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Am Fenster lag ein in roten Saffian gebundenes Buch: Blumauers travestierte Äneide, und vor dem Titel stand in einer flüchtigen Kaufmannsschrift der Name des Besitzers:
Pinnemann.
Ich hatte den Band mit spitzen Fingern aufgenommen und ließ ihn ebenso fallen; dann trat ich in das Kämmerchen Luises, und es war mir, als ob alles, was mir hier wie in dem Wohnzimmer nicht gefiel, ebenfalls die Etikette trug: Pinnemann. Ich fand mehr als einen Gegenstand, um welchen ein gewisses schäbig-generöses Lumpen-Parfüm schwebte, und allmählich überfiel mich das ängstliche Bangen: waren wir doch bereits zu spät gekommen? Der Atem verging mir, und schnell mußte ich von dem Rohrsessel neben dem weißen, reinlichen Bettchen aufspringen, um das Fenster aufzureißen und frische Luft in die Kammer und meine Seele zu lassen. In demselben Augenblick hörte ich, wie August in der Stube jemand laut und auch freundlich begrüßte, und als ich mich umwendete, stand Luise Winkler in der Tat zwischen der Stube und der Kammer – rot und verlegen, sehr hübsch und zierlich und so leichtsinnig lustig, daß es ein Vergnügen und Ärger war. Da stand sie, halb erschrocken-trotzig und halb zum Lachen geneigt, und das seidene Hütchen hing ihr so keck im Nacken – ich konnte wirklich in Zweifel sein, ob ich nicht durch das Umdrehen des alten, widerspenstigen Fenstergriffes das denkbar hübscheste und leichtfertigste Nymphchen und Hexchen auf diese Türschwelle gezaubert habe.
Da stand sie, und ich stand auch da; wir sahen einander an, und es war für beide Teile gleich schwierig, auf der Stelle das erste und zugleich das rechte Wort zu finden. Ich empfand gar keine Lust, dem armen niedlichen Ding einen so warmen Willkommen zu bieten wie dem Bruder. Nur die Hand gab ich dem bunten Stadtschmetterling, nachdem August ihn mir der Form nach vorgestellt hatte; aber unsere persönliche Bekanntschaft war dadurch gemacht, und das war fürs erste genug, und – zu spät waren wir auch noch nicht gekommen, obgleich von Pinnemann bei diesem Besuche noch nicht die Rede war.
Wir nahmen nun die Geschwister mit uns in unsere Wohnung, und ich führte den blinden Freund. In einer Gasse in der Nähe des Stadtgerichtes zeigte mir August das Haus des Notars und Paten Hahnenberg; ein Kabriolett hielt eben vor der Tür, und aus demselben sprang mit ziemlicher Leichtfüßigkeit ein fetter, glänzender, gutkonservierter ältlicher Elegant, welcher uns durch eine Lorgnette einen Augenblick unverschämt genug anstarrte und uns sodann ungemein freundlich und höflich grüßte. Er schien auch Lust zu haben, über die Gasse zu uns hinüberzuhüpfen, aber ein sehr verständlicher Gestus meines Gatten gab dem Dicken eine andere Direktion. Er verschwand in dem Hause des Prokurators, nachdem er der blutroten Luise zärtlich eine Kußhand zugeworfen hatte; – und ich konnte nur eine Faust in der Tasche machen.
Längere Zeit vor unserer Ankunft in der Hauptstadt war der Herr Agent Pinnemann in das Haus des Paten gezogen und hatte sein »Geschäftsbüro« im untern Stockwerk desselben aufgeschlagen! –
In der Abenddämmerung, als wir die Ergebnisse des Tages überschlugen und zurechtzulegen versuchten, sagte ich zu August:
»Mein Herz, ich hätte es in Hohennöthlingen gar nicht für möglich gehalten, daß es so etwas in der Welt geben könne. Ich weiß noch nicht viel; aber ich weiß, daß die arge Welt der kleinen Närrin, deiner Luise, bös mitgespielt hat. Sie hat hübsche Haare, und darin möchte sie gern ein golden Band tragen; sie hat einen Spiegel, und der hat ihr statt des Bruders gesagt, daß sie ganz und gar hübsch sei.
Spiegel blink,
Spiegel blank –
Wer ist die Schönste
In ganz Brabant?
Sie hat auch eine kleine Hand, und die möchte sie gern weiß und zierlich halten wie eine Dame, und ihren netten Fuß möchte sie am liebsten auf weiche, blumige Teppiche setzen. Sie hat viel ausstehen müssen, von Zeit zu Zeit ein wenig Hunger und immer Frühaufstehen und Hemdennähen. Dazu hat sie alles mögliche, Dummes und Kluges durcheinander, gelesen und hat sich mit ihrem armen, tollen, lustigen Sinn sozusagen allein und ohne Hülfe durchschlagen müssen, und ihre Freundin Josephine Becker hat einen sehr reichen, aber ebenfalls etwas ältlichen, fetten und glatzköpfigen Herrn von einer Feuer- und Hagelversicherung geheiratet, und es geht ihr sehr gut, denn sie hat den Feuerversicherungsmann unter dem Pantoffel, und er hat in diesem Sommer mit ihr in ein vornehmes Bad reisen müssen, wo sie die Bekanntschaft von Lords und Baronen gemacht haben, und sie führt ihn umher wie einen frisierten Tanzbären und gibt Abendgesellschaften mit Musik und Tee und berühmten Künstlern. Die Bekanntschaft und Verbindung mit diesem abscheulichen Herrn Pinnemann hat ohne Zweifel ihren ersten Grund in dieser bonne fortune der Freundin; – wäre das arme Kind im Rektorhaus zu Hohennöthlingen aufgewachsen, so würde es wahrscheinlich anders denken. Wir wollen deshalb auch so billig als möglich sein und sie sanft anfassen, den Pinnemann aber desto fester. So – das wäre für heute der Inhalt meines Strickbeutels; nun magst du deine Tasche ausleeren, mein Engel.«
Mein Engel wiegte bedeutsam das Haupt und sagte:
»Liebes Kind, du hast dir den Lebensgang Luisens jedenfalls viel klarer auseinandergelegt als ich mir die Strategeme, durch welche der Agent sich jetzt so vollständig des Paten bemächtigt und sich in sein Haus eingenistet hat. Es ist aber kein Zweifel, der Starke, Selbstbewußte ist in die Hand des Schwachen, Listigen, Schlauen gefallen, welchen er verachtete und nicht besser als ein Werkzeug schätzte, das man fortwirft, wann es einem beliebt. Es ist kein Zweifel, der Notar Hahnenberg ist nicht mehr jener Mann, welcher meinen Vater erniedrigte, indem er ihn vor dem gänzlichen Untergang bewahrte, welcher meine Jugend schreckte und den willenlosen Knaben seinen Weg führen wollte. Der Sklave hat über den Meister gesiegt; das Zauberwort, welches den Besen wieder zum Besen macht, ist vergessen – Pinnemann ist der Herr geworden und August Hahnenberg der Diener. Wie lange ist es her, als der Starke, kluge, scharfsichtige Mann vermeinte, zur rechten Zeit Halt gebieten zu können, wenn er mich in die Hand der Klugheit der Welt, der Gemeinheit des Tages, der lächelnden Gewissenlosigkeit gab? Bei Gott, es liegt eine furchtbare Ironie in dem, was jetzt geworden ist! O Mathilde, Mathilde, wenn es uns gelänge, hier sieghaft durchzugreifen!«
»Wir wollen unser Bestes tun«, sagte ich, und damit hatten wir für den heutigen Tag genug von Pinnemann und Hahnenberg. –
Es ist leider nicht meine Aufgabe, zu berichten, wie wir uns nunmehr immer behaglicher in unserer neuen Existenz einnisteten: wie wir lernten, uns tausendfachen Unannehmlichkeiten gegenüber auf den sublimen Standpunkt lächelnden Hohnes zu erheben; wie wir mit dienenden und herrschenden Geistern siegend oder unterliegend in tausendfachen Konflikt gerieten; wie wir unsere ersten Patienten bekamen; wie uns unser Wurmbuch mit dem Coprosaurus immer berühmter an der Universität und auf der Anatomie machte; wie wir sogar öffentlich eine Rede darüber hielten, in den Zeitungen gelobt wurden und wie ich das Lob aus den Zeitungen schnitt und es dem Papa schickte, damit er sehe, was für einen Schwiegersohn er erwischt habe.
Es ist leider meine Aufgabe, zu erzählen, was mit Luise Winkler, Pinnemann und dem Paten weiter geschah, und so fahre ich gleichmütiger fort; denn ich weiß mich zu bescheiden und kann mich zu gleicher Zeit loben.
Es war wahrhaftig keine Kleinigkeit, dem alten Herrn, dem Paten Hahnenberg, seinen und unsern Standpunkt klarzumachen! Mit Wilmsens »Kinderfreund« und Campes »Väterlichem Rat an meine Tochter« ließ sich aber in betreff Luisens nicht das geringste ausrichten, und es war auch ein Glück, daß ich zum Gouvernantentum nicht tauge, weder eine Brille noch eine spitze Nase und ein dito Kinn trage, daß ich nicht schnupfe und daß meine Lieblingsfarben Weiß, Rosa und Himmelblau sind. Man richtet mit einem fröhlichen Herzen doch am meisten in dieser trübseligen Welt aus, wenn ich gleich hier wenig ausgerichtet habe.
Das war ein Leiden! Ich bin nicht zum Schwindel geneigt; aber ich gebe mein ehrliches Frauenwort, daß sich oft alles um mich her drehte. Alle Augenblicke wurden meine Hohennöthlinger Begriffe von Verstand, Vernunft, Anstand, Erziehung, Schicklichkeit und Moral über den Haufen geworfen, und ich saß zwischen dem Plunder wie Marius zwischen den Trümmern von Jerusalem oder sonstwo. Solch ein unerzogenes, selbsterzogenes, verzogenes Geschöpf wie diese sehende Schwester des blinden Friedrichs mochte noch in einem zweiten Exemplar von den Gelehrten aufgefunden werden; ich hatte an diesem einen genug und über genug.
»O liebste Frau Mathilde, ich könnte ihn so schön an der Nase umherführen! – Ich ihn lieben? O allerliebste Frau Mathilde, wer könnte solch ein dickes, albernes Tier mit falschen Zähnen, falschem Haar und falschem Backenbart lieben? Ich weiß es ja, daß ich entsetzlich bin, daß ich meinen Bruder betrübe und elend mache. Am besten wär's, man ließe mich laufen, und es kümmerte sich keiner um mich; ich bin ja keiner Sorge und Liebe wert, das weiß ich nur zu gut! O Frau Mathilde, ich bin nicht verliebt in ihn; aber er ist so närrisch verliebt in mich, und ich könnte ihn zu allem in der Welt bringen. Er ist solch ein Geck und dünkt sich so weise, weil er den alten Notar gefangen hat. Ich habe aber ihn gefangen, und ich halte ihn fester wie er den Notar. Wahrhaftig, es ist zum Weinen; ich habe für meinen armen blinden Fritz die Lust des Sehens und Fußzappelns mitbekommen; ich habe keine Ruhe im Haus hinter dem Nähzeug und werde ganz gewiß mal recht unglücklich und bin es schon. Ich liebe so sehr die freie Luft, den Sonnenschein, die Landpartien und bals champêtres; es ist zum Weinen; aber ich gehöre auf den Jahrmarkt und nicht in euer stilles Behagen; – ach Frau Mathilde, lassen Sie mich mit meinem wilden Willen laufen, und möge es mir so gut gehen, wie ich es verdiene.«
»Das letztere wollen wir nicht hoffen«, sagte ich und wunderte mich über meine Bereitwilligkeit zu dieser Hoffnung. Zwanzigmal war ich bei solchen Gelegenheiten nahe dran, den Leichtsinn aus der Stube zu schieben und die Tür hinter ihm zu verriegeln; aber dann sah das Ding, wie es neben mir kauerte und seine tollen Gefühle hervorsprudelte, so allerliebst aus, daß ich trotz hellem Ärger und Erbosung meine Ermahnungen, guten Gründe und alles das stets wieder von neuem auskramte.
»O liebe Frau Mathilde, ich weiß, daß es zum Weinen und Verlästern ist; aber ich kann ja nur halb dazu. Eine Mutter habe ich gar nicht gehabt, denn sie ist gestorben, als ich noch ein ganz kleines Kind war; alle meine guten Lehren habe ich mir selbst geben müssen, denn mein Bruder ist stets so hoch, so hoch über mir gewesen. Ich habe mir selber durch die Welt helfen müssen, und es ist darnach geworden.«
Was sollte man dazu sagen? Man hätte von Rechts wegen selber weinen müssen, wenn die kleine Sünderin nicht im nächsten Augenblick über ein Paar durchgetanzte weiße Ballschuhe von neuem den Verstand verloren und, während ihr noch die Tränen über die Backen liefen, die Nacht beschrieben hätte, in welcher diese Schuhe durchgeschleift wurden. Das Ende vom Lied war immer, daß ich es für ein blaues Wunder zu achten anfing, daß diese unbehütete, feine, hübsche Waise bis jetzt durchs Leben gekommen war, ohne noch viel, viel mehr von Hohennöthlinger Anstandsbegriffen aufgegeben und verloren zu haben; – es wäre wahrhaftig meine Aufgabe, zu erzählen, was mit Luise Winkler, Pinnemann und dem Paten Hahnenberg weiter geschah, wenn es sich nur wie Zahlperlen auf einen Faden reihen ließe; und mein Lob sollte allen dummen Sprichwörtern zum Trotz lang genug werden, wenn ich mich und es nicht meiner Pflichten als Gattin und Mutter wegen kurz zusammenfassen müßte. Die Bekanntschaft des Agenten war leicht gemacht, und ich kam bald dazu, ihm meine Meinung zu sagen, wodurch ich freilich meinem Herzen Luft machte, aber weiter nichts erreichte, als daß ich meinen Vorrat an moralischen Salz- und Essiggurken für den Winter, das heißt für meine alten Tage, ganz überflüssigerweise bedeutend vermehrte. Das Ungeheuer war unnahbar höflich und unterworfen, nahm jede Grobheit, welche man ihm sagte, als eine unverdiente Anerkennung seiner Verdienste auf, spielte den Reuigen wie ein satter Iltis und seufzte und grinste mich aus aller Fasson. Er, Pinnemann, wollte keinem zu nahe treten, er wußte es, wie unwürdig er des in seine Hand gelegten Schatzes sei – er nahm das Herz des Engels, welcher ihm auf seinem düstern Lebensgange grade recht, eben im Augenblick des Abgangs des Extrazuges nach dem Orte der Verzweiflung, in den Weg getreten sei, als ein gnadenvolles Geschenk und Pfand des verzeihenden Himmels; – er, Pinnemann, liebte – liebte grenzenlos – liebte zum erstenmal in seinem Leben, und ich – ich, Mathilde Sonntag, kam kochend nach Hause und setzte mich in den dunkelsten Winkel, um meinen Ärger auszuweinen.
Ich versuchte es noch einmal, das Kind zurechtzuschütteln; ich sagte ihm alles, was mir auf die Zunge kam, aber Luise Winkler antwortete mir einfach: ich sei zu gut für sie, ich kenne das Leben, in welchem sie aufgewachsen sei, nicht, und zu Winters Anfang sei die Hochzeit. August erwies sich als gänzlich unpraktisch, Fritz saß gebrochen in seiner Dunkelheit; – der Feuer- und Hagel-Versicherungsmann kam mit seiner jungen Frau wieder einmal von Baden-Baden zurück; der Himmel schien uns damit aufgegeben zu haben, und – ich versuchte, die Bekanntschaft des Paten Hahnenberg zu machen, machte die reizendste Toilette, fuhr in einer Droschke vor und – kam zu Fuß heim, ohne den liebenswürdigen alten Herrn gesehen zu haben. Pinnemann hatte seine Vorkehrungen gut getroffen, und außer der Überzeugung, daß auch des Paten Haushälterin den Agenten hasse, brachte ich nichts Tröstliches heim.
August zeigte sich immer unpraktischer, je weiter sein Ruf als Arzt und Erfinder des Coprosaurus sich verbreitete, der arme Fritz versank immer tiefer in seine Dunkelheit, Luise war ganz zu den Leuten von der Feuerversicherung übergegangen und lebte mehr mit ihnen als mit uns; der Herbst kam, und wir fanden, daß unser Ruf und Ruhm noch viel schneller laufen müsse, wenn er die Preise des Brennholzes einholen wolle.
Am zweiten November achtzehnhunderteinundsechzig fiel der Spiegel von der Wand, der Porzellanschrank um und die gebratene Gans, nämlich meine kleine Freundin Luise Winkler, in die Kohlen. Die Sache hatte sich auf einmal ganz von selbst gemacht, und es bedurfte kaum noch meines Zutuns, obgleich ich es mir nicht nehmen lasse, daß ohne meine Zutaten doch nichts Rechtes daraus geworden wäre.
An diesem zweiten November achtzehnhunderteinundsechzig fallierten unsere nobeln und eleganten Freunde von der Feuer- und Hagelversicherung und gingen durch; an diesem Tage ging auch Herr Karl Pinnemann durch und nahm des Paten Hahnenberg Brieftasche und unsere Luise mit; an diesem Tage ging ich zum zweitenmal zu dem Herrn Paten und – fand ihn »zu Hause«; an diesem Tage täuschte mich August sehr, er bewährte sich viel praktischer, als ich für möglich gehalten hatte und augenblicklich für wünschenswert hielt: er brachte uns Fräulein Luise Winkler zurück!
Es war gar kein düsterer Novembertag, die Sonne war recht angenehm hell aufgegangen, als wolle sie ihr Teil an den sich drängenden Ereignissen sich nicht verkümmern lassen; von Nebel und Regenwolken war nirgends eine Spur zu erblicken.
Ich war schon längere Zeit nicht ganz wohl gewesen; doch kann ich meinem Sohne Fritz, wenn er zu reiferen Jahren gekommen sein wird, zur Beruhigung mitteilen, daß es nichts Schlimmes zu bedeuten hatte. August, immer liebenswürdig, hatte mich schon seit einigen Monaten mit einer Aufmerksamkeit behandelt, welche ihresgleichen nicht hatte; ich verwunderte mich deshalb um so mehr, als er mich an dem heutigen Tage durch ein außergewöhnlich wildes Hereinstürmen und heftiges Türzuschlagen von meinen Sofapolstern in die Höhe jagte.
Er rief nach seinem Überrock, seinen Überschuhen, nach seinem Regenschirm; wenn Seine Majestät den Schnupfen gekriegt und er, mein Gatte, mit der Aussicht, Königlicher Leibarzt zu werden, zu Hülfe gerufen wäre, hätte die Aufregung nicht größer sein können. Nur ganz beiläufig und zwischendurch erfuhr ich, um was es sich eigentlich handelte, und als ich es erfahren hatte, ließ ich mich in meine Kissen zurücksinken und sagte sehr gefaßt:
»Mein lieber Schatz, jetzt ließe ich das dumme Ding laufen; es will's nicht besser haben. Ich werde ihr nicht nachrennen, ich gehe zu Friedrich.«
Wir hatten unsere Rollen gewissermaßen ausgetauscht. Solange das Spiel dauerte und das Mädchen in der Art, wie ich es geschildert habe, mich umflatterte und umtanzte und noch nichts oder doch noch nicht alles verloren war, gebärdete sich August viel unmutsvoller und hoffnungsloser als ich und »begriff mich in meiner Ausdauer und allzu gutmütigen Geduld nicht«. Jetzt aber, wo meiner Meinung nach alles zu Ende war und wo ich nur den armen Bruder wie ein Kind warm in den Mantel hätte nehmen mögen, ließ sich, nach Augusts Meinung, alles noch im letzten Augenblick retten, und alles war gerettet, wenn man noch vor Abgang der Saxonia nach New York in Hamburg anlangte. Ich konnte den Mann meiner Seele nicht halten und ließ ihm deshalb seinen Willen; aber ich hätte in diesem Augenblick wahrhaftig viel darum gegeben, wenn ich ihn hätte zu spät kommen lassen können. Er sauste ab nach Hamburg, und ich kroch zu Friedrich Winkler, und da saßen wir den ganzen langen Tag zusammen und sprachen wenig, und selbst das wenige gereichte uns nicht zum Trost. Das Faktum ließ sich nicht wegstreichen, die gewöhnlichen Gemeinplätze verschlugen nichts, und ich war auch nicht in der Stimmung, mich mit ihnen abzugeben. Dazu würde es aber diesem unglückseligen blinden Manne gegenüber vom allergrößesten Übel gewesen sein, wenn ich meinen Gefühlen in der Art, wie es mir zum Bedürfnis wurde, hätte freien Weg geben wollen, und so arbeitete ich mich allmählich in einen Tumult hinein, welcher mit Ohnmachtsanwandlungen und Lachkrämpfen und wer weiß was noch geendet hätte, wenn ich ihm nicht auf irgendeine passende Weise Luft gemacht hätte.
Je näher der Abend kam, desto unmöglicher wurde es mir, selber so blind, mit solchem Gesumme in den Ohren und im Herzen neben diesem Blinden zu sitzen; – nach Hause konnte ich nicht, denn da würde mir in der Einsamkeit noch übler zumute geworden sein, und ich mußte, mußte jemand haben, gegen den ich mich ausschreien, dem ich nötigenfalls eine Faust unter die Nase halten durfte! Mein zukünftiger Geheimer Medizinalrat würde gewiß einige Besorgnis gezeigt haben, wenn er mich in diesem Zustande gesehen hätte, und da er mich höchstwahrscheinlich am Gebrauch des sichersten niederschlagenden Mittels gehindert hätte, so war's ein Glück, daß er sich augenblicklich auf der Jagd nach der Saxonia und unserer irrenden Ritterin Luise befand. Wäre ich völlig bei Sinnen und Leibeskräften gewesen, so würde ich es auch wohl zweimal bedacht haben, ehe ich diesen Weg ging; aber der Tag und mein Zustand hatten mich in eine Art Rausch versetzt, und ich hätte Tolleres und Närrischeres anstellen können, ohne verpflichtet gewesen zu sein, darüber vor Gericht Rechenschaft ablegen zu müssen. Ich ging in den Gassen wie in den Lüften, wie in einem Traume; – ich ging auf dem Monde spazieren, kurz vor Erdenaufgang; es begegneten mir lauter Mondbewohner, und ich für mein armes Teil war so mondsüchtig, wie man es nur wünschen konnte; es war mehr als ein Wunder, daß ich das Haus des Paten in diesem Gewirbel und Schwindel auffand. Ich fand es, diesmal hielt mich niemand auf, ich sagte dem alten Knaben meine Meinung; er hatte ein langes Leben durch auf dem Monde gelebt; jetzt ließ ich, Mathilde Sonntag, die Erde vor seinen Augen aufgehen; – er selbst wird sagen, auf welche Art. »Douce mais sauvage« steht auf meinem Fingerhut, und wir tranken zusammen Tee: ich, Fritz Winkler und der Herr Notarius Hahnenberg. –