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Sechstes Kapitel.
Der letzte Wille der Mutter

Als Angelica in das Cabinet des Herrn Wolston trat, konnte derselbe, trotz der tiefen Abneigung, welche er gegen seine Stieftochter empfand, eine gewisse flüchtige Regung von Wohlgefallen dennoch nicht unterdrücken, so glänzend, während Angelica's Abwesenheit aus dem väterlichen Hause, hatte die Knospe ihrer Schönheit sich entfaltet und als eine so stattliche Erscheinung, mit so viel Anmuth und Würde, kam sie dahergeschritten.

Aber in demselben Augenblick durchzuckte ihn auch der Gedanke an das blasse, kümmerliche Aussehen seines Julian; diese Rosen, die so frisch auf den Wangen des Engelchen blühten, diese Augen, so sprühend von Leben und Munterkeit, diese Lippen, so schwellend in schönster Jugendfrische, ließen das verbleichte, kranke Antlitz seines Sohnes, mit den erloschenen Augen, den hagern, blassen Lippen, nur doppelt schmerzlich vor seine Seele treten. Der Freibrief, welchen die Natur Angelica'n verliehen und vermöge dessen sie die Herzen aller Uebrigen, sich selbst unbewußt, mit stillem Zauber gefangen nahm, gereichte ihr in den Augen ihres Stiefvaters vielmehr nur zu neuem Vorwurf; mit stummem Groll fragte er das Schicksal, warum es Diese, seinem Herzen so fremd wie seinem Blute, mit so viel Liebreiz ausgestattet, daß er selbst, ihr Todfeind, sich der Rührung kaum erwehren konnte – und sein Liebling, sein Alles, der Einzige auf Erden, an dem sein Herz hing, sein Sohn schlich so bleich, so kümmerlich einher? und kein noch so freundlicher Zuspruch, keine noch so schmeichelnde Bitte des bekümmerten Vaters konnte auf seinem Antlitz auch nur den leisesten Schimmer jener Freude hervorrufen, die selbst jetzt und in diesem Augenblick noch aus Angelica's Mienen in so entzückender Fülle strahlte?! – Erst jetzt fing Herr Wolston an, sie recht zu hassen. Sie hätte kommen können mit trotziger Miene, Zorn und Widerspruch auf der zierlich gewölbten Lippe, – er hätte es ihr vergeben wollen; aber daß sie kam mit Lächeln, daß sie kam mit einer Anmuth, einer Heiterkeit, welche fast sogar seinen Groll entwaffnete, das konnte er ihr niemals vergeben, niemals …

Wir brauchen wol nicht erst zu sagen, daß Herr Wolston bei alledem viel zu sehr Meister seiner selbst war, um von Allem, was in ihm vorging, sei es Haß, sei es Wohlgefallen, äußerlich auch nur das Geringste merken zu lassen. Die Unterhaltung bewegte sich anfangs in den herkömmlichen, nichtigen Redensarten der guten Gesellschaft, namentlich von Seiten des Commerzienraths, der absichtlich um so höflicher, ja so verbindlicher war, je mehr diese glatte Verbindlichkeit in Widerspruch stand mit dem natürlichen Verhältniß eines Vaters zu seiner Tochter, und je mehr er daher gewiß war, Angelica's Herz damit im Stillen zu verletzen.

Sogleich nach den ersten Begrüßungen brachte er das Abenteuer zur Sprache, welches Angelica fast auf der Schwelle des älterlichen Hauses begegnet war; er bedauerte den Schreck, welchen sie gehabt, und versprach, ihr durch strengste Untersuchung des Vorfalls und unerbittliche Bestrafung der Schuldigen die Genugthuung zu verschaffen, die ihr, als Gast des Hauses (Gast sagte er, nicht Tochter), gebühre.

Vergebens versicherte die junge Dame, daß dem ganzen, ihr unerklärlichen Vorfall ohne Zweifel nur ein Zufall, ein Misverständniß höchstens zu Grunde liege, und daß Herr Wolston sie im Gegentheil verbinden werde, wenn er das ganze Ereigniß der Vergessenheit überliefere. Ein junges Mädchen, erwiederte er, die weder von Gesetz und Recht, noch von Handel und Wandel etwas verstehe, möge immerhin so denken, den Mann aber, der sich von dieser Modekrankheit der Sentimentalität gefangen nehmen lasse, würde er verachten. Es sei die höchste Zeit, daß diesen Grundsätzen vermeintlicher, falscher Humanität, mit welchen man heut zu Tage gerade die niedern Klassen des Volks mehr und mehr in Aufregung und Verwirrung zu setzen beginne, mit der ganzen Strenge des Gesetzes und der ganzen Energie nüchterner, männlicher Einsicht entgegengearbeitet werde.

Ich höre freilich, setzte er hinzu, daß der Professor, in dessen Hause Sie erzogen wurden, Angelica, selbst nicht ganz frei ist von jenen verderblichen Grundsätzen; ja nach einzelnen Aeußerungen Ihrer Briefe an Julian muß ich schließen, daß sogar Sie selbst einigermaßen davon angesteckt sind. Ich habe keinen Werth gelegt weder auf das Eine noch auf das Andere und thue es auch jetzt nicht. Sie sind meine Tochter nicht und ist es mir daher vollkommen gleichgiltig, in welchem Sinne Sie für gut befunden haben, sich auszubilden. – Nur das lassen Sie bei dem zeitweiligen Aufenthalt, mit welchem Sie mein Haus beehren, sich gesagt sein, daß, so weit der Kreis meiner Autorität reicht, kein Raum ist für irgend welche moderne, sogenannte humane Bestrebungen. Ich (und es war unmöglich in so wenig einfache Worte mehr Spott und mehr verwundende Kälte zu legen, als der Commerzienrath that) … Ich, wie Sie sich wol noch aus den Klagen Ihrer seligen Mutter entsinnen, bin ein Geldmensch, und muß es den Nachkommen jener Glücklichen, welche nicht nöthig gehabt haben, für Geld und Gut zu sorgen, überlassen, die Ideen der neuen Zeit zu verwirklichen – auf ihrem eigenen Gebiet, versteht sich.

Dieser Spott war um so grausamer, als der Commerzienrath sehr wohl wußte, daß Angelica das unglückliche Ende ihres Vaters, in Bankrott und Elend, nicht unbekannt war.

Aber so fest hatte das Engelchen (das dieses Namens in der That niemals würdiger war als in diesem Augenblick) sich vorgenommen, um ihres Bruders willen, jeder Herausforderung von Seiten des Herrn Wolston aus dem Wege zu gehen, daß sie sich auch jetzt noch stellte, als hätte sie die Anspielung nicht verstanden, und mit unbefangenstem Tone theils von den kleinen Erlebnissen ihrer Reise, theils von dem und jenem erzählte, was sich eben in der Hauptstadt Neues zugetragen. – Bei alledem war die Unterhaltung für beide Theile sehr peinlich, da beide ihre bestimmten Nebengedanken hatten, und jeder dem andern die Gelegenheit ablauerte, dieselben endlich zur Sprache zu bringen. Am Peinlichsten natürlich für Angelica, da diese am Wenigsten gewohnt war, solche halbe, doppelsinnige Unterhaltung zu führen.

Endlich mochte es dem Commerzienrath, als einem praktischen Manne, leid thun um die schöne Zeit, die mit dieser Art von Unterhaltung verloren ging. Mit rascher Wendung daher den Dingen auf den Leib gehend:

Aber sind Sie wirklich so ganz allein gekommen, Angelica? fragte, er.

Angelica blickte ihn verwundert an. Mit meiner Kammerfrau, erwiederte sie, ganz gewiß.

Es überrascht mich, in der That, fuhr der Commerzienrath in oberflächlichem Tone fort, und ich bin Ihnen verbunden für diese unerwartete Mäßigung. Denn nach Ihren beiden letzten Briefen erwartete ich allerdings nichts Geringeres, als daß Sie sofort in Begleitung eines Advocaten, vielleicht auch einiger Gerichtsdiener kommen würden. Oder ist der junge Mann aus der Hauptstadt, der so eben bei mir war, der Secretair des Ministers oder was er sonst ist, vielleicht einer Ihrer Advocaten, der das Terrain erst sondiren will? Bekannt wenigstens schien er mit Ihnen zu sein …

Es war Herr von Lehfeldt, den der Commerzienrath meinte. Derselbe hatte so eben seine Aufwartung bei ihm gemacht und die Briefe überreicht, mit denen der Minister, der, wie unsere Leser sich entsinnen wollen, der nahe Anverwandte der jetzigen Frau Wolston war, ihn dem Hause des Commerzienraths empfohlen hatte. Herr von Lehfeldt hatte den Commerzienrath dabei zugleich sowol über die Zwecke seiner Reise, als auch über die Absicht unterrichtet, welche seinem Incognito zu Grunde lag. Beide liefen ganz einfach darauf hinaus, daß der Minister ihn abgeschickt hatte, theils dem Schmuggelhandel nachzuspüren, der seit einigen Jahren an dieser Grenze in immer größerem Maßstab mit immer wachsenden Mitteln getrieben ward, theils und ganz besonders sollte er die Fabrikbevölkerung beobachten, über deren zunehmende Widersetzlichkeit allerhand beängstigende Gerüchte in die Hauptstadt gedrungen waren.

Herr Wolston empfand aus verschiedenen Gründen eine lebhafte Abneigung gegen Herrn von Lehfeldt. Einmal konnte er die vornehme Verwandtschaft seiner Frau überhaupt nicht leiden, da er nämlich sehr wohl wußte, daß es nur sein außerordentlicher Reichthum gewesen, was ihm die Hand der Baronesse erworben, und daß diese Heirath, dessen ungeachtet, sowol in ihren als ihrer Verwandten Augen doch immer nur eine Misheirath blieb.

Außerdem aber beleidigte es seinen Stolz höchlich, daß der Minister für nöthig gehalten, einen eignen Beamten zur Beaufsichtigung seiner Fabrikarbeiter herzuschicken: als ob er selbst nicht Mannes genug dazu wäre, sie im Zaume zu halten, und als ob gegen das Uebergewicht, das sein Stand, sein Reichthum, vor Allem seine Klugheit und Erfahrung ihm gaben, die Bemühungen eines solchen Kundschafters vom grünen Tische nur überhaupt könnten in Anschlag gebracht werden. Ja so weit ging dieses Selbstgefühl, daß Herr Wolston im Stillen gar nicht daran glaubte, daß dies wirklich die Mission des Herrn von Lehfeldt sei: sondern er hielt es blos für einen Vorwand, mit welchem derselbe ihn über noch andere, geheime Gründe seiner Hierherkunft zu täuschen suche. Wobei wir es einstweilen dahingestellt sein lassen müssen, welche andern geheimen Gründe bei dem Commerzienrath selbst zu diesem Argwohn beitrugen.

Gleichwohl, bei dem Gewicht dieser Empfehlungen, welche Herr von Lehfeldt mitbrachte, und bei den mannichfachen Rücksichten, die auch der Commerzienrath gegen den Minister zu nehmen, hatte er nicht umhingekonnt, sowol die Empfehlung selbst zu respectiren, als auch seinen Respect zu versichern vor dem Incognito, welches Herr von Lehfeldt während seines Aufenthaltes in dem Fabrikort behaupten wollte.

Sie werden, hatte er ihm beim Abschied, mit halb kühlem, halb verbindlichem Lächeln gesagt, nun also von jetzt an der Maler Schmidt sein: und da ich leider, Geschäftsmann, wie ich bin, mich auf die schönen Künste gar nicht verstehe, meine Frau dagegen – die Cousine Ihres Chefs, wie Ihnen bekannt sein wird – eine sehr eifrige Liebhaberin derselben ist, so wollen Sie, zumal bei meiner sehr beschränkten Zeit, mich wol entschuldigen, wenn ich Sie ersuche, mehr auf die Unterhaltung meiner Frau, als auf meine eigene zu zählen.

Angelica, die nicht die mindeste Ahnung davon hatte, weder daß Herr von Lehfeldt im Dorfe, noch daß er soeben im Zimmer ihres Vaters gewesen, versicherte mit allen Zeichen der lebhaftesten und aufrichtigsten Verwunderung, daß sie durchaus nicht verstehe, was er meine.

Gleichviel, rief der Commerzienrath, so habe ich geirrt. Aber gestehen Sie selbst, Angelica, daß ich Ihren Briefen nach zu einer Annahme dieser Art berechtigt war. Oder wie? haben Sie mir nicht bereits schriftlich gedroht, einen Proceß gegen mich anhängig zu machen? ist es nicht in der That Ihre Absicht, mit den gehässigsten Anklagen aufzutreten – ich sage nicht, gegen Ihren Vater, aber doch gegen den Mann Ihrer verstorbenen Mutter? Ja was spreche ich von mir? Ihre eigene Mutter ist es ja, deren letzten Willen Sie angreifen, die Sie noch verklagen wollen im Grabe selbst! Glauben Sie nicht, fuhr er fort, indem er die goldene Dose nachlässig zwischen den Fingern drehte, daß ich Ihnen dieser Absicht willen zürne: sie steht in solcher Uebereinstimmung mit Ihrem mir wohlbekannten Temperamente und ist dabei – Sie müssen einem Manne meiner Stellung diese Offenherzigkeit schon erlauben, Angelica – an sich so kindisch, so ohne alle Aussicht auf Erfolg, daß sie bei Weitem mehr mein Mitleid erregt als meinen Zorn …

Angelica, die wohl fühlte, daß jetzt der entscheidende Augenblick gekommen und daß sie mehr als je festhalten müsse an der Besonnenheit und Ruhe, welche sie sich um Julian's willen gelobt, ließ absichtlich einige Augenblicke vergehen, bevor sie antwortete. Dann erst, mit so bescheidener wie fester Stimme:

Ich würde Ihnen dankbar gewesen sein, sagte sie, wenn Sie das Gespräch nicht gleich bei unserm ersten Zusammentreffen auf diesen Gegenstand gebracht hätten. Da es nun aber einmal Ihr Wille so gewesen ist, so füge ich mich. Ja, allerdings, ich kann und werde mich nicht ohne Widerstand einem Testamente fügen, welches, in dem wesentlichsten Punkte meiner Freiheit, mich auf eine durchaus unerträgliche, durchaus unerlaubte Weise beschränkt und die wichtigste Entscheidung meines Lebens von fremder Willkür abhängig macht! Ich kann und werde es nicht, weil ich nicht glaube, daß Gesetz und Recht eine derartige willkürliche Verfügung überhaupt gestatten! weil ich mich nicht überreden kann, daß das überhaupt der Wille meiner Mutter gewesen ist – oder ist er es gewesen, nun gut, so ist sie selbst in dem Augenblick, da sie dies niederschrieb, ihres Willens nicht mehr mächtig gewesen! Erwägen Sie selbst: eine Mutter, welche, soweit ihre unglückliche Krankheit ihr verstattete, es ihrer einzigen Tochter niemals hat fehlen lassen an den rührendsten Proben mütterlicher Liebe und Zärtlichkeit – eine Mutter, von der es gleichwol notorisch ist, daß ihr Gemüth in Verwirrung und sie nicht jederzeit Herrin ihres übrigens so klaren Verstandes gewesen – eine solche Mutter, wenige Monate, bevor sie im Irrenhause stirbt, errichtet, fern von ihrer Familie, in fremdem Lande, ein Testament, durch welches auf die wunderlichste, ja unerhörteste Weise vorausverfügt wird über die Hand dieser ihrer einzigen Tochter! Ich bin, nach dem Wortlaut jenes mütterlichen Testamentes, verpflichtet, bis zum Ablauf meines zwanzigsten Jahres meine Hand nicht nur überhaupt zu vergeben, sondern sie auch an den Mann zu vergeben, der Ihre Zustimmung haben – ja sprechen wir es nur geradehin aus, der mir von Ihnen bestimmt sein wird. Heirathe ich bis zu meinem zwanzigsten Jahre nicht, oder heirathe ich ohne Ihre Zustimmung und Erlaubniß, so soll ich mit allen Ansprüchen an das älterliche Vermögen abgewiesen und ein für allemal auf eine Rente beschränkt sein, so kümmerlich, daß ich kaum mein Leben davon fristen könnte und daß diese glänzende Erziehung, welche ich Ihrer Güte verdanke, mir vermuthlich nur zum Fluch gereichen würde. Wahrhaftig, rief sie, indem sie rasch aufstand und den Sessel zurückschob, das scheint mir eher die Erfindung eines Romanschreibers zu sein oder eines Bühnendichters, der um eine Intrigue in Verlegenheit ist, als das Testament einer Mutter, und niemals, niemals werde ich mich ihm unterwerfen – wenigstens, setzte sie mit größerer Fassung hinzu, nicht ohne zuvor allen Widerstand erschöpft zu haben, der in meinen schwachen Kräften steht.

Der Commerzienrath, während Angelica's heftiger Rede, hatte seine Ruhe keinen Augenblick verloren.

Ich überzeuge mich, sagte er, indem er mit verbindlicher Handbewegung sie aufs Neue zum Sitzen nöthigte, daß ich Ihnen in der That Unrecht gethan habe, Angelica, als ich voraussetzte, Sie hätten bereits Rücksprache mit Ihrem Advokaten genommen. Wäre dies der Fall und hätten Sie auch nur die oberflächlichste Meinung eines Sachverständigen eingeholt, so könnten Sie unmöglich selbst über den einfachen Thatbestand sich in solchen Irrthümern befinden, als Sie thun. Es ist freilich meine Sache nicht, Sie aufzuklären: indessen, da es Ihnen vielleicht eine Menge Verdrüßlichkeiten und Kosten erspart, so will ich gleichwohl den Versuch machen. – Zuerst setzt es mich nicht wenig in Erstaunen, daß Sie, die eigene Tochter, den Irrthum des Publikums theilen, welches, in seiner erbärmlichen Klatschsucht, sich einbildet, als wäre Madame Wolston im Irrenhause gestorben. Wäre es nur meine Absicht gewesen, Madame Wolston im Irrenhause unterzubringen, so hätte ich können die Reise nach England sparen. Aber ich kannte ihren Gemüthszustand besser und hoffte, daß schon die heimatliche Luft an sich, ohne weitere ärztliche Kunst, genügend sein würde, ihre einigermaßen erschütterte Gesundheit wiederherzustellen. Der Himmel hat es anders gewollt. – Jedenfalls aber gibt der Todtenschein, der sich dem Testamente beigeheftet findet und von dem auch Sie, Angelica, eine Abschrift in Händen haben, den unwiderleglichen Beweis, daß Madame Wolston in dem Gartenhause eines meiner Geschäftsfreunde gestorben ist, demselben Hause, in dem ihr, von ihrer Rückkehr nach England an, durch meine Fürsorge eine gastliche Stätte bereitet war, und das sie nicht anders als nur als Leiche verlassen hat.

Zum Zweiten, fuhr Herr Wolston fort, scheint es Ihrer Aufmerksamkeit völlig entgangen zu sein, daß das Testament Ihrer verstorbenen Mutter aufs Vollständigste und Erschöpfendste versehen ist mit all jenen Förmlichkeiten, welche gerade das englische Gesetz für dergleichen Acte vorschreibt; die genauesten und unverwerflichsten Zeugenaussagen, die in dem Testamente selbst vermerkt sind, bekunden sowol die Identität der Person, als auch, daß Ihre verstorbene Mutter sich zur Zeit, da jenes Testament abgefaßt ward, im vollkommensten Wohlsein und im unzweifelhaftesten Gebrauch aller ihrer Geisteskräfte befunden hat. Wie Sie denn überhaupt wohl aus Ihrer eigenen Kindheit wissen sollten, Angelica, daß die Krankheit der verstorbenen Madame Wolston ihren Grund weit weniger in einer Zerrüttung oder auch nur Störung ihrer Geisteskräfte hatte, als in den peinlichen Erinnerungen, mit welchen ihre eigene Vergangenheit sie verfolgte und die ich Ihnen zur Warnung aufstellen würde, wenn dergleichen Warnungen, bei einem so hartnäckigen und eigensinnigen Character, wie der Ihre, von irgend einem Erfolg sein könnten. Sie wissen ja wol, welches unglückliche Ende der erste Mann der Madame Wolston, Ihr Vater, genommen, und welchen Antheil an dieser bejammernswerthen Katastrophe Madame Wolston sich selbst zuschreiben mußte …

Gut, unterbrach er sich selbst, da Angelica ihn mit stummer Geberde beschwor, diesen Gegenstand zu verlassen: Sie wollen nichts davon hören, und es liegt allerdings auch mir nichts daran, alte vergangene Historien aufzuwecken, die zur Entscheidung unseres Streites doch nichts beitragen könnten. Aber erinnern will ich Sie doch – oder wenn Sie es noch nicht gewußt haben und wenn Ihre verstorbene Mutter versäumt hat, das Gefühl der Dankbarkeit zu erwecken, welche Sie mir in der That schuldig sind – wohlan, so mögen Sie es jetzt zuerst von mir hören, daß ich es damals war, ich, Angelica –! der sich Ihrer verlassenen, verzweifelnden Mutter annahm, ihre zerrütteten Verhältnisse wiederherstellte, und sie in ein fremdes Land führte, in eine neue Umgebung, unter neue, mit ihrer Verschuldung unbekannte Menschen, wo sie hätte glücklich werden können, wenn Glücklichsein nicht eben so wenig ihre Sache gewesen wäre, als – Glücklichmachen.

Das, sagte der Commerzienrath in demselben kalten, gemäßigten Tone weiter, führt mich auf den dritten Punkt, den Ihre Leidenschaftlichkeit Sie hat übersehen lassen. Die Rente, welche das Testament Ihnen für den Fall Ihres Ungehorsams aussetzt und die Ihnen, nicht ohne Grund, so kümmerlich erscheint, ist in der That der ganze Ertrag dessen, was Sie allenfalls Ihr mütterliches Vermögen nennen dürfen und worauf Ihre Ansprüche daher allein sich erstrecken können. Das Vermögen, an welches das Publikum jetzt denkt, wo es den Namen Wolston nennen hört, ist eben mein Vermögen, durch meinen Fleiß, meine Kenntniß, meine Entsagungen erworben; das Gesetz kennt keinen andern Erben desselben, als Ihren Bruder, meinen Sohn. Das Testament Ihrer Mutter daher, das Ihnen so abenteuerlich, so romanhaft erscheint, spricht im Gegentheil nur das ganz einfache, ganz prosaische Verhältniß aus, das in den Thatsachen liegt und das nothwendig überall eintreten müßte, auch ohne das Testament und ohne mütterliche Vorausbestimmung, wo Sie sich in einem so wichtigen Schritt, wie Ihre künftige Verheirathung ist, meiner Autorität entziehen und damit auch den letzten Schatten kindlicher Abhängigkeit zerstören würden.

Finden Sie es nun, schloß der Commerzienrath seine Rede, nach diesem Allen noch angemessen, und namentlich finden Sie einen Advokaten, der es unter diesen Umständen noch unternehmen will, das Testament für ungiltig, falsch, oder was weiß ich, zu erklären – immerhin, Angelica, ich lege Ihnen nichts in den Weg, ja nicht einmal an den Mitteln will ich es Ihnen fehlen lassen, Ihren Advokaten zu – bezahlen. Ihr Geburtstag, wenn ich nicht irre, ist am Weihnachtabend?

Und als Angelica dies mit stummer Verneigung bejahte: Ganz richtig, sagte er, halb spöttisch, halb verbindlich, ich wußte ja doch, daß Sie als Weihnachtengelchen gekommen. Es sind also noch fast sechs Monate, bis Sie Ihr zwanzigstes Jahr vollenden und bis die Klausel des Testaments zur Anwendung kommt. Sie haben mithin auch noch vollkommen Zeit bis dahin, zu überlegen und zu prüfen, was Ihnen gut ist und was besser. Ja selbst wenn Sie eine Neigung haben oder wenn Sie eine bis dahin fassen sollten, und sie wäre nur irgend von der Art, daß ich sie billigen könnte, – theilen Sie es mir mit, wir wollen sehen, was sich thun läßt, ich gebe Ihnen, bis zum entscheidenden Termin, in Allem freie Hand. Aber nur ein ernstes Interesse für Ihre Drohungen, gutes Kind, können Sie mir unmöglich zumuthen, und noch weniger, daß ich mich darüber in persönlichen Zwist mit Ihnen einlassen soll; meine Zeit ist sehr beschränkt, wie Sie ja wol noch von früher wissen …

Das junge Mädchen, das den Zusammenhang der Dinge in der That noch nie in diesem Lichte betrachtet hatte, wußte im Augenblick nichts zu erwidern. Aber eben so wenig auch vermochte sie das Gefühl des Unrechts zu unterdrücken, das sie bei alledem aus dem streitigen Testament herauszuspüren meinte, und noch weniger den Argwohn, der schon seit Längerem in ihr rege war und der durch das Abenteuer von heute Morgen eine so wesentliche Nahrung erhalten hatte.

Aber so haben Sie, rief sie, mit all diesen Beweisführungen, die ich als unkundiges Mädchen weder zu prüfen, noch zu widerlegen verstehe, mir doch immerhin noch keinen Aufschluß gegeben, wie es einer Mutter, einer zärtlichen Mutter möglich war, die Zukunft ihrer Tochter auf eine solche Weise zu fesseln, und was überhaupt der Zweck dieser seltsamen Bestimmung sein sollte?!

Der Commerzienrath sah sie mit kaltem Lächeln an.

Nun, sagte er nach einer Pause, während deren er sehr ämsig den Deckel seiner Dose blank gescheuert hatte, ich dächte, das wäre einfach genug: eben weil es eine zärtliche Mutter war. Ich denke mir, setzte er lauernd hinzu, Madame Wolston hat in ihrer ersten unglücklichen Ehe – denn auch Ihr Vater, Angelica, war kein Tugendheld, wahrhaftig nicht! – erfahren, daß es nicht gut ist, wenn junge Damen bei ihrer Verheirathung nur allein der sogenannten Stimme des Herzens folgen: sondern daß es gerade hier Noch thut, auf den Rath älterer, einsichtiger Leute zu hören.

In ihrer zweiten Ehe sodann, fuhr er mit immer bittererm Spotte fort, hat sie, denk' ich mir, gleichwohl empfunden, daß es doch überhaupt ein sehr großes Glück ist, verheirathet zu sein. Nun sehen Sie, diese beiden Erfahrungen und vielleicht auch eine gewisse Kenntniß Ihres Charakters, über den ich mich bereits genügend ausgesprochen, haben ihr, meine ich, jenes Testament eingegeben; sie hat Sie vor dem Einen beschützen und Ihnen gleichwohl das Andere nicht vorenthalten wollen – da ist das Räthsel aus einmal gelöst, meinen Sie nicht?

Die junge Dame, die sich außer Stande fühlte, das Gespräch in diesem Tone fortzusetzen und die zugleich auch, zu ihrem Schreck, bemerkte, wie die Zeit verstrich, ohne daß es ihr bis jetzt gelungen, denjenigen Gegenstand zur Sprache zu bringen, der ihr doch bei Weitem am Meisten am Herzen lag, das Schicksal ihres Bruders – bat um die Erlaubniß, die Unterhaltung hier abbrechen und zu einem andern, wichtigem Thema übergehen zu dürfen. Mit rascher Wendung, bevor noch Herr Wolston Zeit gehabt, die Erlaubniß zu ertheilen oder zu verweigern, ging sie zu Julian's Verhältnissen über. Mit der ganzen unwiderstehlichen Beredtsamkeit der herzlichsten schwesterlichen Liebe und mit dem ganzen Muth, den sie sich für diesen Augenblick gleichsam zusammengespart hatte, schilderte sie den schmerzlichen Eindruck, welchen Julian's verändertes Aussehen in ihr hervorvorgebracht; kein Kopfschütteln ihres Stiefvaters, kein drohendes Stirnrunzeln, kein geringschätziges Lächeln desselben konnte sie irre machen, den ganzen Inhalt ihrer Sorgen, ihrer Befürchtungen, ihrer Wünsche vor ihm auszuschütten.

War es nun die Wärme, mit welcher Angelica sprach und die endlich auch das kalte Herz des Commerzienraths entzündete, war es, weil der Gegensatz ihrer blühenden Frische ihm das hinwelkende Aeußere seines Sohnes erst recht fühlbar gemacht hatte, so daß er in Folge dessen wirklich ernstere Besorgnisse zu hegen anfing – genug, je länger Angelica sprach, je nachdenklicher ward Herr Wolston, je weicher wurden seine Züge, je mehr senkte sich das Haupt, das er sonst so stolz im Nacken trug –: bis endlich, da sie erschöpft inne hielt, die Angst der Vaterliebe alle andern Empfindungen aus seiner Seele verdrängt und er es fast vergessen hatte, daß es seine Feindin, die beneidete, verhaßte Angelica war, die zu ihm sprach …

Ich nehme an, sagte er, daß die Sentimentalität und Leidenschaftlichkeit, welche Ihre Mutter auf Sie vererbt, Sie die Dinge schlimmer ansehen läßt, als sie in der That sind. Aber es ist mein einziger Sohn, mein Alles, um den es sich handelt; gesetzt also, es wäre wirklich, oder doch wenigstens zum Theil wirklich so, wie Sie es schildern – was soll ich, was kann ich thun, es zu ändern? Ich bin reich, Sie wissen es – soll Julian reisen? soll er nach Italien, Griechenland? Ich bin reich, wie gesagt, und all mein Reichthum hat keinen andern Zweck, als nur meinem Sohn das Leben zu erheitern …

Auf diesen Punkt eben hatte Angelica ihn zu führen gewünscht. In klarer, leidenschaftloser Weise, indem sie sich sorgsam bemühte, alle Eigenthümlichkeiten des Commerzienraths zu schonen, setzte sie auseinander, wie Julian bei dem weichen, empfindlichen Herzen, das er nun einmal habe und das er erst in spätem Jahren, nach dem verständigen Beispiel seines Vaters, werde bewältigen lernen, nothwendig einen, seinem Alter und seinen Neigungen entsprechenderen Umgang haben müsse. Vor Allem, trotz der vortrefflichen Wahl, welche der Commerzienrath in Herrn Waller getroffen, scheine es ihr, daß Julian noch immer mit krankhafter Sehnsucht an seinem ehemaligen Lehrer hänge, dem Leonhard …

Der Commerzienrath, bei Leonhard's Namen, zuckte gleichgiltig die Achseln: er habe in der That nicht das Mindeste gegen diesen Herrn Leonhard, und wenn sein Prozeß beendigt sei, oder es sich sonst mit den gesetzlichen Vorschriften vertrage, so möge er in Gottes Namen wieder einige Unterrichtsstunden bei Julian übernehmen – natürlich unter Herrn Waller's Aufsicht.

Ermuthigt durch diesen Erfolg, der ihr von glücklichster Vorbedeutung schien, wagte Angelica mit ihrem zweiten Antrag hervorzurücken. Sie erinnerte Herrn Wolston, welche günstige Wendung vor sechs Jahren in der Entwickelung ihres Bruders eingetreten sei und wie sehr sowohl sein Geist als sein Körper gewonnen habe, damals, als er nicht auf den Umgang seiner Lehrer allein beschränkt gewesen sei, sondern als er zu Unterricht und Spiel einen Gefährten, einen Kameraden gehabt habe. Wenn es sich vielleicht thun ließe, ihm wieder eine ähnliche Gesellschaft zu verschaffen, ja wenn es vielleicht möglich sein sollte, denselben jungen Mann, der damals solch glücklichen Einfluß auf Julian geübt habe, wieder in das Haus zu ziehen –; sie wisse zwar sehr wohl, wie abgeneigt ihr Vater diesem Umgang wäre, mit vollem Recht ohne Zweifel …

Aber hier ließ der Commerzienrath sie nicht weiter sprechen; kaum daß er merkte, wohin sie zielte, als er, all seiner sonstigen Mäßigung vergessend, im fürchterlichsten Zorn aufsprang –

Angelica bebte, da der Sturm jetzt heranbrach, den sie so lange gefürchtet und den sie gleichwohl jetzt, sie mußte es sich selber sagen, einigermaßen leichtsinnig herauf beschworen hatte – : wer hieß sie auch, die Sache so übereilen und so unvorbereitet mit der Thür ins Haus fallen?

Aber auf einmal, als hätte ein plötzlicher Gedanke den Commerzienrath überrascht, legte sich sein Zorn …

Sie haben Recht, die Sache ist zu überlegen, Angelica, sagte er mit eigenthümlichem Schmunzeln: Sie haben vielleicht nicht Unrecht, der junge Mensch ist am Ende so übel nicht. Auch hat er sich ja, wie ich höre, bei dem Vorfall gestern Nacht um die öffentliche Ordnung und Sicherheit einiges Verdienst erworben, und es ist um so zweckmäßiger, daß ihm eine kleine Auszeichnung dafür widerfährt, je größere Schuld an dem Vorfall dagegen der eigene Vater, dieser Aufwiegler von Profession, zu haben scheint. Ich entscheide mich noch zu nichts, weder zu ja, noch zu nein. Aber da Sie dem Reinhold doch einigen Dank schuldig geworden sind, so will ich nichts dagegen haben, daß Sie ihm denselben persönlich abstatten und bei dieser Gelegenheit hinhorchen, wie der junge Mensch etwa gesonnen ist, und ob er geneigt sein möchte, irgend eine Stellung in der Umgebung Julian's wieder einzunehmen. Einstweilen wird es an der Zeit sein, daß ich Sie meiner Gemahlin, Ihrer Mutter, vorstelle: Ihren Arm, Angelica.

Welche Berechnung dieser so plötzlich veränderten Stimmung des Commerzienrathes zu Grunde lag, wer wollte es ergründen? Nur daß eine solche Berechnung zu Grunde lag, und zwar eine fremdartige, von Niemand geahnte, das fühlte selbst Angelica aus seinem so plötzlich umgewandelten, seltsamen Benehmen heraus; ihre Reue, das Gespräch voreilig so weit geführt zu haben, verminderte sich trotz des scheinbar glücklichen Erfolges nicht, und mit doppelter Befangenheit daher folgte sie ihrem Vater zu der zweiten peinlichen Begrüßung, welche sie erwartete.


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