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Kehren wir denn jetzt endlich zu dem Engelchen zurück, das wir in dem Augenblick verließen, als es so unvermuthet beim Eintritt in den Garten auf Herrn von Lehfeldt traf.
Angelica hatte den jungen Mann ziemlich häufig in den geselligen Kreisen der Hauptstadt gesehen, zu deren beliebtesten Erscheinungen er gehörte, sowohl seiner glänzenden Bildung, seiner Kenntnisse und seines Witzes wegen, als auch wegen seiner Stellung im Hause des allmächtigen Ministers, vielleicht auch wegen des geheimnißvollen Anstrichs, der seine Herkunft wie seine ganze Erscheinung umgab.
Auch Angelica hatte sich viel und gern mit dem lebhaft geistreichen Manne unterhalten: wiewohl die Unterhaltung zwischen ihnen nur ein fortwährender kleiner Krieg gewesen war. Herr von Lehfeldt war ein Skeptiker, der es auch Angelica'n gegenüber nicht verhehlte, daß er die hohen Ideen von Wohl der Menschheit, ewigem Fortschritt und allgemeiner Glückseligkeit, welche der Professor in ihre Brust gepflanzt, zwar sehr schön, sehr erhaben, sehr wünschenswerth finde – aber bei alledem auch ziemlich unausführbar.
Gleichwohl, auch bei diesem Widerspiel, das er ihr zu halten pflegte, war die Achtung, die er jenen Ideen an sich zollte, so aufrichtig, ja wo das Gespräch einmal ernster ward, zeigte der junge Mann ein so inniges, fast sehnsuchtvolles Bedürfniß nach höherem geistigem Glauben und einen so tiefen Unwillen gegen sich selbst, weil er diesen Glauben nicht fest zu halten vermochte: daß Angelica ihm nie auf die Dauer hatte böse sein können, sondern sich im Gegentheil mit dem ganzen aufrichtigen Wohlwollen, das ihr natürlich war, für ihn interessirte.
Auch jetzt daher, da sie ihn so unvermuthet im Garten ihres Vaters traf, glitt ein Lächeln anmuthigster Ueberraschung über ihr liebliches Gesichtchen.
Aber nun hat man doch gewiß Recht, Sie einen wunderbaren Menschen zu schelten, Herr von Lehfeldt! rief sie: Ohne daß Sie Faust's Mantel haben, was in aller Welt verschafft mir diese Ueberraschung?
Still, um des Himmels willen, still, theuerste Miß! bat Herr von Lehfeldt (denn wie in der vornehmen Welt nun einmal das Fremde immer mehr gilt als das Einheimische, so hatte man auch in den Gesellschaften der Hauptstadt sich darauf entêtirt, die junge Dame, wiewohl sie von ihrer frühesten Kindheit in Deutschland eingebürgert war, doch immer noch als Engländerin zu behandeln und anzureden) …
Still, rief Herr von Lehfeldt mit komischem Pathos: und nennen Sie mich nicht bei einem Namen mehr, der schon zu den verfehmten gehört! Wie oft, schöne Freundin, habe ich Sie gewarnt vor den himmelstürmenden Ideen, mit denen der gute Professor Ihr allerliebstes Köpfchen erfüllt! wie oft nicht Ihnen prophezeit, daß ich Sie noch ganz gewiß dereinst als die schönste Staatsverbrecherin unseres Landes würde zu Protokoll vernehmen müssen! Und sehen Sie, fuhr er mit drolligem Seufzer fort, nun muß ich selbst das allgemeine Schicksal der Propheten theilen: Sie habe ich gewarnt und habe mich selbst nicht in Acht zu nehmen verstanden. Ach, Ihre staatsverrätherischen Lehren, liebenswürdigste Rebellin, haben einen nur zu gelehrigen Schüler an mir gefunden! Aber ernsthaft zu reden: Sie werden gehört haben, wie streng Serenissimus im Punkt der politischen Rechtgläubigkeit denkt, noch strenger sogar, als in der religiösen, und daß mein vortrefflicher Gönner, der Minister, wie in allen übrigen Dingen, so auch in diesem nur das getreue Echo Sr. Durchlaucht ist. Nun behauptet die böse Welt, ich hätte mir, bei Hofe selbst, ja an der Tafel Sr. Durchlaucht, gewisse unvorsichtige Aeußerungen zu Schulden kommen lassen, die um so unverzeihlicher wären, als sie nicht nur gegen jene Rechtgläubigkeit verstoßen, sondern auch eine schmeichelhafte Anspielung auf unsern Erbprinzen enthalten sollen. Unser Erbprinz, wie Sie wohl gleichfalls wissen, steht, wie die Erbprinzen pflegen, in einigem Geruch des Liberalismus; aber eben deshalb auch steht er, sammt Allem, was irgend wie Lobredner oder Günstling des Erbprinzen aussieht, sehr schlecht angeschrieben bei dem alten Herrn. Ermessen Sie danach die doppelte Schwere meiner Vergehungen. Zwar was soll ich Sie lange aufhalten mit einem Histörchen, das vielleicht drei Tage lang die Pflastertreter der Hauptstadt beschäftigt, um demnächst vergessen zu sein auf ewig? Mit einem Worte denn: des Herrn Ministers Excellenz, um ihre unwandelbare Gerechtigkeit zu beweisen gegen Jedermann, haben mich für einige Zeit ins Exil geschickt – ein Exil, schöne Miß, setzte er mit verbindlicher Wendung hinzu, das ich natürlich nirgend anders nehmen konnte, als hier bei Ihnen. Denn gestehen Sie nur, daß Sie doch eigentlich an meinem Unglück Schuld sind und mich angesteckt haben mit diesem Gift politischer Neuerung, das mir jetzt so verderblich wird, mir armem, unschuldigem Tropf …
Der muntere Ton, mit welchem der junge Mann seine Geschichte vortrug, bewies Angelica zur Genüge, daß es sich hier um nichts Ernsthaftes oder Gefährliches für Herrn von Lehfeldt handelte. Froh, einen Ableiter für die ihr sonst so fremden Gedanken gefunden zu haben, mit denen sie seit ihrem Eintritt in das väterliche Haus zu kämpfen hatte, ging sie bereitwillig auf diesen Ton des Gespräches ein.
Ich bedaure Sie in der That, Herr von Lehfeldt, sagte sie …
Nein, nein, unterbrach sie der Angeredete: es ist bei uns wie in China, wo bekanntlich der in Ungnade Gefallene ganz zu existiren aufhört; auch der Name von Lehfeldt existirt nicht mehr, ich bin hier blos der Maler Schmidt …
Nun gut, mein Herr Maler Schmidt, sagte Angelica, so bedaure ich Sie gleichwohl: zwar nicht deshalb, daß Sie die Residenz für einige Zeit meiden müssen – das wird Ihnen sehr gut sein und Sie hoffentlich auf bessere Grundsätze bringen: aber doch deshalb, daß Sie sich keinen interessanteren Ort der Verbannung ausgewählt haben; Sie werden viel Langeweile hier empfinden.
Herr von Lehfeldt wurde plötzlich sehr ernst, man hätte sagen können, andächtig.
Gestatten Sie mir, theure Miß, sagte er, über diesen Punkt ein andermal mit Ihnen zu sprechen; es soll alsdann mit derselben Offenheit geschehen, mit der ich Ihnen schon immer eingestanden, daß ich im Grunde ein schlechter Mensch bin, wennschon Sie es mir noch niemals recht glauben wollten. Kleine Ursachen, wissen Sie, haben oft große Wirkungen: und so wäre es nicht unmöglich, daß auch dieses an sich so geringfügige Zerwürfniß mit dem Hofe bei mir Veranlassung würde zu jener Umkehr meines Wesens, die Sie, schöne Bußpredigerin, mir oft schon so dringend angerathen. Ich will mich einmal hier an Ort und Stelle und mit eignen Augen überzeugen, was es denn eigentlich auf sich hat mit jenem socialen Elend, über das wir uns so oft freundschaftlich gestritten, und wie es mit der Ausführbarkeit jener erhabenen Ideen steht von Vervollkommnung der Menschheit, allgemeiner Glückseligkeit und unendlichem Fortschritt, die Sie mit so hinreißender Beredtsamkeit zu vertheidigen pflegten. Ich will – aber nein, nein, unterbrach er sich selbst, ein Mann soll nie sagen: das will ich thun, sondern immer nur: das habe ich gethan – und so schweige auch ich von den Plänen und Absichten, die mich gerade hieher, in diesen ärmsten Winkel unseres Landes, unter diesen gedrücktesten, beklagenswerthesten Theil unserer Bevölkerung geführt haben. Namentlich um dieser Pläne willen war es nöthig, daß ich den Namen änderte, und der Minister selbst hätte mir keinen größeren Gefallen erweisen können, als durch diesen Befehl. Wird es doch dem armen, anspruchlosen Maler Schmidt vielleicht eher möglich sein, ein Vertrauen, ja eine Zuneigung zu erwerben, die dem Herrn von Lehfeldt, dem Günstling des Ministers, hätte ewig versagt bleiben müssen, und auf die er doch so hohen, hohen Werth legt …
Das Engelchen war viel zu unbefangen, um den Doppelsinn dieser Worte zu bemerken. Mit lauter, kindlicher Freude schlug sie in die Hände:
Nun, das ist rechtschaffen von Ihnen, rief sie: das freut mich! Sie haben es ja oft genug schon von mir hören müssen und von meinem Professor erst recht: Ihr Herren im Ministerium, pflegt Der zu sagen, regiert das Volk, beurtheilt, verurtheilt es, ohne es eigentlich zu kennen, ohne jemals mit ihm gelebt, mit ihm gelitten zu haben. Sie wollen es nicht so machen – wie brav das von Ihnen ist! und wie lieb ich Sie dafür habe! Mischen Sie sich nur ganz dreist unter die Leute hier, Herr Maler: sie sind ein wenig schlimm von Ansehen hier, es ist wahr, aber zuletzt doch nicht so schlimm, als man denkt, und am Allerwenigsten so schlimm, daß Liebe und Güte sie nicht am Ende doch noch bessern sollte. Und das soll auch von Ihnen gelten, mein Freund: so bös Sie sich oft auch gestellt haben, ich sehe schon, Sie werden am Ende doch noch ein guter Mensch …
Herr von Lehfeldt küßte ihr ehrerbietig die Hand: Wenigstens will ich es werden, und will es hier werden, theure Miß, sagte er ernsthaft …
Gerade in diesem Moment trat die Commerzienräthin am Arm ihres Gemahls in den Garten; er hatte Angelica, sie Herrn von Lehfeldt aufsuchen wollen – und so hatten Beide sich auf dem Wege zusammengefunden. – Als die Baronesse Herrn von Lehfeldt erblickte, wie er Angelica die Hand küßte, berührte sie unwillkürlich mit raschem, leisem Druck den Arm ihres Gemahls: ein Zeichen, dessen geheime Bedeutung Herr Wolston sehr wohl verstand, auf das er aber dennoch keine andere Antwort hatte, als nur ein unmerkliches verächtliches Achselzucken.
Die peinliche Scene der Vorstellung zwischen Mutter und Tochter wurde nicht wenig erleichtert dadurch, daß sie im Beisein eines Fremden stattfand. Das Gespräch wandte sich, nach den ersten kühlen Begrüßungen, auch hier wieder auf den Vorfall, der begreiflicherweise überhaupt das Tagesgespräch des Dorfes bildete, für Gering wie Vornehm, auf den Auftritt mit dem Engelchen vor der Schenke. Herr von Lehfeldt enthielt sich jedes Urtheils darüber und bedauerte nur den Schreck, den Angelica davon gehabt haben müsse. Die Commerzienräthin dagegen stimmte ganz mit Herrn Wolston überein, daß die Sache aufs Genaueste zu untersuchen sei und alle Schuldigen aufs Strengste zu bestrafen. Nur darin wich sie von ihm ab, daß, während er gern dem Meister die Schuld als Rädelsführer zugeschoben hätte, sie dagegen den Heiner, den verdorbenen Candidaten, am Meisten beargwöhnte. Ich bewundere überhaupt, setzte sie, gegen Herrn Wolston gewendet, hinzu, Ihre Langmuth, mein Gemahl, daß Sie einen so anerkannt nichtsnutzigen Menschen nicht lieber ganz aus dem Dorf entfernen. Er ist eine wahre Landplage für die ganze Gegend, der Mensch; bald ist er hier, bald dort, bald hört man, er sei im Gefängniß, wo gewiß sein bester Platz wäre, bald heißt es gar, er habe Hand an sich selbst gelegt – und immer wieder, kaum daß man denkt, man ist den Unhold los, taucht er von Neuem auf. Er ist wahnsinnig, es ist wahr, und man muß Mitleid mit ihm haben: aber mein Mitleid fühlt sich erkältet, wenn ich bedenke, daß dieser Wahnsinn selbst nur die Folge seiner ruchlosen Ausschweifungen und Gotteslästerungen ist. Ein Theolog ursprünglich und herabgesunken zum Gotteslästerer – o mein Himmel, es ist ja entsetzlich, daß ein Mensch so sinken kann!
Es ist eben ein Vagabond, bemerkte Herr Wolston trocken, und die haben es so an der Art, bald zu verschwinden, bald wieder aufzutauchen; es ist ein gutmüthiger Kerl bei alledem, und wenn unter Denen, die in diesem Augenblick in der Kirche sitzen, keine schlimmern wären, wollt' ich gern zufrieden sein.
Die Baronin hatte keine Lust für jetzt, auf diese Streitfrage weiter einzugehen; sie nahm, mit geschickter Wendung, Herrn von Lehfeldt bei Seite und setzte ihn des Genaueren von dem Auftrag in Kenntniß, den sie dem Sandmoll ertheilt hatte.
Angelica benutzte diese Gelegenheit, sich von der Gesellschaft zu verabschieden; sie eilte auf ihr Zimmer, warf einige flüchtige Zeilen aufs Papier, durch welche sie Julian in Kürze von dem Resultat der Unterredung mit ihrem Vater unterrichtete, übergab das Blättchen ihrem Kammermädchen zur Besorgung, sobald Julian aus der Kirche zurückkäme, und trat dann, gestützt auf die Erlaubniß des Commerzienrathes, ihren Weg zum Hause des Meisters an.