Wilhelm Raabe
Drei Federn
Wilhelm Raabe

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Selbstverständlich hatte ihn der Pate nicht dazu engagiert, mich in alle diese verschiedenen Arten, eine unnütze, gefräßige Raupenexistenz behaglich fortzusetzen, einzuweihen, und er hütete sich auch sehr, es zu tun. Aber er führte mich in den Gassen spazieren, er machte mich mit seinen Freunden und Bekannten bekannt; er gab mir in seiner mit frechem und geschmacklosem Luxus aufgeputzten Wohnung zu essen und zu trinken und lehrte mich in der Tat, daß es nicht viele Menschen gebe, welche einem reichen Vormund gegenüber sich so grenzenlos dumm und albern aufführen würden, wie ich es getan hatte.

»Einen närrischern Vogel wie Sie, mein Junge, habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen«, sprach Pinnemann. »Ich kenne Ihr Verhältnis zu dem Herrn Notar ganz genau, ich kenne den Herrn Notar ganz genau und finde nichts, was Sie zu Ihrer korrupten Anschauung berechtigt. Ich hatte früher die Ehre, im Dienste des Herrn Notars zu stehen – wir waren damals beide noch recht junge Leute –, und auch ich trennte mich damals von ihm; aber wahrlich, meine Gründe waren ein wenig klarer als die Ihrigen. Der Herr Doktor Hahnenberg ist ein Mann von enormem Talent, im Besitz eines bedeutenden Vermögens, und er hat es gut mit Ihnen im Sinn. Seine kleinen Eigenheiten und Schrullen treten doch jedenfalls vor den Vorteilen zurück, die er Ihnen zu bieten hat. Statt mich gegen einen solchen Mann wie ein eigensinniges Kind zu sperren, würde ich mir lieber vornehmen, dereinst in seine Schuhe zu steigen. Beim Teufel, Sonntag, was hätte ich, als ich in meiner unschuldigen Jugend in Kompanie mit diesem Paten Hahnenberg hungerte, für ein Zehntel von Ihren jetzigen Aussichten gegeben! Ich sage ihnen, scharf, scharf sein ist die Parole; alberne Sentimentalität nützt zu nichts. Scharf und biegsam. Sehen Sie, ich kann mich biegen wie eine gute Säbelklinge, wenn es nötig ist. Ich biege und beuge mich vor dem Herrn Notar Doktor August Hahnenberg und gehe trotzdem meinen eigenen Weg. Er hat mir befohlen, Ihnen mein Herz auszuschütten, und ich öffne Ihnen alles, mein Herz, meinen Geldbeutel, meinen Küchenschrank. Der Herr Pate will mich als eine Art Folie gebrauchen, ich soll Ihnen mit meinem Dasein den Gegensatz Ihrer Höhlenexistenz vor die Augen führen, seine angenehme, werte Person drapiert sich um so besser in der Mitte der beiden; – bon, ich bin alles in allem doch ein guter Kerl; hier knöpfe ich mich Ihnen und dem Herrn Paten zum Gefallen auf; wer kann die Folgen einer solchen lumpigen Gefälligkeit bestimmen? Nach einigen Jahren – bah, Sie rauchen noch nicht? Sehr vernünftig; lassen Sie uns noch ein wenig durch die Gassen schlendern; – es lebe die Heiterkeit und die gute Verdauung! –«

Ein eigener Taumel hielt mich während dieser Epoche meines Lebens umfangen. Mein Vater verfiel zu einer Zeit, wo der Mensch noch in Arbeit und Genuß kräftig stehen und streben soll, jener zweiten Kindheit, welche die Natur sonst nur an das Ende des längsten Lebenslaufes zu setzen pflegt; und ich – ich mit meiner klassischen Schulgelehrsamkeit, mit meinen stümperhaften lateinischen und griechischen Errungenschaften konnte ihn nicht erhalten. Es kam eine Zeit, wo ich mit Schauder daran dachte, was daraus werden würde, wenn der Vormund jetzt seine Hand von uns abzöge. Aber der Vormund schüttelte nur den Kopf und fing an, den Vater spazierenzuführen, wie Pinnemann mich spazierenführte. Er wurde dem Kranken gegenüber sogar milde und duldsam; – ich verstand den Mann immer weniger. Betäubt ergab ich mich oder ließ vielmehr, augenblicklich gebrochen und unterworfen, mit mir geschehen, was ich nicht zu ändern vermochte. Um mir dabei seine eigene Verachtung der Dinge einzuflößen, konnte der Vormund keinen bessern Zeichendeuter finden als den Buben, welchen er mir an die Seite gestellt hatte. Allen Enthusiasmus, alle Begeisterung, jede schöne Täuschung mußte, mußte mir dieser Begleiter und Führer aus der Seele zerren; es war ein Mephisto, ein verneinender Geist und noch dazu, trotz aller Schlauheit, ein roher, ungebildeter, alberner. Sein Witz war flach, falsch und gemein; allein ich war zu unfertig, um mich dagegen wehren zu können. Durch die Theater, die Musikaufführungen, die Ausstellungen von Kunstwerken wurde ich von diesem Pinnemann gezogen, und heute noch faßt mich ein zähnknirschender Zorn, wenn ich daran gedenke, in welcher Weise er mir jedes begeisterte Aufwallen der Gefühle abzutöten strebte. Diese halbgebildete Böswilligkeit, dieses impotente Geifern der Nichtigkeit gegen das Wahre und Schöne, gegen jede Hoffnung und Opferlust sind das Schrecklichste, was die Zivilisation in ihrem Schoße erzeugt. Die Menschheit schlägt sich darin selber ins Gesicht, und der Gedanke, daß doch im Grunde Leute wie mein Führer den meisten Einfluß auf die Masse und überall das erste und das letzte Wort zu sprechen haben; reicht hin, auch den Treuesten und Ehrlichsten zu verbittern und in den tiefsten Ekel hinabzujagen.

Wo steht Pinnemann nicht neben uns und den Dingen? Wo tritt er uns nicht entgegen? Wo folgt er uns nicht auf den Fersen? Muß man ihm nicht alles abkämpfen, um zuletzt, selbst im Siege, mit der eigenen Persönlichkeit für den Sieg zu büßen?

Ist es nicht Pinnemann, die blasse, froschkalte, kahle, pomadisierte, genußsüchtige, nüchterne Unverschämtheit, welche überall bereitsteht, um, wie mein Pinnemann sich treffend ausdrückte, »unmotivierter Begeisterung und Aufgeregtheit den Hut einzutreiben« –? Ist es nicht Pinnemann, welcher überall die besten Plätze einnimmt, Pinnemann der Claqueur, Pinnemann der Cliqueur? Wenn es eine zweite Vorsehung gäbe, müßte man sie Pinnemann nennen; Pinnemann selbst hält sich für die einzige und alleinige Vorsehung und setzt sein jämmerliches Ich stets auf den höchsten Stuhl im Mittelpunkt aller Dinge. –

Alle Freude, aller Genuß an dem, was mir nach dem Willen des Vormundes gezeigt wurde, mußte mir vergällt werden durch die Art, wie es mir gezeigt wurde. Es war ein gefährliches Spiel; wenn ich mich nicht selbst dabei verlor, so ging ich im besten Fall abgestumpft, mit verödetem Gemüt, aber als ein Mann nach dem Wunsch des Vormundes daraus hervor.

Ich sah und hörte um diese Zeit bedeutend mehr, als sonst junge Leute aus meinem Stande und von meinem Alter zu hören und zu sehen bekommen. Der Agent Pinnemann hatte eine große Bekanntschaft und war in den höchsten und tiefsten Verhältnissen der Stadt gleich sehr bewandert. Wie er mir in alle meine Götterwerke der dramatischen Kunst die Persönlichkeiten der darstellenden Künstler samt allen ihren mehr oder weniger schlechten oder lächerlichen Eigenschaften, samt ihren verborgensten Privatangelegenheiten zog, so zog er das arme, schwache Menschliche überall hinein oder hervor. Wie die Könige, Helden und göttlichen Frauen, welche über die Bühne gingen, ihm nur der und der, die und die mit all ihrer schuldenmachenden, neckischen, boshaften, üppigen Trivialität waren, so schob er die Trivialität der Einzelheit überall in den Vordergrund und drängte das Wahre, Ewige, Allgemeine nach besten Kräften in den Hintergrund und womöglich ganz hinaus.

Und ich war, alles in allem genommen, doch kein Held und Halbgott, um allen diesen starken und gefährlichen Einwirkungen widerstehen zu können, sondern nur ein blöder, schüchterner Knabe, ein unerfahrener, wohlmeinender Jüngling, welcher nichts als sein Herz, ein Stück angeborenen Rechtssinns und seine ungenügende Schulbildung in diesem seltsamen Schachspiel dem vielgewandten, weltklugen Gegner und – Freund, dem Notar Doktor August Hahnenberg, entgegenschieben konnte.

Der Vormund wünschte, als meine Schulzeit zu Ende ging, daß ich die Rechte studieren möge; nach Pinnemanns Einflüsterungen schien er die Absicht zu haben, mich nach, in seinem Sinne, glücklich vollendeter Erziehung in sein Büro aufzunehmen und mich in eine Art von Kompaniegeschäft zu ziehen. Mein Vater mußte sich um diese Zeit zu Bett legen und sollte in demselben ein volles Jahr in dem trostlosesten Zustande sich zu Tode schlummern; gleich mir brachte er die Tage bis zu seiner Erlösung in einem Halbtraum zu, und wie ich zwischen meinem eigenen Willen und dem Willen anderer machtlos hin und her geworfen wurde, so hing sein willenloses Ich zwischen Leben und Tod, im Spiel der Spukgestalten aus den Reichen beider.

Ich verließ die Schule und bezog die Universität, das heißt, ich schritt durch andere Gassen zu einem andern Gebäude und hatte mich einer andern Lehrmethode zu unterwerfen; sonst änderte sich in meinem Sein unendlich wenig. Wieder nach dem Willen des Vormundes wurde ich der juristischen Fakultät zugeschrieben und besuchte die Vorlesungen der Rechtslehrer, um schläfrig nachzuschreiben, was sie ihren Zuhörern diktierten; – ich sträubte mich immer matter gegen die guten Absichten, welche man in betreff meiner hatte. Es stand meiner ganzen Umgebung zu klar vor Augen, daß das Glück nur auf dem Wege liege, welchen der Pate Hahnenberg mich gehen hieß; – es wäre ein zu großes Wunder gewesen, wenn ich nicht endlich auch geglaubt hätte, was alle Welt sicher wußte. Eine Bekanntschaft aber, welche ich jetzt machte, rettete mich vor meinem »Glück«, vor dem Paten Hahnenberg, dem Agenten Pinnemann, und zwar ganz nahe vor jenem bedenklichen Punkt, hinter welchem jeder Pfad im menschlichen Leben so abschüssig und schlüpfrig wird, daß an ein Umkehren so wenig wie auf dem gläsernen Berge des Märchens zu denken ist.

Ich ging bereits zärtlich Arm in Arm mit Pinnemann, und er war nahe daran, mir das freundschaftliche Du anzubieten, als wir eines Abends (ich war ungefähr dreiviertel Jahr lang Student der Rechtswissenschaften) uns des Spaßes wegen auf der höchsten Galerie des Opernhauses befanden. Der Herr Agent liebte es, von Zeit zu Zeit, allen seinen aristokratischen Gefühlen zum Trotz, sich unter das Volk zu mischen und sich »inkognito« ein stets etwas lümmelhaftes und albernes Vergnügen zu machen. Eine Aufführung des »Fidelio« schien ihm vor allem geeignet, unter dem »Plebs im Paradiese« Unsinn zu treiben, und daß ich ihm mit ziemlichem Behagen folgte, malt besser als alles andere meinen damaligen Zustand.

Wir störten also an diesem Abend nach Möglichkeit das Volk in seiner Freude, in seiner Andacht, wir ärgerten alle die, welche für ihr Geld das Stück sehen und hören, sich fürchten und weinen wollten; wir brachten junge und alte Frauenzimmer in Verlegenheit und unschuldige, maulaufsperrende Gesellen in Konflikt mit der Wache. Wir sahen in den heißen, glänzenden Kessel des Hauses hernieder, suchten Bekannte und Bekanntinnen, teilten uns ungehörige Bemerkungen mit und hatten es nur der Pinnemannschen Frechheit zu verdanken, daß wir nicht hinausgeworfen oder gar ebenfalls auf die Wache geführt wurden.

Wir waren natürlich erst gegen das Ende der Oper zu der Höhe des vierten Ranges emporgestiegen; die Nerven des Herrn Agenten litten keinen längern Aufenthalt in dem Dunst und der Hitze, welche hier herrschten; – und in dem Augenblick, als die treffliche Sängerin in jenen »Mark und Herz« erschütternden Schrei: »Töt erst sein Weib!« ausbrach, machte ich die Bekanntschaft, welche mich für immer von Pinnemann erlösen sollte.

Hinter den Sitzreihen läuft eine Brüstung her, hinter welcher eine ziemlich unbegrenzte Zuschauerzahl ihre »Stehplätze« findet; hier war ich an die Seite eines anständig, aber ärmlich gekleideten Menschen gedrängt, der die Arme auf die Brüstung und den Kopf auf die Arme gelegt hatte und, meiner Meinung nach, in den tiefen, ruhigen Schlaf der Unschuld versunken, das heißt, wie Pinnemann meinte, besoffen war. Ich hatte natürlich seine Ruhe schon in jeder Weise zu stören gesucht; aber es war mir nicht gelungen; in dem Augenblicke jedoch, wo die Sängerin dem falschen Gouverneur jenen Verzweiflungsruf entgegenschrie, richtete er das Haupt, ohne mein Zutun, mit einem Ruck empor – der Mann war blind! Ich erschrak sehr darüber, obgleich mir diese Entdeckung in meiner damaligen Stimmung ganz und gar gleichgültig sein mußte; in diesem glanzlosen und doch so lichterfüllten Aufblicken lag eine Zaubermacht, welche mir tief, magisch, unwiderstehlich in das Herz griff und wie eine Offenbarung auf mich wirkte. Im Anfang war das Gefühl so peinlich, daß ich zurückwich, ohne jedoch den Blinden aus dem Auge lassen zu können. Ich ließ auch den Agenten, welcher nunmehr anfing, sich zu langweilen und nicht von dem Gedränge des Volkes aus dem Theater geschoben werden wollte, allein ziehen; mein Schutzengel vertrat mir den Weg und hieß mich bleiben.

Friedrich Winkler war blind geboren worden und stammte von kleinbürgerlichen Eltern, die starben, nachdem sie noch eine sehende Tochter erzeugt hatten. Die Kommune nahm sich der beiden Verlassenen an, das kleine Mädchen wurde in einem anständigen Waisenhause untergebracht, und Friedrich hatte schon früher, vor dem Tode der Eltern, in einer Blindenanstalt alles erlebt und erlernt, was ein solches Institut Unglücklichen seinesgleichen zu bieten hat. Er flocht mit Geschick feine Körbe und Spielereien aus Stroh und dergleichen und bekam Unterricht in der Musik, vorzüglich im Geigenspiel. Das eine sollte ihn leiblich, das andere geistig vor dem Untergange schützen, und nach beiden Seiten hin wurde der Zweck erreicht; jedoch kam das geistige Leben am besten dabei weg.

Die Schwester erlernte die Nähterei, und erst nach jahrelanger Trennung, wie es nicht anders sein konnte, fanden sich die Geschwister in einer fast noch erbarmungswürdigeren Wohnung, als die meines Vaters war, zusammen, um nunmehr den Weg des harten Lebens Hand in Hand zu gehen; es war aber eine hohe Ehre und ein dankbar anerkanntes Glück für mich, als ich einige Zeit nach jener Aufführung des »Fidelio« zum erstenmal an ihre Tür klopfen durfte und freundlich als Freund empfangen wurde. Das waren die großen Kontraste meines Daseins: der Pate Hahnenberg und mein Vater, der Agent Karl Pinnemann und der blind geborene Friedrich Winkler, und ich habe später klar die Logik der Vorsehung erkannt, welche mich zuerst in den schwankenden Widerstreit aller Gefühle warf, um mir dann in der rechten Stunde die Hand zu bieten.

Ich hatte in der Tiefe gekämpft und gelitten; nun saß ich mit dem neuen Freunde, der mir nie verlorengehen konnte, in der Höhe und hörte und ließ die Welt unter mir rauschen; mein Leben war ein anderes geworden, ein anderes bis in die leisesten Empfindungen; die Hülfe war von einer Seite gekommen, von welcher her ich sie nimmermehr erwarten konnte. Friedrich wußte nichts von den Kämpfen, welche ich bestanden und noch zu bestehen hatte; wenn er sich dem großen körperlichen Übel ergeben mußte, so kannte er doch nicht die Demütigungen, die ohnmächtigen Abängstigungen, welchen der unterworfen werden kann, der Augen hat, um zu sehen: Wer würde einem Blinden nicht aus dem Wege treten? Wer würde ihm nicht die Hand bieten, um ihn vor dem Fall zu bewahren? Wer sagte ihm willig ein hartes Wort?

Freilich war Friedrich in einer ebenso dumpfigen Luft aufgewachsen wie ich; aber der Schleier, der ihm die Augen verhing, verdeckte ihm mit dem Schönen auch das Schmutzige, das Elend; und leider überwiegt ja das letztere weitaus für die Mehrzahl der Kinder dieser Erde. Für das, was ihm das Geschick entzog, hatte es ihn reichlichst entschädigt; er durfte in einer selbstgeschaffenen idealen Welt leben, und das, was die größten Dichter nicht erlangen, das umgab ihn zauberhaft; er schwebte wahrlich in einem Reiche, das mit Wundern erfüllt war, und kein Verkehr mit den Leuten und Dingen, welche sich ihm doch aufdrängen und aufdringen mußten, konnte dauernd sein dunkles und doch so lichtes Zauberreich verwirren.

Wie ich aus unserer Kellerwohnung emporstieg zu seiner Dachstube, so stieg ich auch geistig auf und saß sehend in aller Armseligkeit und schloß die Augen, um die neue Offenbarung des Lebens in mich aufzunehmen.

Nun begann ich mein Dasein zum zweitenmal von den dunkelsten Anfängen an zu leben. Alles, was mir bis jetzt geschehen war, sah ich nunmehr durch ein neues Medium, und alles Trübe lichtete sich, alles Schwankende befestigte sich. Indem ich meine jungen, harten Erfahrungen mit den innern Erlebnissen dieses Blinden vereinigte, wurde ich ein Mann; – ach, Friedrich Winkler konnte mir viel mehr geben, als ich ihm zu bieten hatte. Ich konnte seine reine, keusche Unwissenheit durch das, was ich so traurig gut kennengelernt hatte, nur stören; er aber gab mir nur Licht, Ruhe, Frieden. Wenn ich aber an dieser Stelle beschreiben will, wie jetzt allmählich mein Sein und Wesen bis in die kleinsten Einzelheiten zurechtgerückt wurde, so schwindet mir seltsamer- und doch begreiflicherweise alle Macht dazu; – wie diese Bekanntschaft, diese Freundschaft meine ganze trockene Natur damals überwältigte und übermächtig auf mich eindrang, so wirkt in diesem Augenblick noch die Erinnerung daran ebenso überwältigend. Wohl selten haben sich zwei so verschieden geartete, so verschieden erzogene, so verschieden vom Geschick ausgestattete Seelen so vollständig gegenseitig ergänzt wie Friedrich Winkler und ich.

Und das Unglück begünstigte mich! Mein Vater starb. Die Wasser seines Lebens, die so kümmerlich, so langsam qualvoll durch Moor und Bruch hingeschlichen waren, versiegten gänzlich; sie verloren sich, und man konnte kaum sagen, wie und wo. Aus der hilflosen Bewußtlosigkeit war an einem Morgen der ewige Schlaf geworden, und ich hatte den Übergang aus dem einen in den andern nicht bemerkt. Die Ketten, welche mich an den Vormund fesselten und mich auf seine Wege zwangen, waren abgefallen; aber ich stand still und starr und weinte und fühlte nach ihren Spuren um die Hand- und Fußgelenke.

Nun war ich frei, nun konnte ich meinen Willen haben, ohne dadurch den Vater hinab in größeres Elend zu ziehen; – Pinnemann ließ mich laufen, da der große Notar Hahnenberg nicht mehr wünschte, daß er sich an meine Fersen hänge; – die Versuche des letztern aber, mich noch immer in dem alten Kreise festzuhalten, waren gering; er schien zu sehen, daß wir um diese Zeit doch nicht füreinander paßten; er schloß das Konto, das er in seinen Geschäftsbüchern jedenfalls für mich angelegt hatte: habeat. Das Begräbnis meines Vaters bezahlte er noch und gab ihm auch mit mir und Friedrich Winkler das letzte Geleit. Nach dem Begräbnis hatten wir am Tore des Kirchhofes für Jahre das letzte Gespräch miteinander.

Er sagte:

»So steht denn dein Entschluß, mich zu verlassen und deinen eigenen Weg zu gehen, fest. Es möge also so sein; wir scheiden an dieser Stelle. Vielleicht hast du mir zu danken, daß du fähig bist, einen Entschluß zu fassen; aber da du den Dank wohl nicht gutwillig geben wirst, so werde ich ihn nicht fordern. Lebe denn wohl, August Sonntag, und sei glücklich, glücklicher als deine Eltern, glücklicher als ich.«

Der Mann, der so mit mir sprach, hatte allein von allen früheren Freunden und Bekannten dem Vater das arme Leben leichter gemacht; er hatte ihm ein sanfteres Sterbekissen gegeben; er hatte den Platz, auf welchem der Tote ruhte, gekauft; ich griff schluchzend nach seiner eisernen, kalten Hand und rief:

»Ich bin nicht undankbar, ich bin gewiß nicht undankbar; ich weiß und erkenne, was Sie meinem Vater und mir getan haben, aber Sie müssen auch wissen, in welchen Zwiespalt Sie mich geworfen haben. Sie wollten strafen und retten zu gleicher Zeit, Sie wollten zu gleicher Zeit sich rächen und Gutes tun. Ach, Sie stehen freilich fest in Ihrer Verachtung der Menschen und Dinge; aber wo Sie stehen, ist kein Raum übrig für den Sohn Karoline Spierlings. Glauben Sie nicht, daß ich in Verblendung oder in Unwissenheit Ihrer Meinung oder Verkennung derselben von Ihnen scheide. Ich weiß, weshalb Sie Ihre Wohltaten mit Spott und Anreizungen vermengt haben; ich weiß, weshalb Sie jenen Mann, welcher dort am Gitter auf Sie wartet, an meine Seite gestellt haben: Sie hatten recht von Ihrem Standpunkte aus, Sie mußten mich zu schützen suchen gegen das, was meine Eltern elend machte und untergehen ließ; aber Sie haben nicht recht von meiner Stelle aus, denn ich stehe zwischen meinen Eltern und Ihnen.«

Der Pate ließ mich seine Augen nicht sehen; er hielt sein Gesicht gesenkt; aber plötzlich wandte er sich schnell ab, zog seine Hand aus der meinigen und schritt zu seinem Wagen, dessen Schlag Pinnemann dienstfertig aufriß.

So schieden wir für jetzt, und ich führte Friedrich Winkler nach seiner Wohnung und biß die Zähne aufeinander zwischen Schmerz und wildem Frohlocken über meine Freiheit. Nun galt es zu beweisen, daß ich fähig sei, mich selbst zu führen und mein Schicksal zu bewältigen. Ich für mich allein konnte Hunger und Kälte ertragen; aber darin lag wahrlich nicht einzig meine Aufgabe; ich mußte nicht nur entsagen, ich mußte auch erringen können; ich durfte geistig nicht unter das sinken, was der Vormund mir geben wollte; alles andere war doch nur Nebensache. Mit der Hülfe meines blinden Freundes gelang es mir, über das sustine et abstine der Stoiker emporzusteigen.

Nach einem letzten kurzen Zaudern verließ ich das Studium der Rechtswissenschaft und beschloß, ein Arzt zu werden; ich war ja in den Regionen der Gesellschaft aufgewachsen, in welchen einem am deutlichsten und am schauerlichsten die ebenso große Unzulänglichkeit wie Notwendigkeit der Heilkunst entgegentritt.

Mit einem Dutzend Büchern und einem Strohsack in einem leeren Stübchen begann ich meine neue Laufbahn; aber ich war nun auch aus der Tiefe in die Höhe gezogen und wohnte jetzt neben Friedrich und seiner kleinen hübschen Schwester.

Wie ich damals körperlich lebte, entzieht sich im eigentlichsten Sinne jeder Beschreibung, und heute erscheint mir diese Seite meines damaligen Zustandes wie ein traumhaftes Puppenleben, während welchem die Fähigkeit, es zu ertragen, nur durch eine gänzliche physische Apathie bedingt war. Aber in der Chrysalide war der Geist wach und lebendig, und meine Wandnachbarn in der Höhe sorgten dafür, daß der Funke nicht erlösche. Wie eine tröstliche Stimme aus einer andern Welt klang durch die dünne trennende Bretterwand die Geige Friedrichs, während der Schnee der Winternacht herniederrieselte und meine Finger vor Kälte erstarrten. Und die Nacht mochte noch so weit vorrücken, den blinden Freund fand ich zu meiner Ermutigung bereit, wenn ich mit meinem verstörten Hirn und heißen, brennenden, schmerzenden Augen zu ihm hinüberging. Wir saßen dann im Dunkeln, um das Licht, welches er nicht nötig hatte, für mich zu sparen; wir hörten den Wind vor den Fenstern, wir fühlten ihn nicht, wie er durch die schlecht verwahrten Fenster und Wände zog. –

Der blinde Geiger war in bestimmten Kreisen der Stadt gar keine unbekannte Erscheinung; junge Künstler hatten auf der Galerie des Opernhauses seine Bekanntschaft in ähnlicher Weise gemacht wie ich; einige derselben waren imstande, ihn, seine kleinen Künste und seine große Kunst in wohlhabenden Häusern zu empfehlen; mit Hülfe des Blinden gelang es mir, Zöglinge zu bekommen, die ich im Lateinischen und in der Mathematik unterrichtete, welche ich zum Maturitätsexamen vorbereitete. Mit seiner Hülfe vollendete ich meine Studien. Ich legte meine ersten ärztlichen Proben in den Spitälern und einem Armenviertel der Hauptstadt ab; ich wurde Arzt in Hohennöthlingen und gewann meinen Willen, mein Glück und meine Mathilde, nachdem ich – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –


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