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Drittes Kapitel.
Windstille

Auch das Engelchen sogar sollte eine einigermaßen ähnliche Erfahrung machen. Unsere Leser entsinnen sich, mit wie viel Muth und zugleich mit wie viel Entsagung ausgerüstet, die junge Dame das väterliche Haus betreten hatte; zum Handeln wie zum Leiden gleich entschlossen, hatte sie sich, im Bewußtsein ihres guten Rechts und gehoben durch das Gefühl ihrer schwesterlichen Zärtlichkeit, auf alle Angriffe des Hasses, auf jede Art von Anfeindung, Kränkung und Demüthigung gefaßt gemacht.

Aber nur auf Eines nicht: nicht auf die Unthätigkeit, zu welcher sie sich durch die Verhältnisse verurtheilt sah! nicht auf die Gleichgiltigkeit, mit welcher Herr und Frau Wolston über den Zweck ihrer Anwesenheit völlig hinwegsahen! nicht darauf, den bittersten Gram im Herzen, von der ängstlichsten Sorge gefoltert, gleichwohl äußerlich so ruhig, unter so nichtigen geselligen Zerstreuungen dahinleben, einem Vater, von dem sie sich so gehaßt wußte, einer Mutter, die sie selbst so wenig achtete, täglich mit so gelassener Miene entgegentreten zu müssen, wie dies Alles in der That nun schon seit Monaten der Fall war! Auf Sturm und Unwetter hatte sie sich vorbereitet, diese Windstille dagegen, die sie hier fand, lähmte die Schwingen ihrer Seele und machte sie irre an sich selbst. Tag auf Tag, Woche auf Woche, ja endlich Monat auf Monat verrannen, immer näher rückte die Stunde, welche über ihr Schicksal entscheiden mußte – und gleichwohl geschah nichts, nicht einmal von ihr selbst, dasselbe zu ändern oder auch nur aufzuhalten.

Die Unterredung, welche sie am Tage nach ihrer Rückkunft mit Herrn Wolston gehabt hatte, war und blieb die einzige, welche er ihr über diesen Gegenstand verstattete; alle Versuche, das Gespräch noch einmal darauf zurückzulenken, alle Vorstellungen, alle Bitten, selbst alle schriftlichen Annäherungen, wurden von Herrn Wolston mit derselben kalten, lächelnden Höflichkeit zurückgewiesen, durch welche er das Herz des jungen Mädchens bereits in jenem ersten Gespräche so tief verwundet hatte.

Vergeblich beugte sie ihren Stolz so weit, die Vermittelung ihrer Stiefmutter, ja endlich sogar diejenige des Herrn Waller in Anspruch zu nehmen.

Denn daß das Gerücht nicht zu viel gesagt hatte über den Einfluß, dessen dieser Letztere im Hause des Commerzienraths sich erfreute, und daß es von ihm selbst nur eine sehr erklärliche Zurückhaltung gewesen war, wenn er denselben bei ihrer ersten Begegnung in Abrede gestellt, davon hatte das Engelchen sich längst überzeugen müssen. Andererseits aber hatte sie bei aller Aufmerksamkeit auch nichts entdecken können, was den Argwohn ihres Bruders bestätigt hätte. Im Gegentheil, Herr Waller zeigte sich fort und fort als derselbe bescheidene, respectvolle, ja ergebene Mann, als der er sich ihr in der ersten Stunde vorgestellt hatte; selbst der Einblick, welchen Angelica ihm, in der Angst ihres Herzens, in ihre eigenen Verhältnisse gestattet und den er ihr auf die zarteste Weise erleichtert hatte, konnte ihn nicht um die Breite eines Haares aus dieser ehrerbietig gemessenen Stellung herausbringen.

Allein auch diese Vermittelungen schlugen fehl. Die Commerzienräthin erklärte in kurzen bestimmten Worten, daß sie sich um die Verwandtschaft ihres Mannes ein für allemal nicht bekümmere; da ihr Gemahl es so wolle, und so lange derselbe es so wollen werde, sei Angelica Gast ihres Hauses und dürfe auf jede Pflicht der Gastlichkeit zählen, aber auch auf nichts weiter.

Und ebenso auch Herr Waller, so viel Theilnahme er Angelica auch bezeigte und mit soviel kluger Behutsamkeit er die ganze Angelegenheit behandelte, so konnte auch er ihr dennoch keine andere Antwort überbringen, als die Herr Wolston ihr bereits mündlich zu wiederholten Malen gegeben hatte: nämlich daß Alles, was sich über diese Sache sagen lasse, von ihm gesagt sei; brauche Angelica noch andern Rath und andern Aufschluß, so möge sie sich denselben von ihrem Advocaten geben lassen.

Freilich wohl, es war leicht gesagt, von ihrem Advocaten. Aber das vermehrte ja eben das Beängstigende ihrer Lage, daß auch der Justizrath, dem sie sich auf Anrathen des Professors noch während ihres Aufenthalts in der Hauptstadt anvertraut hatte, sie im Stiche zu lassen schien. – Wir werden binnen Kurzem noch die persönliche Bekanntschaft des Justizraths machen. Bis dahin, genügt die Versicherung, daß sowohl seine Geschicklichkeit als seine Zuverlässigkeit über jeden Zweifel erhaben war; in einer fast fünfzigjährigen Praxis als der erste Advocat der Hauptstadt anerkannt, ward er überall als ein Muster von Uneigennützigkeit und Redlichkeit verehrt. Mit dem Engelchen war er überdies im Hause ihres Erziehers bereits vor Längerm persönlich bekannt geworden und hatte das Behagen, das ihr munteres, frisches Wesen ihm erweckte, in seiner freundlich derben Weise gern und häufig kundgegeben. Auch noch bei ihrer Abreise hatte er ihr allen möglichen Schutz und Beistand versprochen und sie aufgefordert, ihm vom Stande der Dinge jederzeit treuen und ausführlichen Bericht zu geben; es müßte ja, hatte er gemeint, nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn er, der so manchem armen Schelm, zum Theil wider Verdienst und Würdigkeit, von Rad und Galgen geholfen, nicht solchem wackern, unschuldigen Kinde aus den Fallstricken eines zweideutigen Testaments sollte helfen können.

Und wenn der Justizrath nun, nach solchen Verheißungen und Zusicherungen, für Angelica dessenungeachtet schon seit Monaten so gut wie verstummt war, wenn er ihre dringendsten Mahnungen, ihre besorglichsten Anfragen und Bitten nur höchst sparsam, mit allgemeinen unsichern Vertröstungen, ja wohl gar mit Scherzreden beantwortete, für welche das arme geängstigte Mädchen, so wohl dieselben in der That gemeint sein mochten, unter diesen Verhältnissen doch keinen Sinn mehr hatte, noch haben konnte – woher konnte das kommen, was konnte es bedeuten, als daß auch er, der scharfsichtige, erfahrene Rechtsgelehrte, ihre Sache für verloren hielt? als daß auch er, dem die ganze Rüstkammer vieljähriger Erfahrung zu Gebote stand, gleichwohl für Angelica keinen Ausweg mehr sah, als entweder sich der schmachvollen Bedingung des mütterlichen Testaments zu unterwerfen oder aber allen Rechten und Ansprüchen widerstandlos zu entsagen?

Und wäre es nur dieses Letztere allein gewesen! So lebhaft das Rechtsgefühl des jungen Mädchens auch war und so sehr jede Fiber ihres Wesens unwillkürlich, instinctmäßig sich auflehnte gegen das Unrecht, das ihr, nach ihrer Ansicht, widerfahren sollte – nicht weil sie es war, der es widerfuhr, sondern überhaupt weil es ein Unrecht war –: so hatten dennoch diese bangen, peinlichen Monate, die sie im väterlichen Hause verlebte, ohne daß von Allem, um dessen willen sie die Schwelle desselben überschritten, sich auch nur das Mindeste verwirklichen wollte, ihren Muth allmälig so erschüttert, ihr Herz, von der endlosen, quälenden Sorge, die es lautlos in sich verschließen mußte, war so müde, so mürbe geworden, sie sehnte sich mit so inniger, so schmerzlicher Sehnsucht hinaus aus diesem ganzen unklaren, unsichern Getreibe: daß sie ja gern auf jedes Recht und jeden Anspruch verzichtet hätte, – wäre es eben nur ihr Recht und ihr Anspruch allein gewesen!

Ja es gab Stunden, wo sie sich Vorwürfe darüber machte, das Haus ihres Stiefvaters überhaupt nur betreten und sich in einen Kampf eingelassen zu haben, der für sie schon kein Kampf mehr war, nur noch ein ohnmächtiges, würdeloses Unterliegen; es kam ihr vor, als sei sie herabgestiegen unter sich selbst und habe sich zur Mitschuldigen gemacht an den Anschlägen und Plänen, deren Spuren sie überall erblickte, und die um so schwerer auf ihre reine, klare Seele drückten, je weniger sie sich dieselben enträthseln konnte, dadurch allein schon, daß sie die Gastfreundschaft dieses Hauses angenommen und sich dem geselligen Verkehr desselben angeschlossen hatte. Sie erschrak vor sich selbst, sie hätte auffahren mögen und sich bei den Händen nehmen, nur um sich zu überzeugen, daß sie es wirklich war, wenn ihr Blick zufällig in die Spiegel fiel, die in dem prächtigen Salon ihrer Stiefmutter von allen Pfeilern prangten – und sie sah sich in den zierlichen Gewändern, welche die Sitte des Hauses ihr auferlegte, und sah sich wieder und immer wieder dem kalten, höflichen Lächeln ihres Stiefvaters gegenüber und ertappte sich selbst dabei, wie sie leere, nichtige Höflichkeiten mit ihm wechselte! Wie oft beschloß sie, all diesen Flitter von sich zu streifen und nicht länger eine Heiterkeit zu heucheln, von der ihr Herz doch längst nichts mehr empfand! wie sehnte sie sich nach Armuth und Niedrigkeit, wie leicht kam es ihr vor, jedem Besitzthum und jedem Vortheil der Geburt zu entsagen, nur um Wahrheit und Freiheit der Existenz dagegen einzutauschen! wie oft schon, in unwillkürlicher Bewegung, erhob sie ihren Fuß, den Staub dieser Teppiche von sich zu schütteln und hinaus zu schreiten in die kalte, finstre, freudlose Nacht, gleichviel wohin, wenn sie nur diese Unwahrheit und Lüge hinter sich hatte!

Aber nein, da fiel ihr Blick wieder auf das blasse, schwermüthige Angesicht ihres Bruders, das aus der Ecke seines Lehnstuhls so kalt, so still, so ernst in diese prunkvolle Umgebung hineinstarrte – Angelica selbst war zusammengeschaudert, als sich ihr das Gleichniß zum ersten Male aufgedrängt hatte, allein es half nichts, es kam immer wieder: wie das Antlitz einer Leiche herabstarrt auf die Pracht des Katafalk, auf welchen man sie erhöht hat – und das doch in demselben Augenblick Glanz und Farbe und Freudigkeit gewann, da der Strahl ihres Auges dem seinen begegnete!

Denn wie fruchtlos der Aufenthalt im väterlichen Hause auch bisher für ihre eigenen Angelegenheiten gewesen war, für Julian war er es nicht geblieben.

Zwar von Dem, was sie ursprünglich beabsichtigt, war, wie wir bereits wissen, auch in Rücksicht auf ihren Bruder nichts zu Stande gekommen; Reinhold's Weigerung, in das Haus des Fabrikherrn zurückzukehren, hatte ihren weitgreifenden Entwürfen und Hoffnungen ein rasches Ende gemacht.

Auch von Leonhard's Wiedereintritt wurde kaum noch gesprochen. Die Untersuchung gegen denselben, versicherte Herr Waller, sei so gut wie geschlossen und habe, was er selbst kaum mehr zu hoffen gewagt, die Unschuld des wackern Mannes ziemlich deutlich ergeben; der Wiedereinführung in sein Amt stehe, aller Wahrscheinlichkeit nach, kein wesentliches Hinderniß mehr entgegen. Dann, aber auch nur erst dann, werde es an der Zeit sein, ihn auch in sein Verhältniß zu Julian zurückzuführen; es sei dies eine Rücksicht, welche man nicht nur der Vorschrift der Behörden, sondern weit mehr noch der Ehre des Hauses, ja Leonhard's eigener Ehre schuldig sei.

Julian, wie wir uns entsinnen, hatte die Hoffnungen und Entwürfe des Engelchen niemals getheilt. Die Anwesenheit der geliebten Schwester allein machte ihn schon so glücklich und erfüllte sein Herz mit einem so schönen, tiefen Frieden, daß er nichts mehr wünschte, nichts mehr verlangte. Wie eine Blume, aus enger, dumpfiger Zimmerluft in den warmen, lebendigen Sonnenstrahl getragen, die welken Blätter emporrichtet und Kraft, Duft und Farbe gewinnt, so blühte Julian auf, sobald er mit Angelica zusammen war. Es war nichts Krankhaftes, nichts Leidenschaftliches in dieser Zärtlichkeit: ein schönes, glückliches Genügen, eine geistige Gesundheit gleichsam, die sein tiefstes Innere gleich einem Wunderquell durchrann. Auch körperlich sogar schien er ein Anderer zu werden, sobald Angelica sich ihm näherte; die müde Brust athmete freier, das gesenkte Haupt erhob, das matte Auge belebte sich, wie er nur den Klang ihrer Stimme hörte. Welch ein Fest war das gewesen, da er zuerst wieder, auf den Arm der Schwester gelehnt, in den Garten hinabgestiegen war und hatte gemeinsam mit ihr all jene Erinnerungsplätze und Denkmale ihrer Kindheit aufgesucht, die ihnen Beiden und noch einem Dritten, ach! so theuer waren!

Herrn Waller gebührte das Anerkenntniß, daß er diesen wohlthätigen Einfluß des Engelchen nicht nur erkannte, sondern auch, ohne Eifersucht auf seine pädagogische Autorität, in aller Weise unterstützte. Unmerkbar, seit Angelica im Hause war, hatte er Julian's Leitung mehr und mehr in ihre Hände übergehen lassen; er selbst schien nur noch die Stelle eines beobachtenden, ja schützenden Freundes einzunehmen. Auch Julian selbst blieb das nicht verborgen: aber dankbar dafür konnte er doch nur seiner Schwester sein, nicht Herrn Waller …


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