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Okonek stand und wartete.
Es war finster und es regnete wieder. Die nasse Kälte machte seine Glieder starr. Er war ganz durchnäßt und klapperte wie im Schüttelfrost mit den Zähnen.
Ihm war ganz wirr im Kopfe.
So hatte er sich die Sache nicht gedacht. Die Vorgänge der letzten Stunden schwirrten ihm in sinnlosem Tanz durch das Gehirn.
Er sah, wie das Volk sich auf die Kaufläden stürzte, wie es plünderte und raubte. Er sah den blutigen, zerrissenen Leichnam des Kaufmanns, der auf die Menge geschossen hatte; er sah das Militär zur Stadt einrücken und die Masse blutig auseinandertreiben .
Und für das alles würde er jetzt natürlich verantwortlich gemacht werden.
Ihm wurde ganz schwach in den Knien vor Angst.
Was hatte er denn so Schlimmes gesagt? Er wollte doch nur den Bürgermeister um Arbeit bitten. Ganz demütig und mit allem schuldigen Respekt hatte er doch gebeten.
Aber dann erinnerte er sich wieder an all das, was er gesagt hatte, wie er die Arbeiter aufgereizt, sie aufgefordert hatte, sich ihr Recht zu nehmen ...
Er konnte nicht atmen vor Angst.
Und er sah sich verraten, gefesselt, ins Gefängnis abgeführt ...
Dieser verfluchte Gordon hatte ihn in dies Unglück gestürzt; aber er wollte nicht für einen Schuldigen leiden, er würde schon alles sagen. Er war betört, zu allem gezwungen ... Das mit dem Förster ... pah: da würde Gordon sich schön hüten, etwas davon zu sagen. Er würde wegen Mitwisserschaft eine schöne Strafe bekommen.
Ihn fröstelte entsetzlich. Er lief in die Runde herum, aber seine Angst wuchs ins Unerhörte und lähmte ihm die Glieder.
Jetzt mußte Gordon ihm helfen –jetzt mußte er helfen, der Halunke.
Im selben Augenblick hörte er einen leisen Pfiff.
Das war Gordon.
Okonek atmete auf ...
»Was willst du nun anfangen?« fragte Gordon.
»Sie müssen mir jetzt helfen! Sie haben mich in dieses Unglück gebracht.«
»Wußtest du nicht, was du tust?«
»Ich habe es nicht gewußt. Ich war betört. Ihr sagtet mir, es handle sich um eine harmlose Agitation zu Gunsten der Arbeiter, und es wurde Raub und Mord daraus ... Jetzt müssen Sie helfen! Ich sage es nur zu Ihrem Vorteil.«
»Wieso zu meinem?«
»Sie haben doch die ganze Geschichte angestiftet, und ich war nur ein dummes Werkzeug ...«
Gordon schwieg.
»Was denkst du denn jetzt anzufangen?« fragte er plötzlich.
»Der Fremde sagte mir, Sie würden mir Geld und einen Paß besorgen.«
»So komm.«
»Wohin denn?« Okonek wurde seltsam mißtrauisch.
»Glaubst du, das geht so schnell? Ich werde dich ein paar Tage bei mir verbergen, bis ich dir alles besorgt habe.«
Sie gingen schweigend.
»Wenn man mich jetzt festnehmen sollte, so kann es sehr schlimm kommen«, sagte Okonek plötzlich. Er hatte eine unwiderstehliche Lust zu sprechen.
»Du meinst, daß du für dich nicht bürgen kannst?«
»Oh, Sie wissen nicht, was ein Gefängnis ist. Man wird ganz verrückt. Man sagt alles, weil man glaubt, dadurch freizukommen; man würde seine eigenen Eltern verraten, um nur wieder frei zu werden. Gefängnis ist schlimmer als der Tod. Und dieser Brand, dieser Mord, dafür gibt es Zuchthaus, zwanzig, dreißig Jahre Zuchthaus ...«
Gordon sagte nichts.
Okonek fing es an unheimlich zu werden. Er wollte jetzt nur sprechen, nur sprechen, um seine Angst zu betäuben.
»Die Soldaten haben wohl fünf Stück getötet. Aber das Vieh war ja auch wirklich nicht zu halten. Sie mußten natürlich rauben und plündern und morden ...«
Okonek begann eine lange Verteidigungsrede für sich zu halten.
Er hatte natürlich gedacht, daß sich alles schön in Ruhe werde ordnen lassen; er wollte die Arbeiter nur belehren, was sie zu machen hätten ... Oh Gott, oh Gott, wer hätte sich nur denken können, daß es so kommen würde ...
Er sprach fortwährend, wiederholte beständig ein und dasselbe, schwatzte in die Runde und unterbrach sich dabei mit Ausrufen von Jammer über das große Unglück, in das ihn Gordon gestürzt habe.
Brennen! Die Fabrik eines Wucherers von Arbeitskräften niederbrennen, ja, das sei etwas andres! Das sei so eine Art von Selbstrecht. Aber sich der Aufreizung zur Plünderung und Beraubung unschuldiger Menschen schuldig zu machen ... nein! das gehe nicht. Übrigens wisse er gar nicht, was er gesprochen habe.
Und sollte er jetzt in Stücke zerschnitten werden, nicht ein Wort könne er von seiner Rede wiederholen. Der Fremde habe sie ihm aufgeschrieben, er habe sie dann wie ein Papagei auswendig gelernt ... Der Fremde habe ihm auch die heilige Versicherung gegeben, daß ihm nichts geschehen könne, und jetzt liefen die Soldaten wie verrückt herum und suchten ihn, um ihn zu verhaften ...
»Woher weißt du das?«
»Ich habe doch gesehen, daß viele Leute verhaftet wurden, und die werden schon alles ausplappern. Gott, wie sie singen werden!«
Sie kamen auf eine Moortrift.
Okonek redete sich immer hitziger in sein Gerede hinein. Je mehr Gordon schwieg, desto unüberwindlicher wurde sein Bedürfnis zu reden.
Gordon habe sein ganzes Unglück verschuldet. Seit er den Förster erschossen habe, er mußte ihn ja aus Notwehr erschießen, sei er dem Bösen verfallen gewesen. Gordon solle es ihm nicht übelnehmen, aber er sei für ihn schlimmer als der Böse selber ... Die Agitation für den achtstündigen Arbeitstag und die Hebung der Arbeitslöhne interessiere ihn ja sehr. Gordon wisse auch sehr gut, wie kräftig in der Agitation er gearbeitet habe. Aber so, wie es heute gekommen sei ...
Das war der ständige Refrain. Mit jedem Schritt, den er machte, wuchs die Angst und das Grauen vor etwas Unheimlichem, das ihn erwartete. Es war ihm, als trete ihm jemand beständig auf die Fersen.
Sie kamen jetzt auf einen schmalen Pfad, der zwischen zwei breiten Torfgräben hinlief.
»Wo gehen wir?« fragte plötzlich Okonek und sah sich wirr um.
Im selben Augenblick warf Gordon ihn mit ganzer Macht den abschüssigen Grabenbord hinunter.
Okonek schrie auf wie ein Tier und tauchte unter.
Bei der Wucht, mit der er Okonek hinabwarf, rutschte Gordon mit einem Bein in den Graben, so daß er hintüber zu Fall kam.
Bevor er in dem schlüpfrigen Boden sich wieder aufrichten konnte, tauchte Okonek auf und krampfte sich im Todeskampf an seinen Beinen fest.
Gordon fühlte, wie er mit verzweifelter Kraft heruntergezogen wurde, wie der nasse Torfgrund unter ihm wegrutschte, aber im selben Nu bekam er ein Bein frei und versetzte Okonek einen furchtbaren Stoß gegen den Kopf.
Ein entsetzlicher Schrei!
Gordon arbeitete sich hoch und lief mit Blitzesschnelle um den Graben herum. Auf der andern Seite standen hochaufgeschichtete Torfhaufen, er begann sie mit wilder Hast in das Wasser hinabzuwälzen.
Er bekam die Kräfte eines Riesen. In wenigen Minuten war der Graben an der Stelle, wo er Okonek hinabgeworfen hatte, ganz zugeschüttet.
Dann kam er zur Besinnung. Ihn ekelte.
Nein! Zum Donnerwetter! Zum Totengräber von Knechten war er noch nicht herabgesunken.
Er wartete, ob Okonek am Ende wieder auftauchen würde.
Nein!
Er wollte schon gehen, aber plötzlich dachte er nach, daß das Ganze vielleicht nur ein paar Sekunden gedauert hatte. Okonek könnte also noch am Leben sein.
Er wartete wieder, zählte bis Tausend, um ein Zeitmaß zu gewinnen, wollte dann gehen, aber eine seltsame Angst ließ ihn immer von neuem den Graben bewachen.
Endlich überredete er sich, daß Okonek schon längst ertrunken sein müsse und ging weiter.
Allmählich wurde er ganz ruhig.
Es war notwendig! Es mußte geschehen!
Was war das Leben eines Knechtes wert? Die Rolle, die er ihm zugedacht hatte, war ausgespielt. Er war ja nur das Werkzeug, und der Dietrich verrät zu leicht den Dieb.
Er spie aus.
Nur den Schrei, den furchtbaren Todesschrei konnte er nicht vergessen. Er sauste förmlich in seinen Ohren.
Aber je näher er an sein Haus kam, vergaß er auch allmählich den Schrei. Er dachte jetzt an die Verwüstung einer ganzen Provinz ... Das war sein nächster Plan ... Ha ha, der lächerliche Schopenhauer, der das Leben verdammt und es doch nicht preisgeben will.
Da war Bakunin doch ganz anders konsequent ...
Und wieder dachte er an den Priester, mit dessen Hilfe er Tausende und Abertausende für seine Zerstörungspläne gewinnen wollte, damit nur ja der Hartmann etwas zum Wiederaufbau bekommen könne ...
Und er lächelte.