräumling, und sämtliche anwesende Paddenauer waren im selbigen Augenblicke der Ansicht des Wirtes, welcher den Fremden nach dem ersten berufsmäßigen Blick für einen ungemein anständigen Menschen erklärt hatte.

Wie hätte das auch anders sein können? Das war der Mann, den wir schon längst in Paddenau erwarteten; den wir wohl mit allen Seelenkräften herwünschen konnten, dessen Erscheinen und Eintreten in unsern Gesichtskreis jedoch wahrlich nicht von unserm, sondern selbstverständlich von seinem Belieben abhängig war.

Alles Große und Treffliche kommt, wenn es ihm beliebt, und so kam auch Herr George Daniel Knackstert aus Hamburg in dem grünen Esel an und zeichnete ruhig und selbstbewußt seinen Namen in das Fremdenbuch:

G. D. Knackstert mit Bedienung aus Hamburg.

Die Bedienung bestand in seinem Diener Quante, und Quante schaffte soeben die Reiseeffekten seines Herrn in die Gemächer, welche der grüne Esel dem Vertreter der großen Firma Knackstert Witwe und Sohn anzubieten hatte. Wie alles Große und Gute kam er, der Hamburger Vetter, mit welchem der Geheime Hofrat Mühlenhoff glaubte leben zu können, in der richtigen Minute, und stellte sich, nachdem er den Pelz abgelegt und die Handschuhe ausgezogen hatte, kühl und klar an den warmen Ofen, in allen Dingen, in seinem Innern, wie in seinem Äußern, das vollkommenste Gegenbild zu unserm trefflichen, aber das Vertrauen des Dräumlings wenig weckenden Freunde Haeseler, dem Sumpfmaler. Sein Alter belief sich auf ungefähr sechsundzwanzig bis achtundzwanzig Jahre, seine Persönlichkeit beschreiben wir nicht, da wir überzeugt sind, daß jedermann bereits weiß, wie er aussieht; sein Alter belief sich wirklich in runder Summe auf achtundzwanzig Jahre. –

»Wünschen der Herr hier zu speisen, oder droben auf dem Zimmer des Herrn?« fragte der Wirt, mit verbindlichem Lächeln die Hände reibend.

»Hier!« sprach der Vetter aus Hamburg und fügte ohne alle Erregung hinzu: »Ich kenne die Temperatur da oben, und bitte nur, daß unablässig nach dem Ofen gesehen werde.« Jeder Paddenauer aber rückte auf und mit seinem Stuhle; – es war nicht Einer unter den Stammgästen des grünen Esels, welcher nicht die Verpflichtung fühlte, einem solchen Mann Platz zu machen; die Unterhaltung in der Gaststube wurde im leisern Ton fortgesetzt, während die Stimmen im Ausschußzimmer immer lauter und wirrer durcheinanderklangen.

Der große Kaufmann aus Hamburg nahm noch von nichts Notiz. Mit der Gelassenheit eines Weltbürgers, der sich in alles zu fügen weiß, überflog er die ihm gereichte Speisekarte. Es wurde ein Tafeltuch ausgebreitet und das Kuvert gelegt, und jetzt – jetzt setzten sich Knackstert Witwe und Sohn. Knackstert Witwe und Sohn saßen; und sämtliche Paddenauer sprachen:

»Gesegnete Mahlzeit!«

Verwundert ob des unerwarteten höflichen Wunsches blickte der Vetter aus Hamburg empor; dann aber neigte er mit leichtem Danke von neuem das Haupt und griff nach Messer und Gabel. In diesem Moment öffnete sich die Tür des Nebenzimmers; das Komitee stürzte sich in wildester Aufregung in die Gaststube:

»Hurra! Vivat! Schiller hoch! Friedrich von Schiller hoch! hoch! und abermals hoch!«

Messer und Gabel entsanken Herrn George Knackstert; mit offenem Munde, mit starren Augen – zweifelnd und doch seiner Sache nur zu gewiß, blickte er in dem Getümmel umher, schob den Teller weit von sich und ächzte:

»Also doch! also doch auch hier! Und dafür bei solchem Wetter solche Reise! Die ganze Nation ist verrückt geworden!«

Wir werden an diesem Abend noch einmal in den grünen Esel zurückkehren und dann die Gelegenheit haben, uns eingehender über die Bedeutung und den Grund dieses halb kläglichen und halb wütenden Aufschreies zu unterrichten.

 


 


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