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Wronski rieb sich die Augen. Nein! Es war kein Traum. Es saß wirklich ein Mensch dort. Aber er war so verwirrt, daß er die Gedanken nicht zu sammeln vermochte. Er starrte nur den Fremden an und bemühte sich vergeblich, sein Gehirn auf ihn zu lenken.
Ihre Augen begegneten sich. Der Fremde stand auf und kam an sein Bett.
»Ich bin Botko«, sagte er freundlich. »Sie wissen bereits, wer ich bin. Ich klopfte, aber Sie haben es wohl nicht gehört. Ich dachte mir gleich, daß Sie schlafen. Ich kam sehr vorsichtig herein ... Wie geht es Ihnen? Ich höre, daß Sie sehr krank sind.«
Wronski fuhr bei dem Namen Botko auf. In einem Nu kam er zu Bewußtsein. Eine seltsame Klarheit breitete sich in seinem Gehirn aus und eine plötzliche Angst erfaßte ihn. Es war ihm, als säße er in einer Zelle und werde nun abgeführt, um hingerichtet zu werden. Er fühlte mit einer peinlichen Sicherheit, daß das, woran er sich in seiner Phantasie berauscht hatte, jetzt Wirklichkeit zu werden beginne.
»Sie scheinen sehr erregt zu sein, Herr Wronski. Sie sind wohl zu plötzlich aufgewacht und können sich nicht zurechtfinden ...«
»Ja so ... ja ... ja ... ich weiß ... Bitte ... ich bin krank ...«
Wronski wurde noch verwirrter und stammelte.
Es entstand eine Pause.
Botko sah sich um, er schien ein ungewöhnliches Interesse an dem Zimmer zu haben.
»Die Wohnung ist sehr naß. Sie könnten fortziehen. Die Pilze an den Wänden sind Grund genug, um fortzuziehen ...«
»Das Haus gehört mir.« Wronski hat sich inzwischen gefaßt. »Es ist das einzige Erbstück von meinem Vater.«
»Sie wohnen hier allein?«
»Ja. Kein Mensch will natürlich hier wohnen ...«
Wronski machte eine ungeduldige Handbewegung, ging an den Tisch und trank aus der Flasche.
Plötzlich fiel ihm ein, daß er noch nie so unnatürlich und gezwungen war. Er hatte doch zum Teufel keine Angst! Er sah mißtrauisch Botko an, aber Botko schien geflissentlich nichts bemerken zu wollen.
»Dieser Graben vor ihrem Haus führt wohl direkt in die Nähe des Rathauses?« fragte Botko ganz unvermittelt. »Ich bemerkte eine Brücke in einer kleinen Straße ...«
Wronski war sehr unangenehm berührt. Er suchte das innere Zittern zu überwinden.
»Ja, beinahe an das Rathaus. Sie meinen doch das Rathaus ... Sie haben wohl auch bemerkt, daß der Graben mit Weidenbüschen dicht bewachsen ist ...«
»Ja, das habe ich bemerkt.« Der Fremde sah Wronski freundlich an und lächelte.
»Man kann sich gut darin verstecken, ohne gesehen zu werden ... Ich meine, daß man gut gedeckt ist, wenn man an dem Graben entlang geht ...«
»Ja, sehr richtig.«
»Auf diese Weise kann man bis zu der Brücke kommen, von der Sie sprachen ...«
Wronski wurde plötzlich ruhig. Seine Phantasie begann zu arbeiten.
»Nun denke ich mir, wird das Beste sein, wenn man unter der Brücke geht ... die Häuser, die nun an dem Graben stehen, haben keine Fenster nach dem Graben zu. Von beiden Seiten nur hohe nackte Mauern. Haben Sie es bemerkt?«
»Ganz recht.«
»Nun kann man, ohne bemerkt zu werden, bis dicht an die Gartenmauer des Rathauses kommen ...«
Botko brach ihn ab.
»Na, der Tee wird wohl jetzt fertig sein?«
Er goß sich Tee ein.
»Sie waren in Zürich auf der Universität?«
»Ja, anderthalb Jahre.«
»Sie haben sehr viel in den revolutionären Kreisen verkehrt?«
»Ja, ich war Sekretär bei der 'Freiheit'.«
Wronski sagte es fast stolz und sehr freudig erregt. Er merkte aber, daß er den Stolz ein wenig knabenhaft zur Schau trug. Er sah mißtrauisch Botko an. Aber Botko war ernst und nachdenklich.
»Ich habe Sie einmal im Klub gesehen.«
»So?«
»Sie haben damals ganz ausgezeichnet gesprochen. Sie entwickelten einen Plan, der mir ungemein gut gefiel. Sie sagten, daß man ins Priesterseminar gehen solle, denn nur als Priester könne man eine große Macht über das Volk auf dem Lande bekommen und die Masse allmählich revolutionieren. Das Mittel war auch sehr gut. Nicht wahr? Sie dachten an die kommunistischen Grundsätze des ersten Christentums, die man dem Volke vorpredigen solle? Das meinten Sie doch?«
»Ja.«
»Sie haben auch auf das Beispiel des Priesters Sciegienny hingewiesen, der ähnlich gearbeitet hat ...«
»Ja. Aber Sciegienny war ungeschickt. Übrigens war das Ganze gar nicht meine Idee. Ich habe an etwas Ähnliches gedacht, aber diesen Plan hat Gordon gegeben.«
»Nun, darauf kommt es nicht an. Ähnliche Gedanken trifft man überall. Aber die Art und Weise, in der Sie den Plan besprachen, hat mir gezeigt, daß Sie sich mit ihm sehr vertraut gemacht haben.«
»Ja, ich wollte Priester werden.«
»Wollen Sie es noch?«
»Ich muß sterben!«
»So sicher ist es doch wohl nicht?«
Wronski wurde unwillig.
»Lassen wir das! Wir können zur Sache kommen.«
»Oh, das ist nicht nötig. Ich sehe, daß Sie den ganzen Plan mit der äußersten Sorgfalt überlegt haben.«
Wronski sah ihn wieder mißtrauisch an, aber das Gesicht von Botko war ruhig, ernst und ehrlich.
»Sie haben sich sehr viel mit Archäologie beschäftigt«, sagte Botko nach einer Weile. »Ich habe bei Gordon eine ihrer historischen Arbeiten gelesen – über die Gründungsgeschichte des hiesigen Klosters.«
Wronski empfand ein freudiges Gefühl.
»Sie haben das hiesige Archiv benutzt. Es scheint sehr reich zu sein. Ist es im Rathaus untergebracht?«
»Rathaus?«
»Nun, wenn das Material wertvoll ist ...«
»Nein! Im Rathaus liegt nur ganz wertloses Material ... Ganze Haufen von Papier liegen da oben ... Ich bekam die Idee, das alles mit Petroleum zu begießen ...«
Wronski sagte es fast boshaft.
»Ich habe es geträumt ... War es nicht das, was Sie wissen wollten?«
»Nein! Aber es wäre gut, Petroleum nach oben zu schaffen. Sie werden es natürlich dort vorfinden ...«
Wronski erbebte. Die Gewißheit, daß seine Träume jetzt zur Wirklichkeit werden sollten, erschreckte ihn ... Das Blut stieg ihm nach dem Kopf, er fühlte das Fieber hochwallen.
»Die Hunde haben mich getötet!« sagte er ganz unvermittelt. »Jetzt werde ich mich rächen. Ich soll mich rächen! Nicht wahr? nicht wahr? Ist Rache nicht das edelste Gefühl? Grade das Umgekehrte von dem, was die bürgerliche Moral lehrt? Noch vor einer Stunde fühlte ich Angst. In die tiefsten Nerven hat sich die verfluchte bürgerliche Moral eingekeilt. Aber der ist Gott, der das zu verachten lernt, wovor er Angst hat. So zu verachten, daß es aufhört, für ihn zu existieren. Ich meine so zu existieren, daß es imstande wäre, ein Gefühl zu erzeugen. Sehen Sie, sehen Sie, ich gehe jetzt herum und denke und kämpfe mit mir. Nietzsche hat die Werte auf dem Papier umgewertet. Ich werte sie in mir um. Ich will das Böse, das sogenannte Böse mit derselben Selbstverständlichkeit tun, mit der ein Müller oder ein Schulze das Gute tut. Ich werde nicht eher ruhen, bis ich die paar Buden mit derselben Ruhe, mit dem seligen guten Gewissen niederbrenne, mit dem ich einem Bettler ein Stück Brot gebe. Ja, das will ich, ich, verstehen Sie?«
Er setzte sich auf das Bett. Um Botko herum sah er feurige Kreise, die immer schneller wirbelten. Schließlich fing auch Botko vor seinen Augen zu wirbeln an. Sein Gehirn spannte sich ab. Er war nicht imstande zu denken.
»Ist Ihnen übel?«
»Nein, nein! Aber was für einen eleganten Anzug Sie anhaben.«
»Ich darf nicht auffallen.« Botko lächelte. »Ist man elegant gekleidet, fällt man niemals auf. Übrigens sind Sie abgespannt und bedürfen wohl Ruhe ...«
»Nein, nein!«
Lange Pause.
»Haben Sie auch an die Villa gedacht, dort am See?«
»Die Villa? Ja! die Villa!«
Wronski fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Wissen Sie ... Ich weiß nicht, woher ich die Idee bekam. Eine unerhört großartige Idee! Eine Idee, die noch kein Mensch vor mir gehabt hat.«
Er packte Botko am Arm.
»Wissen Sie, warum ich sterben muß? Verstehen Sie das? Wegen einhundert Mark! Wegen einhundert Mark muß ich jetzt krepieren.«
»Wegen einhundert Mark?«
»Ja. Ich bekam Influenza und darauf Lungenentzündung. Ich war sehr geschwächt, ich sollte ins Lazarett. Ich schrieb an diesen Menschen, der die Villa besitzt. Wissen Sie, was er geantwortet hat? Er besitze selbst nicht hundert Mark! Ha ha ha! Jetzt werd ich mich rächen! Er hat unermeßliche Schätze dort oben ... Rächen werd ich mich! Wir alle sollen lernen uns zu rächen. Das soll unser mächtigster sozialer Instinkt werden. Die Utopisten wollen Glück! Ich will Rache! Rache soll mir Glück verschaffen.«
»Wie wurde es da mit Ihnen?«
»Gordon hat mir Geld geschickt, aber da fing ich schon an, Blut auszuwerfen ...«
Schweigen.
»Ja, richtig! Meine Idee ... Meine grandiose Idee ... Glauben Sie, ich will hier ein Stück nach dem anderen langsam verfaulen? He he ... Jetzt habe ich genug! Mit einem Ruck, dort in der Villa, in dem Flammenmeer ...«
Er flüsterte.
»Verstehen Sie, was das heißt, einen Meter gefrorener Erde über seinem Sarg zu haben? Nein, natürlich nicht über dem Sarg. Der Sarg ist inzwischen in Stücke geborsten, aber ... he he ... verstehen Sie nicht, daß diese gefrorenen Erdklumpen meinen eigenen Körper zerquetschen werden?«
Botko antwortete nichts.
»Verstehen Sies nicht?«
»Ja, ich verstehe ...«
Pause.
»Sie wollen sich also in der Villa verbrennen lassen?«
»Ja!«
Botko stand auf und drückte herzlich Wronskis Hand.
Wronski wurde plötzlich sehr verstimmt. Er fühlte Wut und Scham gegen sich, daß er sich so ausgeliefert hat. Sein Mißtrauen gegen Botko wurde noch viel stärker. Wenn der Mensch nur gehen möchte.
»Meinetwegen brauchen Sie sich gar nicht zu ängstigen«, sagte er barsch.
»Oh, wie mißtrauisch Sie sind!« Botko lächelte. »Hätten wir nur mehrere von Ihrem Schlag ... Wenn der Schnee geschmolzen ist ... Novemberschnee hält sich niemals. Er taut übrigens schon.«
Wronski erinnerte sich, daß er vom Schnee geträumt hat.
»Der Schnee leuchtet!« sagte er tiefsinnig.
»Das ist nicht das schlimmste, aber er hinterläßt Fußspuren ...«
Wronski glaubte zu bemerken, daß Botko mit einem überlegenen Lächeln und mit einem spöttischen Ausdruck auf ihn herabsah. Grade wie auf einen Schulbuben.
»Halten Sie mich denn für einen Narren?« fuhr er rasend auf.
»Gott, wie mißtrauisch Sie sind. Ich freue mich sehr, Sie kennen gelernt zu haben. Übrigens bin ich sehr ehrlich. Leben Sie wohl. Gordon wird Sie bald besuchen.«