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Achtes Kapitel.
Die Warteschule

Nach dieser Auseinandersetzung werden unsere Leser jetzt begreifen, von welcher Wichtigkeit das Projekt, welches Angelica ihrer Stiefmutter in die Hände gespielt hatte, für die beiden Nebenbuhler wurde, und mit welchem Eifer sie sich gegenseitig bemühten, die Verwirklichung desselben zu befördern. War es doch das sicherste Mittel, sich die Dankbarkeit der jungen Dame zu gewinnen und zugleich auch die Baronin selbst zu verbinden; wer es verstand, die Eitelkeit der Einen zu befriedigen, durfte damit zugleich auch hoffen, dem Herzen der Andern näher zu treten.

Am offensten und lautesten sprach sich Herr von Lehfeldt zu Gunsten des Planes aus. Wer die übrigen Beziehungen des jungen Mannes kannte oder wer gar in die geheimnißvolle Absicht seiner Sendung eingeweiht gewesen wäre, hätte sich allerdings darüber verwundern mögen. Angelica dagegen fand es vollkommen in der Ordnung; hatte er ihr nicht mit Hand und Mund gelobt, sich von seinen frühem leichtfertigen Grundsätzen zu bekehren? Hatte er, verstoßen aus dieser Welt des leeren, höfischen Glanzes, es sich nicht zur ausdrücklichen Aufgabe gestellt, statt dessen auch einmal die Kehrseite des Lebens kennen zu lernen und dem Elend und der Verwilderung, über die er bisher nur hochmüthig die Achseln gezuckt oder gar als harter Richter den Stab gebrochen hatte, einmal wirklich Auge in Auge zu sehen? Es war eine große Freude für Angelica, wenn sie den jungen Mann jetzt so eifrig bemüht sah, ihren Plan zu unterstützen und die Schwierigkeiten, welche seiner Ausführung entgegentraten, hinwegzuräumen; es schien ihr das ein Unterpfand zu sein für die Aufrichtigkeit jener Umwandlung, welche er ihr gelobt hatte, und so bescheiden sie sonst auch war, so konnte sie sich doch eines kleinen Stolzes darüber nicht erwehren.

Auch die besondere Anstelligkeit und Gewandtheit, mit welcher Herr von Lehfeldt sich dabei den Grillen der Commerzienräthin fügte, belustigte sie sehr; indem es ihm dem Anscheine nach nur darum zu thun war, die Wünsche der eiteln Frau zu erfüllen, ließ er bei alledem doch auf eine für Angelica selbst höchst deutliche, höchst schmeichelhafte Weise hindurchfühlen, daß ihm sehr wohl bewußt war, wo eigentlich der Urheber dieses ganzen Projects zu suchen und in welchem Kopfe, welchem Herzen dasselbe entstanden.

Ganz von selbst und ohne daß Herr von Lehfeldt es irgend gesucht hätte, ja ohne daß Angelica selbst nur eine Ahnung davon hatte, entwickelte sich auf diese Weise zwischen den beiden jungen Leuten eine Art geheimen Einverständnisses; es wurden, in aller Unschuld und Heiterkeit, versteckte Anspielungen zwischen ihnen gegeben und verstanden, doppelsinnige Reden wurden gewechselt, Blicke ausgetauscht – Anspielungen, Reden, Blicke, welche die Eifersucht des Herrn Waller ins Unerträgliche steigerten!

Aber warum, werden unsere Leser fragen, ließ Herr Waller selbst sich diese Vortheile entgehen? Herr Waller, der durch sein Verhältniß zu Julian bereits eine so bevorzugte, so vertrauliche Stellung zum Engelchen einnahm und der überdies durch seinen geistlichen Beruf, so hätte man meinen sollen, recht eigentlich darauf angewiesen war, so wohlthätige, so wahrhaft fromme Absichten, wie diese, zu unterstützen?

Aber nein, so einfach war das Verhältniß, welches Herr Waller zu Angelica's Plänen einnahm, keineswegs. Gerade was ihn ihr hätte nähern sollen, entfernte ihn von ihr; gerade der durch Stand, Pflicht und Verhältnisse am meisten geeignet schien, ihr Vorhaben zu unterstützen, war, wenn auch nur ganz in der Stille, ihr entschiedenster und thätigster Widersacher.

Wir kennen bereits den Ehrgeiz, der in der Brust des jungen Geistlichen loderte, und wissen, durch welche äußern Lebensbedingungen derselbe nur immer heftiger angeschürt worden war. Je weniger sein persönlicher Ehrgeiz sich hervorwagen durfte, desto bereitwilliger hatte Herr Waller sich in das Bewußtsein seines geistlichen Standes versenkt. Der geistliche Hochmuth war der Deckmantel seines weltlichen geworden, sein unbefriedigter persönlicher Ehrgeiz rettete sich hinter den Stolz des Priesters, des auserkorenen, gottbegnadeten. Darum konnte er so sanft, so schmiegsam, so unterwürfig scheinen – es kam ja endlich doch Alles seinem priesterlichen Ansehen zu gute; darum war er so anspruchslos im Umgänge mit den Vornehmen, so herablassend, so geduldig im Verkehr mit den Niederen – durch Beides, hier wie dort, breitete er seine priesterliche Herrschaft aus; darum endlich leistete er dem Anscheine nach so bereitwillig Verzicht auf allen Glanz und alle Luft des Irdischen – so wußte er ja, daß auf diesem dunkeln Grunde der Glanz seines priesterlichen Ansehens nur desto heller leuchtete!

Dieselben Rücksichten walteten auch in diesem Falle. Gerade als Geistlicher war Herr Waller Plänen, wie Angelica sie hegte und wie jetzt Madame Wolston sie so geräuschvoll ins Werk zu setzen strebte, bei weitem mehr ab- als zugeneigt. Daß die Armen unterstützt, die Unwissenden unterrichtet, die Verwilderten erzogen und gebessert wurden, gut, es mochte sein, und auch dagegen hatte er nichts einzuwenden, daß die Mildthätigkeit der Privatpersonen sich damit beschäftigte. Aber nur die Leitung des Ganzen mußte bei ihm, mußte bei der geistlichen Macht und Würde bleiben; es war ihm sehr recht, wenn die Frömmigkeit der Baronin nachgerade auch an guten Werken etwas fruchtbarer zu werden anfing als bisher – aber nur, daß es überall sein Rath sein mußte, welcher diese Wohlthätigkeit bestimmte, seine Anweisung, die sie regelte, seine Hände, die ihre Gaben vertheilten.

Herr Waller kannte Angelica's Lehrer, den alten Professor, zu genau und war zu wohl unterrichtet über die Grundsätze, nach denen derselbe die Erziehung des jungen Mädchens geleitet hatte, um nicht zu wissen, daß seine Wohlthätigkeit und die Wohlthätigkeit des Engelchen zwei völlig verschiedene, ja feindselige Dinge waren. Die eine unterstützte den Menschen, um ihn frei zu machen, sie wollte den Armen vor Allem von dem Bewußtsein seiner Armuth entladen und ihm das Gefühl menschlicher Würde, menschlichen Rechtes wiedergeben; nicht ein Almosen geben, nein, eine Pflicht wollte sie erfüllen, eine Schuld zurückzahlen, welche schon allzu lange war versäumt worden. Die Wohlthätigkeit des Herrn Waller dagegen sollte zuerst und vor allem Uebrigen als eine Gnade empfunden werden, eine Gnade des Himmels, ausgetheilt durch Menschen, welche er selbst zu diesem Zwecke ausersehen und bevorzugt hatte; nicht erheben wollte sie das menschliche Bewußtsein, nicht den Armen zu eigner Thätigkeit, eigner Anstrengung ermuntern, nicht ihn aufrichten an dem erhebenden Gefühle, daß doch am Ende er selbst es sei, dem er seine Rettung verdanke – ganz im Gegentheil: diese Mildherzigkeit wollte die Herzen der Armen zuvor zerknirschen, die äußerliche Unterstützung sollte erkauft und verdient werden durch die unbedingteste innerliche Abhängigkeit; es kam weit weniger darauf an, dem Bedürftigen zu helfen, als den Gebesserten, Besserung Gelobenden, ja selbst nur den Unterwürfigen, Folgsamen zu belohnen. Armuth und Elend zu beschränken, immerhin, es war etwas: aber das Reich Gottes auszubreiten und die Priester als die eigentlichen Statthalter und Lehensträger dieses Reiches in ihrem Einfluß zu bestärken, das eigentlich war der Punkt, um den es sich handelte, und nur darum eigentlich verlohnte es sich, Werke der Wohlthätigkeit zu verrichten und zu befördern.

Herr Waller hatte sich keineswegs begnügt, diese Grundsätze theoretisch zu hegen, sondern gewandt und energisch, wie er war, hatte er dieselben auch überall in seinem Wirkungskreise zur Ausführung zu bringen gesucht. Wir erinnern an die Worte, welche die Diebslore gelegentlich fallen ließ, da wir dieselbe zuerst kennen lernten. Drohungen und Bußpredigten auf der einen, Geschenke und kleine Vertraulichkeiten auf der andern Seite, heute schöne fromme Gesangbücher und morgen noch schönere warme Strümpfe – urtheile man über den Werth dieser Mittel, wie man wolle, aber gut berechnet waren sie, wenigstens für diese Umgebung und für eine Gemeinde, wie Herr Waller sie hier hatte. Mit ihnen hatte er Zutritt gefunden zu dem harten, verstockten, in Gräuel und Bosheit aller Art gleichsam verschütteten Herzen der alten Diebsgefährtin; ihr verdankte er's, daß er vor der unkeuschen, befleckten Phantasie dieses Weibes dastand, nicht anders denn als ein Heiliger, ein Gesandter Gottes, vor dessen leisesten Winken sie hinschmolz wie weiches Wachs – dasselbe Weib, dessen harter, verstockter Charakter sich weder vom Scharfblick des alten Sandmoll jemals völlig durchschauen, noch von seinen Mishandlungen hatte beugen lassen!

Und wie in diesem Falle, so war es ihm noch in unzähligen andern geglückt; es war ein wahres Netz geheimen Einverständnisses und unscheinbaren, darum nur um so wirksamern Einflusses, das Herr Waller über seine Gemeinde ausgesponnen hatte.

Und nun hätte er selbst diesen Einfluß aufs Spiel setzen, hätte wenigstens die Unbeschränktheit desselben zerstören sollen, indem er ein Unternehmen beförderte, wie Angelica es beabsichtigte? Zugeben hätte er sollen, daß Anspruchslosigkeit und unbefangenes menschliches Mitleid ihn von einer Stelle verdrängten, wo er bisher seiner geistlichen Herrschsucht mit so viel Geschicklichkeit und mit so sichtbarem Erfolg eine so sichere Herrschaft bereitet hatte? Nimmermehr! Herr Waller war und blieb vor Allem Priester, Priester in dem Sinne, wie wir es so eben auseinandergesetzt haben; selbst die glänzende Flamme der Eifersucht, selbst die brennende Gluth der Liebe (wenn sein Herz ja fähig war, dergleichen zu empfinden) durfte nicht diesen priesterlichen Heiligenschein durchkreuzen, mit welchem er sein Haupt umwoben.

Sogar daß die Ausführung jener Pläne zunächst in die Hände der Madame Wolston übergegangen, konnte ihn nicht völlig beruhigen. Freilich war er auf diese Art gewiß, daß von Dem, was Angelica eigentlich beabsichtigte, von dieser wahrhaft menschlichen, auf das Menschliche gerichteten, an das Menschliche anknüpfenden Wohlthätigkeit, fürs Erste nur herzlich wenig zur Ausführung kam; ein so durchweg eitles, selbstsüchtiges Geschöpf, wie die Baronin, konnte, das wußte er zum voraus, auch den Dienst des Erbarmens und des Mitleids nur zu einem Dienst der Eitelkeit und der eigenen Selbstsucht machen. Auch unterlag es bei der großen Herrschaft, welche er sich über das Gemüth der Madame Wolston erworben hatte, allerdings keinem Zweifel, daß sie ihn, wie überall, so auch in diesem Stück als ihren Vertrauten und Rathgeber gebrauchen würde.

Allein erstlich hatte er sich seit der Ankunft des Herrn von Lehfeldt überzeugen müssen, daß diese Herrschaft doch noch keineswegs so sicher begründet, noch auch so unbeschränkt war, als er selbst vielleicht geglaubt hatte und daß schon jede neue, piquante Erscheinung genügte, das Herz seiner Gönnerin, aus einige Zeit wenigstens, von ihm abzulenken.

Und zweitens auch kannte er den ungünstigen Ruf, in welchem Madame Wolston bei den Dorfbewohnern stand, zu genau und sah daher auch zu deutlich voraus, welchen Widerstand das an sich so verständige, so nützliche Unternehmen gleichwohl bei der Bevölkerung finden würde, und zwar dies lediglich deshalb, weil die verhaßte Herrin sich an die Spitze desselben stellte: als daß es ihn hätte locken sollen, die Ehre der Unternehmung unter diesen Umständen und in einer so misliebigen Gesellschaft zu theilen. Die Baronin sollte sein Werkzeug sein, und nicht blos sein, sondern auch vor den Menschen so erscheinen, niemals aber umgekehrt; nicht er sollte unterstützen, was sie erdacht, sondern im Gegentheil, sie sollte die Wege wandeln, wissentlich und unwissentlich, auf welche er sie gewiesen.

Hätte Herr Waller also nur diese seine nächsten Zwecke ins Auge fassen wollen, so würde er sich dieser Warteschule, mit deren Entwurf die Baronin alle Tage deutlicher und dringlicher hervortrat, haben offen widersetzen müssen. Herr Waller jedoch zeichnete sich vor vielen Andern seiner Richtung namentlich auch dadurch aus, daß er eben so stark, ja noch stärker war in der Geduld als im Eifer; nur dadurch beherrschte er seine Umgebung so sicher, daß er seiner selbst so völlig Meister war. Es wäre ihm ein sehr Leichtes gewesen, das Vorhaben der Baronin zu vereiteln; er brauchte es blos nicht zu unterstützen, brauchte blos nicht den Fürsprecher und Vertheidiger desselben bei Herrn Wolston zu machen, so war, bei der außerordentlichen Abneigung, welche dieser dagegen hegte, das Scheitern desselben außer Zweifel. Aber Herr von Lehfeldt hatte sich des Planes einmal angenommen, schon war er dadurch in die Rolle des Vertrauten gekommen, bei der Mutter sowohl wie bei der Tochter – wie hätte Herr Waller dieser Herausforderung widerstehen, wie hätte er kurzsichtig genug sein können, durch seinen Widerspruch oder auch nur durch seine Gleichgiltigkeit die Gunst Beider gleichmäßig aufs Spiel zu setzen?

Er unterstützte denn also den Plan der beiden Damen eifrigst, aber freilich nur so weit sie ihn sahen, und auch da nur in seiner Art. Er ging im Dorfe von Haus zu Haus, notirte überall mit vielem Geräusch und einem Aufheben, dessen es in Wahrheit gar nicht bedurft hätte, die Kinder, welche er für geeignet hielt, in die beabsichtigte Anstalt aufgenommen zu werden, ermahnte dabei auch die Väter und Mütter, die große Güte der Frau Baronin anzuerkennen und sich mit Demuth in ihre gottgefälligen Absichten zu fügen.

Allein in einer solchen Weise that er dies Alles und so geschickt wußte er dabei seine Worte zu setzen, daß die Wirkung gerade die entgegengesetzte ward. Den Kindern malte er aus, Alles freilich in sanften Worten und mit milder, väterlicher Geberde, welche strenge Zucht sie ins Künftige genießen würden, und wie nun ein- für allemal keine Rede mehr sei von diesen Scherzen und Spielen, diesen jugendlichen Thorheiten und Streichen, in denen sie sich bisher, dem Himmel sei es geklagt, so wohl gefallen; sondern wie sie nun, früh von ihren Aeltern abgeholt, den ganzen Tag würden in der engen Stube sitzen müssen und beten und singen, und wenn nur Einer zum Fenster hinausblicken wollte, klapp, da schlüge gleich die Ruthe darein – Alles natürlich zu ihrer Besserung und weil sie ja seinen bisherigen milden Ermahnungen kein Gehör geschenkt.

Eben so stellte er auch den Aeltern vor, welch eine Schmach das sei und wie tief sie gesunken wären, daß man ihnen jetzt sogar ihre Kinder wegnehmen müsse, tiefer noch als der Vogel im Walde und das Thier auf dem Felde, deren jedes doch wenigstens seine Jungen bei sich habe und sie pflege und warte, bis daß sie erwachsen wären. Aber freilich wohl, sie wären ja auch schlimmer als das Thier im Walde; das Gefieder des Raben wäre weiß gegen die Schwärze ihrer verstockten, ungläubigen Gemüther.

Wie oft, rief er, mit einem Ausdruck, in welchem Zorn und Mitleid mit einander kämpften, habe ich euch nicht ermahnt und gewarnt, o, ihr Unseligen! wie oft, in Ernst und Güte, euch nicht den Weg gezeigt, den Weg des Heils, auf welchen der Herr euch führen will durch den Mund seiner Gesalbten, seiner Priester! Aber ihr verschlosset eure Ohren und verhärtetet eure Herzen. Nun bricht das Gericht herein – arme Thoren, ich kann euch nicht mehr helfen; nun beugt euch wenigstens in Demuth und küßt die Ruthe, die euch züchtigt!

Die Wirkung, welche diese und ähnliche Reden hervorbrachten, ist nicht schwer zu ermessen. Es war überdies seit einiger Zeit eine seltsam aufgeregte Stimmung im Dorfe. Waren es die gehäuften Abenteuer jener Nacht, da das Engelchen ankam, die noch immer nachwirkten; war es jenes Beispiel thätlicher Widersetzlichkeit, welches der Meister damals gegeben hatte und das, zur großen Ueberraschung der Dorfbewohner, noch immer ungestraft geblieben war; waren es vielleicht auch die wunderlichen Gerüchte, welche sich an die Erscheinung des Fremden knüpften: genug, die Gemüther waren mehr als je von einer seltsamen Aufregung ergriffen, einer Erwartung, einer Spannung auf etwas Außerordentliches, Ungemeines, das sich begeben sollte, und von dem doch gleichwohl Niemand zu sagen wußte, worin es bestehen oder woher es kommen würde.

Eben so wenig ließ sich auch der Ursprung dieser Stimmung selbst nachweisen; sie schien in der Luft zu liegen, mit den dicken, schweren Herbstnebeln schien sie gekommen zu sein, diese allgemeine Gährung und Unzufriedenheit, dieser Argwohn und Mismuth, von dem sich Jeder ergriffen fühlte, ohne zu wissen, woher er stammte und warum er sich eben jetzt so heftig äußerte. Der Winter war ungewöhnlich mild, das Elend schien in Folge dessen geringer, als es sonst um diese Jahreszeit zu sein pflegte; gleichwohl, als ob ein Zauberer, ein umgekehrter Rattenfänger von Hameln durch das Land gezogen wäre, waren alle Herzen in höherm Grade als je zuvor mit Groll und Unzufriedenheit erfüllt.

Einzelne Zufälligkeiten trugen noch dazu bei, diese üble Stimmung zu erhöhen. Herr Wolston hatte den Bau eines neuen, großartigen Fabrikgebäudes begonnen; neue, verbesserte Maschinen waren aus England verschrieben worden. Schon war der Bau unter Dach, die fremden Werkmeister, welche die Maschinen aufstellen sollten, waren bereits angekommen; waren dieselben erst im Gange, so waren damit wiederum ein paar Hundert Menschenhände entbehrlich geworden, so mußte der karge Arbeitslohn aufs Neue herabsinken, so mußte das Elend der gedrückten Bevölkerung noch höher steigen.

So wenigstens behaupteten die Dorfbewohner selbst. Möglich, daß sie irrten; denn wer hätte sie in Herrn Wolston's Pläne eingeweiht? Aber genug, sie glaubten es so, ja sie gefielen sich ordentlich in dem Gedanken an die Gefahr und das neue Elend, das ihnen bevorstehe, so sehr, daß wir Niemand hätten rathen mögen, einen Versuch der Belehrung mit ihnen anzustellen.

Auch gab sich, die Wahrheit zu sagen, Niemand diese Mühe. Im Gegentheil, einige Lieblingsredner der Schenke hatten sich ein ordentliches Gewerbe daraus gemacht, ihre Zuhörerschaft durch immer neue und immer schreckhaftere Gerüchte in Unruhe zu setzen. Am meisten excellirte in dieser Hinsicht der tolle Heiner; die ganze groteske Phantasie dieses zerrütteten Kopfes schien noch einmal zu erwachen, indem er, mit Farben, die um so sicherer wirkten, je greller sie gewählt waren, den allgemeinen Nothstand ausmalte, in welchen das Dorf mit Nächstem gerathen würde.

Aber es geschieht euch recht, setzte er dann in der Regel mit Hohnlachen hinzu: habt euch das Fleisch von den Knochen gearbeitet und nun nehmen sie euch die Knochen obendrein, sich allerliebste Spielsachen, Kochlöffelchen und Würfel daraus zu drehen – heda, Würfel her! Würfel!

 … dem Narrenkönig
Gehört die Welt …

Vivat der Müssiggang! und den Teufel auf die armen Schlucker, welche sich mager arbeiten, damit Andere feist werden!

Der Karrenschieber, der ebenfalls allerhand Verdächtiges über die nächste Zukunft zu munkeln pflegte, fand in diesen Reden allemal große Weisheit. Sogar die Wirthin, deren Vortheil allerdings sehr wesentlich dabei betheiligt war, daß ihre Gäste zwar arm waren, aber doch nicht allzu arm, machte ein ganz nachdenkliches Gesicht dazu, besonders wenn der Maler Schmidt dabei saß.

Denn ohne daß dieser ein Wort in das Gespräch hineingeworfen hätte, lag doch in diesem leisen Wiegen des Kopfes, mit welchem er dasselbe dann wohl begleitete, so wie in der hastigen Art, wie er Glas und Flasche plötzlich von sich rückte und in sich gekehrt, mit kurzem düstern Gruß, die Gaststube verließ – es lag in diesem Allen, sagen wir, so viel schmerzliche Zustimmung, daß es Niemand entgehen konnte, am wenigsten der Wirthin, welche, wie wir wissen, die Augen stets überall hatte – oder doch zu haben glaubte.

Unter diesen Umständen waren denn die Reden, mit welchen der Prediger die beabsichtigte Warteschule bei den Leuten zu empfehlen suchte, wie Oel ins Feuer gegossen. Noch lange bevor zur Ausführung des Plans geschritten ward, ja zu einer Zeit bereits, da es noch sehr fraglich war, ob derselbe nur jemals zur Ausführung kommen würde, befand sich die gesammte Bevölkerung des Dorfs bereits in der lebhaftesten Widersetzlichkeit dagegen. Alles, versicherten die Männer, wollten sie sich gefallen lassen, Hunger und Durst und Arbeit, daß sie umfielen; aber nur bei ihren Kindern, da höre der Spaß auf, die seien ihr eigen, Niemand (das wollten sie wenigstens hoffen) habe ihnen etwas dazu gegeben, und so wollten sie dieselben auch in Zukunft allein durchbringen. Sie, die Väter, hätten auch nichts gelernt, und wären auch, Gott bessere es, Tagediebe und Hallunken gewesen von Klein auf. Aber ein vergnügtes Leben sei es gewesen bei alledem; ihre Kinder sollten es nicht anders haben als sie, weder besser noch schlechter, und wenn sie selbst in der Hölle braten sollten, nun gut, ihre Kinder brauchten auch keine Engel zu werden.

Am ungeberdigsten in dieser Hinsicht zeigte sich der rothe Konrad; mit Leib und Leben verschwor er sich, ehe er seinen Jungen dermaleinst in ein solches Sklavenhaus (wie er es nannte) gebe, lieber wolle er ihm mit eigner Hand den Schädel eindrücken.

Es war dies etwas spaßhaft eigentlich von ihm, da die Gefahr für ihn jedenfalls noch am weitesten im Felde war. Indessen, das blanke baare Geld, das er, wie wir bereits gehört haben, seit einiger Zeit sehen ließ, so wie namentlich die Aussicht auf den großen Taufschmaus, den er seinen Kameraden versprochen hatte, ließen seine Zuhörer über dergleichen kleine Bedenken hinwegsehen. Ein Kind, dessen Eintritt in die Welt mit solchem Glanz gefeiert werden sollte, war eine Respectsperson, auch noch bevor es geboren, das versteht sich, und es war eine Abscheulichkeit, ja der Gipfel aller Abscheulichkeit, ganz gewiß, eine Warteschule zu errichten, in die möglicherweise auch ein so ausgezeichnetes Geschöpf wie das Kind des rothen Konrad gebracht werden sollte.

Und doch war ja der Zorn der Männer noch wahres Kinderspiel gegen diesen Zorn und diese Wuth, mit welcher die Frauen, eine wie alle, sich gegen das beabsichtigte Unternehmen erhoben. Vielleicht, wenn sie gewußt hätten, daß der Plan dazu ursprünglich beim Engelchen entstanden, hätten sie leidenschaftloser darüber geurtheilt. So jedoch war schon der einzige Umstand, daß die Commerzienräthin als die Schöpferin dieses Planes galt, vollkommen hinreichend, alle Weiber zu geschworenen Feindinnen desselben zu machen.

Alle bösen Gerüchte, welche von der Baronin umgingen, alle harten Beschuldigungen, die jemals gegen sie erhoben worden, alle Ueberhebungen des Hochmuths und der Eitelkeit, welche sie sich jemals hatte zu Schulden kommen lassen, tauchten aufs Neue hervor. Ob es ihr denn gar zu sehr leid sei, fragte man höhnisch, keine eigenen Kinder zu haben, und ob der Schade sich denn wirklich in keiner Weise gut machen lasse, daß sie so begierig sei, Mutterstelle an Fremden zu vertreten.

Andere erinnerten an das offenkundige Misverhältniß, in welchem sich Madame Wolston zu ihrer Stieftochter befand; so möchte sie doch erst das Engelchen behandeln, das gute, sanfte, fromme Engelchen, wie dasselbe es verdiene, bevor sie daran denke, andern Leuten eine Mildthätigkeit aufzudrängen, nach welcher Niemand verlange.

Zwei Frauen besonders zeichneten sich durch die Heftigkeit ihrer Angriffe aus: erstlich die Wirthin, welche überhaupt keine Kinder hatte und die überdies, wenn sie deren gehabt hätte, durch ihren Wohlstand sicher genug gewesen wäre, dieselben in der Warteschule der Baronin sehen zu müssen – und zweitens jene wüste, unordentliche Mutter, die wir zuerst mit der Branntweinflasche in der Hand in der Schenke kennen gelernt haben und deren Kind alsdann unter die Pferde des Wagens gerathen war, welcher Angelica in die Heimat getragen. Gutwillig, so versicherte diese, gäbe sie ihren Jungen nicht, und wenn sie wüßte, daß er von der Baronin mit Rosinen und Mandeln gefüttert würde; zwei Landjäger wenigstens müßten kommen, ihn zu holen – und die möchten auch noch sehen, wie sie lebendig wieder zum Hause hinaus kämen.

Dabei hatte sie die Linke in die Seite gestemmt und mit der Rechten focht sie in der Luft, daß es sauste.

Alles jubelte und klatschte Beifall. Der tolle Heiner aber, das gefüllte Glas hoch über dem Kopfe schwingend, schritt mit tollem Gelächter auf sie zu:

Seht da, rief er, eine Römerin: Gebär mir Söhne, stolze Römerin …!

Und die stolze Römerin nahm das Glas, machte die mächtigen Schultern noch weiter, und goß es hinunter – der tolle Heiner selbst hätte es nicht besser können.


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