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Zu Anfang fühlte sich Per nicht ganz glücklich in seiner Ehe. Seine Hoffnung, in Inger ein stärker selbständiges Leben zu wecken, ging nicht in Erfüllung. Sie mit ihrem ausgeglichenen, ganz auf das Praktische gerichteten Wesen und mit ihrer Überzeugung, daß ihr Vater der letzte große Wahrheitskünder des Christentums sei, begriff nicht einmal die Absicht, die er mit seinen Überredungsversuchen verfolgte. Wie ihr Vater betrachtete sie sein Interesse für Pastor Fjaltring als Äußerung jugendlichen Protests und des Verlangens, sich interessant zu machen.
Nun hatten allerdings das Doppelleben, das Per führte, und die verschiedenen Einflüsse, denen er ausgesetzt war, ihn derart mit sich selbst in Konflikt gebracht, daß er mitunter einen völlig verstörten Eindruck machte. Schließlich merkte er dies selbst und suchte ängstlich nach einem Halt. Er fand ihn, wo er ihn bereits früher gefunden hatte: in der Natur. Und es war Inger, die ihn dahin führte. Sie war zu dieser Zeit schwanger, und wie so viele junge werdende Mütter dachte sie an nichts anderes als an die bevorstehende Niederkunft und die dazu nötigen Vorbereitungen. Trotzdem war sie gefaßt. Und diese Ruhe und die Seelenstärke, mit der sie in all ihrer Unreife auf ihre Stunde wartete, erfüllte Per mit Bewunderung und gab ihm viel zu denken.
Dann kamen die Aufregungen der Entbindungsnacht, Ingers Wochenbett, die Sorge um sie und das Kind, dazu die Vaterfreuden und das Gefühl erhöhter Verantwortung, das sie wachriefen. All das führte ihn wieder auf den festen Boden der Wirklichkeit zurück.
Er war jedoch nicht imstande, sich vom Boruper Pfarrhaus ganz fernzuhalten. Das große, schummrige Studierzimmer mit dem schmalen Läufer und dem Pult zwischen den beiden niedrigen Fenstern übte noch einen seltsamen Zauber auf ihn aus; doch er stahl sich mit schlechtem Gewissen dahin, wie ein Trinker, der ins Gasthaus schleicht. Und die Besuche wurden immer seltener, bis sie einen jähen Abschluß fanden durch ein schreckliches Ereignis, das noch lange Gesprächsstoff in der Gegend bildete.
Eines Tages im Herbst erschreckte das Gerücht die Leute, Pastor Fjaltring sei verschwunden. Ein halbes Jahr zuvor hatte er seine Frau verloren, aber statt dies als Befreiung zu empfinden, war er nur noch ängstlicher und menschenscheuer geworden. Als man ihn nun vermißte, ahnte man sofort ein Unglück. Per machte sich sogleich auf, um die Nachforschungen zu leiten. Er ließ von ein paar Männern den Wald absuchen und schickte andere los, die den Bach und alle Moorlöcher der Gegend inspizieren sollten. Zuletzt fand man den Pfarrer oben auf seinem eigenen Dachboden. Er hatte sich in einem großen, leeren Kleiderschrank erhängt.
Per war im letzten Jahr sozusagen der einzige gewesen, den Pastor Fjaltring gern bei sich sah und dem gegenüber er sich offen aussprach. Wenige Tage vor seinem Verschwinden hatte Per bei ihm gesessen und gerade bei dieser Gelegenheit die scheinbare Ruhe und Fassung bewundert, mit der er über sich und seine Einsamkeit sprach. Er spottete sogar über seine körperliche Schwäche. Für Schmerzen müsse man dankbar sein, meinte er. Sie erhielten einem einen frischen Sinn. Und er hatte eine lustige Geschichte erzählt, wie er unglücklicherweise einmal so tief in Grübeleien über das Mysterium der Erbsünde versunken sei, daß er fast den Verstand verloren hätte.
»Aber da kriegte ich durch einen gnädigen Zugwind furchtbare Zahnschmerzen. Es war so ein richtiges, echtes Backenzahnmartyrium. Da holte der Teufel die ganze Erbsünde und den übrigen Satanskram, daß ich gern sogar meinen Taufschein für einen ordentlichen Kräuterbeutel gegeben hätte.«
Nun, da er tot war und durch sein unheimliches Ende selbst den Beweis für die fehlende Tragkraft seiner Lebensphilosophie geliefert hatte, überkam Per ein ähnliches Gefühl glücklich überstandener Lebensgefahr wie damals, als er die Nachricht von Leutnant Iversens Selbstmord erhielt. An seiner fieberheißen Hand war er in düstere, öde Bereiche der Geisteswelt eingeführt worden, deren irreführende Luftspiegelungen und Sinnestäuschungen ihn aus weiter Ferne gelockt hatten. Und trotzdem! Stets würde er sich an den unglücklichen, einsamen Mann in Dankbarkeit und Liebe erinnern. Noch in seinem Tod war er ihm Lehrer und Befreier. Daher empörte ihn auch das hochmütige Mitleid der Leute ringsum, die, beschirmt von ihrer eigenen Leidenschaftslosigkeit, dasaßen und noch nie jenes titanische Verlangen empfunden hatten, mit den Göttern zu kämpfen. Besonders der Schwiegervater mit seinem nachsichtigen Kopfschütteln reizte ihn.
»Ja, das mußte ja so enden! Das war fast vorauszusehen! Wozu kann es schon führen, wenn man mit sich nicht ins reine kommt! Aber leid getan hat er mir immer, der arme Mensch!«
Per hatte eine scharfe Antwort auf der Zunge; aber wie schon so oft schluckte er Ingers wegen seine Wut hinunter und schwieg.
Nun verging wieder ein Jahr und noch eins, und dann wieder drei. Und sie alle schwanden dahin mit jener seltsamen, unmerklichen Eile, wie sie die Zeit auf dem Lande hat, wo ein Tag langsam genug dahinkriecht, während die Jahre verfliegen. In dem kleinen Landhausidyll am Fuße der grünen Hügel von Rimalt tummelten sich schon drei Kinder: ein fünfjähriger Knabe und zwei Mädchen, von echter Sideniusscher Art, mit hellblauen Augen und braunen Locken. Die großen Flußregulierungsarbeiten waren längst glücklich abgeschlossen, und Per hatte oft davon gesprochen, von hier wegzuziehen. Aber Inger wollte nur ungern aus der Gegend fort. Sie liebte ihr neues Zuhause, wie sie früher das alte geliebt hatte, und sie setzte ihren Stolz darein, es zu einem Muster an Ordnung und Traulichkeit zu machen.
Per hatte übrigens selber nicht recht den Mut, die gewohnte Umgebung zu verlassen. Hier vergingen die Tage so friedlich, hier gediehen die Kinder, und Inger war so rührend glücklich und dankbar, weil sie in der Nähe der Eltern und ihrer alten Freunde bleiben konnte. Außerhalb seines Hauses kam sich Per allerdings stets wie ein Fremder in dieser Gegend vor. Dafür aber hatte er sein Fleckchen Erde mit Haus und Garten so liebgewonnen, daß es selten langer Überredung bedurfte, um ihn von dem Gedanken an einen Aufbruch abzubringen. Er hatte nun auch – wenigstens bis vor kurzem – in der Gegend stets genug mit seiner Landvermessertätigkeit und kleineren Straßen- und Brückenarbeiten zu tun gehabt und gute Einnahmen erzielt. Allmählich war er sogar ein schuldenfreier Mann geworden.
Mit seiner Erfindung war er jedoch nicht weitergekommen. Immer seltener hatte er Lust verspürt, sich damit zu beschäftigen, und mit dem Interesse schien auch seine Fähigkeit verschwunden zu sein. Jedenfalls war sein einst so ideenreiches Gehirn ganz steril geworden, und nun hatte er die Sache endgültig beiseite gelegt. Auf dem Hügel hinter dem Haus, wo er damals seine Versuchsmühle errichten wollte, stand jetzt eine Aussichtsbank, und hier saßen er und Inger oft, betrachteten den Sonnenuntergang und plauderten über die Tagesereignisse, während die Kinder rings im Gras spielten.
Meistens führte Inger das Wort. Er selbst – einst so redselig – war im Laufe der Jahre wortkarg geworden. Doch mitunter war er in bestimmten Augenblicken und vor allem im Beisein der Kinder fast ausgelassen. Überhaupt, seine Stimmungen wechselten so häufig und mit solcher Unberechenbarkeit, daß es Inger des öfteren beunruhigte. Wenn sie in bestem Einvernehmen beieinandersaßen, konnte er plötzlich schweigsam und abwesend werden, als sei er in Gedanken mit Dingen beschäftigt, über die er nicht sprechen wollte. Stunden- und tagelang dauerte manchmal diese Verschlossenheit, und da überließ man ihn am besten sich selbst und versuchte nicht, mit Fragen in ihn zu dringen.
Im ersten Jahr ihrer Ehe hatte Inger – und ihre Eltern dachten auch so – seinen Mangel an seelischem Gleichgewicht als Frucht seiner Bekanntschaft mit Pastor Fjaltring aufgefaßt. Dann hatten sie gemeint, die unglückselige »Erfindung« bedrücke ihn. Damals, als er noch daran arbeitete, war er ständig mißmutig gewesen, hatte nie genug Ruhe bekommen können und sich andauernd über das Reinemachen und Fensterputzen beklagt, das ihn – wie er behauptete – immer dann aus dem Zimmer vertriebe, wenn er gerade in bester Verfassung wäre. Sie hatte deswegen das Ihre getan, daß er sich die Sache aus dem Kopf schlug. Jetzt war sie am meisten geneigt, seine Launenhaftigkeit mit seiner Kränklichkeit in Verbindung zu bringen. Diese äußerte sich in regelrechten Anfällen und machte ihn jedesmal nervös und abgespannt.
Wieder war es Herbst geworden. Im Garten reiften die Beeren, und Inger war mit Einmachen und Einlegen beschäftigt.
Eines Tages, es war Mitte September, saß sie auf einer Bank unter dem großen Walnußbaum im Garten, wo sie am Nachmittag oft eine Stunde zubrachte, während die Kinder unter Aufsicht des Kindermädchens draußen auf der Wiese herumtollten. In ihrer Ordnungsliebe hielt sie soweit wie möglich eine bestimmte Tageseinteilung ein, und diese Stunde unter dem Walnußbaum war dem Nachdenken, hausfraulichen Plänen und allerlei Betrachtungen gewidmet. Sie trug eine große Schürze und hielt eine Tonschüssel mit dunkelroten Kirschen im Schoß. Neben ihr auf der Bank stand eine leere Schale, in die sie eine Kirsche nach der anderen legte, nachdem sie zuvor mit einer Haarnadel die Steine sorgfältig entfernt hatte. Wie in allem, was sie unternahm, lag auch hier Anmut in der Art, wie sie mit sicheren, kleinen Bewegungen Kirschen entkernte, während der prachtvolle rote Saft von ihren weißen Fingern tropfte. Am Laub über ihrem Kopf sah man schon die ersten Zeichen des Herbstes. Hier und da lugte ein totes, welkes Blatt zwischen den grünen hervor. Inger selbst aber stand in ihrem Hochsommer: vollreif, üppig, fast schon matronenhaft trotz ihrer eben erst siebenundzwanzig Jahre. Die körperliche Schwäche, die sie während des Heranwachsens gehemmt hatte, war mit der Ehe verschwunden. Sie fühlte sich kerngesund und hatte zu ihrer Freude und ihrem Stolz die Kinder selbst nähren können.
Eigentlich war sie auch glücklich in ihrer Ehe, allerdings anders, als sie es gedacht hatte. Trotz seiner launischen Stimmungen war Per ein liebevoller, sorgsamer Gatte; der galante Ritter, von dem sie geträumt hatte, war er jedoch nicht geworden. Mitunter wunderte sie sich denn auch darüber, daß sie ihn trotzdem so liebhatte. Aber wenn sie so viel Geduld mit seinen Launen hatte, dann deswegen, weil sie mütterliche Gefühle in ihr wachriefen. Bei seinen immer wiederkehrenden Anfällen von Trübsinn, die mit den Jahren häufiger und andauernder geworden waren, betrachtete sie ihn als Kranken, den man nicht verurteilen dürfe. Außerdem erkannte sie sehr gut, daß er selbst am meisten darunter litt.
Er hatte gerade gegenwärtig wieder eine schwierige Zeit. Am Vortag hatte man den Geburtstag des kleinen Hagbarth gefeiert, und Per war noch vormittags in fröhlichster Laune gewesen. Frühmorgens war er losgegangen und hatte Feldblumen zum Ausschmücken des Hauses gepflückt, und als die Kinder aufgestanden waren, hatte er im Garten mit ihnen »Blindekuh« gespielt. Die Kinder waren selig und hatten sich am Schlafzimmerfenster darüber amüsiert, daß er auf allen vieren zwischen den Büschen herumkroch, um sich zu verstecken. Dann war die Post gekommen, und das Spiel hörte auf. Als Inger nach einer Stunde sein Zimmer betrat, sah sie sofort, daß er nicht mehr derselbe war. Er saß am Fenster, die Zeitung im Schoß, und unter seinen Augen hatten sich tiefe Schatten gebildet, die sie nur zu gut kannte. Beim festlich gedeckten Mittagstisch hatte er zur sichtbaren Verwunderung und Enttäuschung der Kinder kaum ein Wort gesagt, und als die Großeltern zur Kaffeezeit vorfuhren, um zu gratulieren, hatte er Geschäfte vorgeschützt, um sich zurückzuziehen, und war nicht vor dem Abendessen zurückgekehrt.
In der Plötzlichkeit und Heftigkeit, mit der ihn diese Schwermut befiel, lag etwas, was Inger in letzter Zeit auf unheimliche Weise an den verstorbenen Hofjägermeister erinnerte. Auch bei ihm hatte die krankhafte Empfindlichkeit sicherlich mit seinen körperlichen Leiden in Verbindung gestanden, vielleicht mit dem Krebs, der sein Tod wurde. Sie hatte sich daher ernsthaft vorgenommen, gelegentlich ein ernstes Wort darüber mit dem Arzt zu reden.
Ein Freudenschrei vom Hügel her schreckte sie aus ihren Gedanken. Der kleine Hagbarth und seine älteste Schwester Ingeborg waren da hinaufgeklettert, um nach ihrem Vater Ausschau zu halten. Jetzt hatten sie ihn und den Falben draußen auf der Straße entdeckt.
Inger stand auf und ging mit ihren Schüsseln ins Haus, um dem Mädchen zu sagen, sie könne Pers Mittagessen auftragen. Um die häusliche Ordnung nicht zu stören, hatte Per selbst festgelegt, daß man nicht auf ihn warten solle, wenn er zur Essenszeit nicht zu Hause sein konnte. Inger hatte ihm seine Portionen persönlich zurückgestellt: Grützbrei mit selbstgebrautem Bier und Spickaal mit Stampfkartoffeln – und sie hatte nicht mit einem Teelöffel aufgefüllt. Per war seit dem frühen Morgen unterwegs gewesen, hatte nur ein paar Butterbrote in der Tasche gehabt, und sie wußte, daß er nach so langem Aufenthalt im Freien mit einem Wolfshunger zurückkam. Das war auch wieder wie beim Hofjägermeister, bei dem sich die Niedergeschlagenheit nie auf den Appetit ausgewirkt hatte. Im Gegenteil. Sie entsann sich noch, daß er in seiner allergrößten Depression fast unersättlich gewesen war.
Nun hielt Per mit dem Falben auf dem Hof, umringt von den Kindern, von den Hühnern und dem Kindermädchen, kurz darauf kam der Stallbursche. Vom Arm des Kindermädchens reckte sich das Nesthäkchen nach ihm, um einen Kuß zu bekommen. Die beiden älteren waren über die Räder emporgeklettert, saßen nun neben ihm auf dem Kutschbock und balgten sich um die Peitsche. Inger stand am offenen Küchenfenster und betrachtete die Szene mit mütterlichem Entzücken.
Ziemlich unsanft befreite sich Per schließlich von den vielen eifrigen Kinderarmen und stieg vom Wagen, nachdem er dem Burschen die Anweisung wegen des Pferdes gegeben hatte.
Auch er war in den vergangenen Jahren stärker geworden, doch er hatte nicht Ingers gesunde Gesichtsfarbe, und sein großer, ziemlich wildwachsender Bart machte ihn älter, als er war.
»Ist jemand hiergewesen?« fragte er, als er im Eßzimmer Platz genommen hatte und – ohne darüber nachzudenken, was er aß – gehörig zulangte.
»Nein, ich bin ganz allein gewesen«, erwiderte Inger, die sich mit ihrem Strickzeug an den Tisch gesetzt hatte, um ihn zu unterhalten.
»Ist etwas mit der Post gekommen?«
»Nein, nur die Zeitung.«
»Das weiß ich wirklich nicht. Ich habe sie nicht gelesen.«
Es folgte eine kleine Pause.
»Hast du gestern auch keine Zeitung gelesen?« fragte er fast zögernd.
»Gestern? Das glaube ich nicht. Stand etwas drin?«
»Na ja – nein – bloß wieder ein Bericht über die Verhandlungen auf der Ingenieurkonferenz in Aarhus.«
»Du hättest wohl eigentlich an der Versammlung teilnehmen sollen, Per! Das interessiert dich doch.«
»Was soll ich da schon? Ich kenne niemand von den Leuten . . . Außerdem . . . ich bin ja gar kein Ingenieur.«
»Kommen denn nicht auch Landvermesser hin?«
»Das glaube ich nicht.«
»Aber was da verhandelt wird, interessiert dich doch.«
»Das schon – hin und wieder.«
»Was stand denn in dem Bericht, von dem du sprachst?«
»Es war nur eine Verhandlung über ein westjütisches Kanal- und Freihafenprojekt mit der Hjertingbucht als Basis. Es ist dasselbe, das in allen Zeitungen unter der Bezeichnung ›Steinersches Projekt‹ die Runde macht. Übrigens ist es – wie du dich vielleicht erinnerst – dieselbe Idee, die ich selbst einmal gehabt habe.«
»Ja, hast du nicht darüber dein Buch geschrieben?«
»Ja – darüber habe ich ein Buch geschrieben.«
»Ist denn jetzt die Rede davon, den Plan zu verwirklieben?«
»Das glaube ich nicht. Das Kopenhagener Freihafenprojekt ist ja jetzt eine abgemachte Sache. Das andere war ein Konkurrenzunternehmen davon.«
»Aber dann ist es doch merkwürdig, daß sie immer weiter darüber reden!«
»Ach, der jütische Lokalpatriotismus muß sich hin und wieder einmal Luft machen. Und für Herrn Steiner ist es ja sehr vorteilhaft, daß die Diskussion weitergeführt wird. Er tut ja auch alles, um sie am Leben zu erhalten. Er scheint auch förmliche Ovationen bekommen zu haben auf der Versammlung. Bei dem großen Essen neulich – vermutlich ist der Champagner reichlich geflossen – hat man ihn in einer Rede den Lesseps Dänemarks genannt. – Hast du noch mehr Grützbrei da?«
»Nein – es tut mir so leid. Hättest du gern noch mehr gehabt? Aber vom zweiten Gericht ist reichlich da.«
»Ja – danke – dann ist es gut.«
»Du brauchst dich übrigens nicht ganz satt zu essen. Du weißt ja, wir wollen heute abend zu Apothekers!«
Per schnitt eine verdrießliche Grimasse. »Ist ja wahr. Ich hatte es vergessen! – Hör mal, könnten wir nicht bald damit anfangen, solche Einladungen abzulehnen? Uns macht diese Art von Geselligkeit ja doch kein Vergnügen.«
»Nein, besonders amüsant wird es kaum werden. Und ich bliebe auch am liebsten zu Hause. Aber es geht doch nicht, daß wir die Leute beleidigen. Schon allein wegen Vater. Er würde es bestimmt nicht gern sehen. Die Leute glauben bestimmt schon, wir sondern uns mehr ab, als wir dürfen.«
Hierauf erhielt sie keine Antwort. Per aß schweigend weiter. Danach tranken sie Kaffee, der währenddessen in sein Zimmer gebracht worden war.
Es lag auf der anderen Seite der Diele und war ein ziemlich enger, düsterer Raum mit einem Giebelfenster nach den Feldern und einer Tapetentür, die ins Schlafzimmer führte. Pers ursprüngliches großes, sonniges Arbeitszimmer hatte er den Kindern abtreten müssen, als sich die Familie allmählich vergrößerte. Und eigentlich fühlte er sich auch sehr wohl in dieser bescheidenen, stillen Kammer, die ihn an sein Einsiedlerdasein auf Frederiksberg und in Nyboder erinnerte. Er war nicht einmal sehr begeistert, wenn Inger versuchte, es ihm drinnen mit frischen Blumen und ein paar Topfpflanzen gemütlich zu machen. Per konnte Blumenduft nicht recht leiden. Und die leuchtenden, satten Farben der Natur harmonierten meistens nur schlecht mit den Stimmungen, in die er sich hier drinnen verkroch.
Ein einziges Kunstwerk stand in seinem Zimmer: ein großer Marmorkopf, der oben auf dem Bücherregal seinen Platz gefunden hatte und unter der niedrigen Decke kaum zur Geltung kam. Er stellte einen jungen, schönen Mann mit lockigem Haar, breiter kräftiger Stirn und vollen Lippen dar, die – wie an antiken Büsten – halb geöffnet waren, um den Eindruck wirklichen Lebens zu erhöhen. Der Kopf drehte sich mit einer kräftigen Bewegung zur Seite, wodurch ein wirkungsvolles Muskelspiel am starken Faustkämpferhals entstand. Von der Stirn zog sich eine tiefe Willensfurche zwischen den fast zusammengewachsenen Brauen hinab. Der Blick war herrisch, das Lächeln strahlend vor Mut und Jugendkraft.
Dies war jenes idealisierte Jugendbildnis von Per, das auf Bestellung der Baronin während seines Aufenthalts in Rom modelliert worden war. Die Hofjägermeisterin, die sich gezwungen gesehen hatte, es im Namen der Schwester einzulösen, hatte es als Hochzeitsgeschenk an Inger geschickt. Doch Inger fand die Büste in jeder Beziehung abscheulich und wollte sie auf den Dachboden bringen. Später durfte sie dann aber doch auf einem Eckschrank im Eßzimmer stehen, wo sie nicht so in die Augen fiel, bis Per eines Tages auf die Idee kam, sie in sein eigenes Zimmer mitzunehmen. Trotz Ingers Vorwurf, es gehöre sich nicht, sein eigenes Bildnis im Zimmer zu haben, hatte er sich seither nicht davon trennen können.
Während sich jetzt drinnen und draußen die Dunkelheit herabsenkte, saßen sie beide an verschiedenen Enden des Zimmers und redeten über die Kinder und den Haushalt. Per hatte sich eine Zigarre angezündet und sich mit seiner Kaffeetasse ans Fenster gesetzt. Noch immer führte Inger das Wort, ohne die Aufmerksamkeit von ihrem Strickzeug zu wenden. Unter anderem erzählte sie, wie der kleine Hagbarth ganz von selbst auf den Einfall gekommen sei, seiner Schwester einen Puppenwagen aus einem alten Holzschuh zu machen. Er hatte immer so drollige Einfälle, der Junge, und dann besaß er ein Paar Hände, die vor keiner Schwierigkeit zurückschreckten.
Per war aufmerksam geworden. »Ja, er kann tüchtig werden«, sagte er, vorwiegend zu sich selbst, und kam ins Grübeln.
Inger wickelte das Garn um die Nadeln und ging ins Schlafzimmer, um sich für die Abendgesellschaft umzuziehen. Kurz nachdem sie gegangen war, reckte sich Per zum Arbeitstisch hinüber, wo er eine zusammengefaltete Zeitung nahm, die unter Büchern und Zeichenrollen versteckt lag. Als er sie aber im selben Augenblick zurückkommen hörte, zog er hastig die Hand zurück und schaute hinauf zu den roten Abendwolken.
Apotheker Møller war der größte Steuerzahler in Rimalt. Er erinnerte sehr gern hieran, und wenn er Gäste eingeladen hatte, setzte er seine Ehre darein, zu zeigen, daß er die Verpflichtungen eines wohlhabenden Mannes seinen weniger begüterten Mitbürgern gegenüber sehr wohl kannte. Als sich die Gäste gegen sieben Uhr versammelt hatten, führte er sie an einen Tisch mit drei Gläsern vor jedem Gedeck und mit frischgebackenen Brötchen in den Servietten. Der Gastgeber hörte denn auch bald mit Genugtuung, wie man ringsum ziemlich laut feststellte, sein Tisch sei unzweifelhaft der beste in der ganzen Gegend.
Daß die Speisen nicht gerade von einem Meisterkoch zubereitet waren und daß der Inhalt der Weinflaschen in keiner Weise den vornehmen Namen auf den Etiketts entsprach, machte den Genuß für keinen geringer. Es waren keine Leute mit verwöhntem Gaumen. Sie beurteilten die Gerichte vor allem nach ihrer Menge, schwelgten im Anblick des Überflusses und gaben sich unbekümmert der Aufgabe hin, sich so viel davon anzueignen, wie sie hineinstopfen konnten.
Auch in seinem Auftreten behauptete der Apotheker seinen Ruf als vortrefflicher Gastgeber, indem er es nicht an Ermahnungen fehlen ließ, ordentlich zuzulangen. Unaufhörlich klang seine Stimme durch das Gabelgerassel: »Meine Damen und Herren! Diesen farcierten Tauben müssen Sie wirklich Gerechtigkeit widerfahren lassen! – Herr Stationsvorsteher, ich hoffe, dieser Château Beychevelle hat Ihren Beifall. – Meine Gnädige, Sauternes ist ein Damenwein! Trinken Sie doch, bitte! – Herr Sidenius, hat Ihr Glas Sie irgendwie beleidigt? Sie trinken ja gar nicht. Darf ich mir erlauben? – Meine Herren! Dieser London Club 1879, den ich habe einschenken lassen, muß mit Andacht getrunken werden. Bitte, bedienen Sie sich doch und sagen Sie mir Ihre Ansicht!«
Die Herren leerten die Gläser, schnalzten genießerisch mit der Zunge und brachen in aufrichtig gemeinte Lobreden aus.
»Ich darf wohl sagen, eine angenehme mittlere Fülle!« erklärte der Tierarzt.
»Fällt vorzüglich auf die Zunge«, meinte der Stationsvorsteher mit Kennermiene.
»Ein Göttertrank!« rief der neue Realschuldirektor, Kandidat Balling, der sich gleichzeitig erhob, um auf das Wohl des Gastgebers zu trinken.
Dieser Mann war der drei Ellen lange Balling mit der Löwenmähne, den Per damals in Philip Salomons Haus getroffen hatte. Das Glück war ihm in den letzten Jahren außerordentlich hold gewesen. Nachdem ihm in der Hauptstadt alles mißglückt war, hatte er Trost in der Provinz gesucht und hier die so lange und heiß ersehnte Anerkennung gefunden. Ingers Freundin, Justizrat und Gutsverwalter Clausens älteste Tochter, die derbe, vollbusige Gerda mit den warmen Augen, hatte sich sofort in ihn verliebt, und vor vierzehn Tagen war die Hochzeit gefeiert worden.
Noch mehr Zuwachs hatte die Rimalter Gesellschaft in letzter Zeit erhalten. Eine Meile vor dem Bahnhof in entgegengesetzter Richtung von Bøstrup, Borup und Kærsholm lag der Herrenhof Budderuplund. Der Besitzer, Etatsrat Brück, war ein betagter Mann aus einer alten holsteinischen Gutsbesitzerfamilie. Er war sehr vermögend und hatte nur einen einzigen Sohn, der wegen seiner Ausbildung einige Jahre im Ausland gelebt hatte, jetzt aber nach Hause gekommen war, um die Leitung seines großen Gutes zu übernehmen.
Er war ein schöner, kräftiger Mann von ungefähr dreißig Jahren, aber im Wesen still und etwas verlegen. Das mochte wohl seinen Grund darin haben, daß er stotterte. Per hatte sich sogleich sehr zu ihm hingezogen gefühlt. Obwohl ihre Lebensbereiche und Interessen ganz verschieden waren – Herr Brück war ein eifriger Jäger und Pferdebezwinger und hatte seinen eigentlichen Umgang in Gutsbesitzerkreisen –, hoffte Per zunächst, wirkliche Freundschaft mit ihm schließen zu können, und es hatte ihm daher leid getan, als er bemerkte, daß die Sympathie nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Zugleich wurde ihm klar, daß den Gutsbesitzer ein warmes Interesse für Inger in diesen Kreis geführt hatte, in den er eigentlich gar nicht hineingehörte. Die beiden kannten sich von Kindesbeinen an; aber Inger konnte ihn nicht ausstehen und gab ihm das auf fast beleidigende Weise zu erkennen. Einen genaueren Grund für ihren Widerwillen gegen ihn konnte sie nicht angeben. Auf Pers wiederholte Fragen erwiderte sie stets dasselbe: daß er ihr schon als Junge unsympathisch gewesen sei. Per bemerkte denn auch, daß Herr Brück, der ihr an der Tafel schräg gegenübersaß, kein Glück mit seinen Bemühungen hatte, eine Unterhaltung mit ihr anzuknüpfen. Inger antwortete auf seine Fragen mit gleichgültigen Redensarten und wandte sich zur anderen Seite hin.
Nach Tisch teilte sich die Gesellschaft in der üblichen Provinzmanier auf: Die Damen blieben im Wohnzimmer, während sich die Herren in das Zimmer des Hausherrn zurückzogen, um zu rauchen und Klatsch zu erzählen. Hier löste man sich in aller Behaglichkeit vom letzten Rest gesellschaftlichen Zwangs, erzählte unanständige Geschichten, trank Likör, stieß mit Genuß auf oder schlummerte ein bißchen.
Per saß so, daß er von seinem Platz aus beobachten konnte, was im Wohnzimmer vorging. Eine Hängelampe mit dunkelrotem Schirm warf ihr Licht auf den Sofatisch, und ringsherum saßen die Damen wie in einem Feuerschein und häkelten oder stickten. Auch dort sprach man frei von der Leber weg, und es war nicht schwer, festzustellen, worüber man sich unterhielt: nur Haushaltsangelegenheiten und Dienstboten waren imstande, so viel Lebhaftigkeit zu erzeugen. Sogar Inger hatte trotz ihrer äußerlichen Ruhe vor Eifer rote Wangen bekommen.
Per, der bereits verstimmt war, biß sich bei diesem Anblick auf die Lippen. Bei vielen Gelegenheiten war er so stolz auf seine Frau – nicht nur weil sie schön war, sondern weil ihr angeborener Takt und Geschmack sie um Haupteslänge über ihre weibliche Umgebung erhoben. Doch er wurde tief verstimmt, wenn er sie in einem Kreis wie diesem so ganz befriedigt sitzen sah. Obwohl sie meistens das Gegenteil behauptete, fühlte sie sich zwischen Leuten dieser Art völlig zu Hause. Erst wenn der Klatsch die Grenzen der Ehrbarkeit überschritt, zog sie sich in sich selbst zurück. Von dem manchmal ziemlich freien Ton, der unter den Rimalter Damen herrschte, sobald sie allein zusammensaßen, hatte sie sich nicht anstecken lassen. Schon in ihrer Mädchenzeit überaus korrekt in Wesen und Denkweise, verschloß sie auch als Frau Augen und Ohren vor allem, was ihr weibliches Feingefühl verletzte. Hierin lag etwas vom Blombergschen Pharisäertum; was sie nicht wissen wollte, hörte sie einfach nicht. Was ihr unbequem war zu glauben, glaubte sie einfach nicht. Daher konnte sie auch zugleich die Freundin der Apothekersfrau wie die der Frau des Stationsvorstehers sein, obwohl es ein öffentliches Geheimnis war, daß die erstere eine Liebschaft mit dem Mann der letzteren unterhielt und daß beide in Kandidat Balling verliebt waren. Daher redete sie gern mit einer Wendung des Vaters von dem »verworfenen und gottlosen Leben in der Hauptstadt«, wenngleich auch das Leben um sie her eigentlich nur ein lächerlich verzerrtes Spiegelbild davon war, denn auf den idyllisch aussehenden Bauernhöfen wie in den bemitleidenswerten Tagelöhnerkaten gingen ziemlich ungeniert recht derbe Dinge vor sich.
Die Stunden schleppten sich bis zehn Uhr hin. Dann wurde der Nachtisch aufgetragen. Blaß und rotäugig vor Müdigkeit, saßen die braven Hausfrauen schließlich wieder am Sofatisch und gaben sich nicht einmal mehr Mühe, sich zusammenzunehmen. Einige gähnten ganz offen hinter der von Hausarbeit gezeichneten Hand. Auch Ingers Augenlider waren schwer und schläfrig geworden. Bei der Gastgeberin und der Frau des Stationsvorstehers bemerkte man allerdings eine starke nervöse Unruhe. Kandidat Balling hatte sich nämlich mit seiner jungen Frau in das leere Kabinett zurückgezogen, wo zu dieser Zeit nur eine schwachleuchtende Ampel brannte. Nicht weniger als viermal hatte man sie vergebens zum Nachtisch gerufen. Als sie endlich herauskamen, hatte Gerda hochrote Wangen und eine verwüstete Haarfrisur.
Kurz danach brach man auf. In kleinen Gruppen ging man gemeinsam nach Hause durch die mondhelle kleine Stadt und versammelte sich immer wieder vor den verschiedenen Gartentüren, um sich umständlich voneinander zu verabschieden.
Inger ging mit dem Arzt des Ortes, einem recht verständigen Mann mittleren Alters, der sie seit ihrer Kindheit kannte. Sie schritten ein Stück hinter den anderen her und sprachen ernsthaft miteinander über Per.
»Herr Doktor, ist Ihnen auch aufgefallen, daß mein Mann heute abend ungewöhnlich still war?«
»Ach ja – hm. Jetzt, wo Sie es sagen. Ist ihm etwas Unangenehmes zugestoßen?«
»Das glaube ich nicht. Aber – ja, ich muß es sagen, wie es ist – Sie wissen ja, mein Mann ist überhaupt ein wenig schwermütig. In letzter Zeit nun mache ich mir deswegen ganz besonders Sorgen. Glauben Sie, er könnte irgendeine verborgene Krankheit mit sich herumtragen?«
Der Arzt überlegte eine Weile und sagte dann: »Ich bin froh, daß Sie mich selbst danach fragen. Auch ich habe gerade darüber nachgedacht, ob ich nicht mal mit Ihnen reden sollte.«
Inger bekam einen heftigen Schreck über den ernsten Ton des Arztes und blieb stehen. »Herr Doktor!« schrie sie fast und packte ihn am Arm.
»Nein, meine Liebe – so war das nicht gemeint. Ihr Mann ist zwar ziemlich nervös, und diese Schwindelanfälle und Seitenstiche, über die er mitunter klagt, können ja auch sehr unangenehm sein. Aber Grund zur Besorgnis liegt trotzdem nicht vor.«
»Aber was ist es dann, Herr Doktor? Sie murmeln so sonderbar in Ihren Bart.«
»Ja . . . also . . . ich meine . . . nun, es mag merkwürdig klingen, aber glauben Sie nicht, daß Ihr Mann zuwenig zu tun hat?«
»Aber er ist doch beinahe täglich von morgens bin abends unterwegs. Das wissen Sie doch auch!«
»Jaja. Aber es ist eine Arbeit, die ihn vielleicht nicht ganz ausfüllt. Ich jedenfalls habe mir überlegt, daß er eine größere, umfangreichere Tätigkeit brauchte, die ihm keine Zeit läßt, sich so viel mit sich selbst zu beschäftigen.«
»Ich habe manchmal schon dasselbe gedacht«, sagte Inger nach einer kurzen Pause. »Aber es gibt ja hier in der Gegend gar keine Aussichten, eine solche Stellung zu finden.«
»Nein – die gibt es leider nicht.«
»Wir müßten also von hier wegziehen – in eine Stadt vielleicht nach Kopenhagen.«
»Das müßten Sie ohne Zweifel. Und das wäre ein großer Verlust für uns, die wir zurückbleiben. Aber darum darf ich doch nicht wünschen, daß Sie mich als schlechten Ratgeber betrachten.«
»Ich habe, wie gesagt, selber drüber nachgedacht«, sagte Inger. »Aber ich bin überzeugt, für meinen Mann wäre es gerade das beste, wenn er in Ruhe auf dem Lande leben könnte. Das meint er selbst auch. Bei den vielen Rücksichten, die er auf seine Gesundheit nehmen muß, würde er eine so anstrengende Arbeit gar nicht vertragen.«
»Ich weiß nicht, ob Sie Ihren Mann in diesem Punkt wohl ganz richtig beurteilen. Trotz seiner kleinen Unpäßlichkeiten ist er im Grunde eine Kraftnatur, er braucht ganz einfach eine schwere Aufgabe, an der er sich messen kann. Und – ja, da ich nun schon davon angefangen habe, will ich es deutlich aussprechen. Ich weiß ja, daß Ihr Onkel aus Fiume ein paarmal an Ihren Mann geschrieben und ihm eine Anstellung auf seiner Werft angeboten hat. Könnten Sie sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen, an die so vielbesungene Küste der Adria zu ziehen?«
»Damit einem die Räuber nachts das Haus anstecken?«
»Ja, die Gegend soll allerdings ein bißchen unsicher sein. Aber das Klima würde Ihrem Mann vorzüglich bekommen. Da ist Sonne und Wärme, und die braucht er. Ich bin überzeugt, ein mehrjähriger Aufenthalt in anderer Luft würde Wunder wirken.«
Inger war still geworden. Unwillkürlich hatte sie sich vom Doktor ein wenig zurückgezogen und blickte nicht auf. Kurz darauf machten sie vor seinem Haus halt, wo die übrige Gesellschaft schon eine Zeitlang gestanden und gewartet hatte, um ihm gute Nacht zu sagen.
Per und Inger hatten den weitesten Heimweg und mußten noch an einer ganzen Reihe von Abschiedsszenen teilnehmen. Inger hatte schweigend ihren Arm in den ihres Gatten gelegt. Und als sie endlich allein waren, schmiegten sie sich mit jener heftigen Sehnsucht aneinander, die an einem solchen Abend unter Fremden in ihnen erwachen konnte. Liebebedürftig legte Inger ihre Wange an seine Schulter. Und so schritten sie in der stillen hellen Mondnacht langsam ihrem Häuschen zu und blieben zuletzt mitten auf der Straße stehen, um sich einen vielverheißenden Kuß zu geben.
Zu Hause angelangt, mußte Inger unglücklicherweise noch in einer häuslichen Angelegenheit in die Küche gehen. Ihr war eingefallen, daß die Köchin einige Gurken hatte einlegen sollen. Ihr hausfrauliches Pflichtgefühl erlaubte ihr nicht, ins Bett zu gehen, ohne sich vergewissert zu haben, ob ihr Auftrag auch ausgeführt worden war. Dann sah sie gleich im Kinderzimmer nach und erkundigte sich beim Kindermädchen, wie der Abend verlaufen war.
»Denk dir, Ingeborg hat wieder mit dem Magen zu tun gehabt«, sagte sie, als sie wieder zu Per hineinkam, der inzwischen die Lampe in seinem Zimmer angezündet hatte.
Er saß an seinem Arbeitstisch und tat, als lese er in einem Buch. »Ach!« sagte er nur und drehte ein Blatt um.
Den Ton kannte sie. Jetzt sah sie auch, daß er sich eine neue Zigarre angesteckt hatte. »Möchtest du noch aufbleiben?« fragte sie.
»Ja, ich bin überhaupt nicht müde.«
Sie machte keinen Versuch, ihn zu überreden. Sie wußte, daß es fruchtlos war, auf seine Stimmungen einwirken zu wollen. Ganz ruhig – zu stolz und zu keusch, um ihre Enttäuschung zu verraten – ging sie zu ihm, strich sein Haar aus der Stirn und küßte ihn auf die Schläfe. »Gute Nacht, Liebster!«
»Gute Nacht«, sagte er, ohne sich zu rühren.
Sobald sie gegangen war, schob er das Buch fort und sah eine Weile, die Hand unter dem Kopf, in die siedende Lampenflamme. Als er hörte, daß sie ins Bett gegangen war, nahm er die zusammengefaltete Zeitung unter den Büchern und Zeichenrollen hervor und breitete sie vor sich auf dem Tisch aus. Es war die gestrige Ausgabe einer der größeren jütischen Provinzzeitungen – mit dem Bericht über die Technikertagung in Aarhus. Sein Blick fiel gleich auf eine Stelle in der zweiten Spalte. Dort stand:
»In der Hauptsitzung am Nachmittag ging es um das bekannte Steinersche Hafenprojekt, das unseren Lesern aus verschiedenen Mitteilungen in dieser Zeitung bereits bekannt ist. Besonderes Interesse erregte die Sitzung dadurch, daß sie von dem genialen Schöpfer des Planes selbst eingeleitet wurde. Herr Steiner wurde sowohl bei seinem Erscheinen auf der Rednertribüne als auch nach Beendigung seines lehrreichen Vortrags mit demonstrativem Beifall belohnt.«
An Pers Schläfen schwoll beim Lesen das Adernetz an. In den letzten Tagen war es kaum noch möglich, eine Provinzzeitung in die Hand zu nehmen, ohne auf Steiners Namen zu stoßen. Anton Steiner war auf dem besten Wege, eine Art jütischer Nationalheld zu werden. Er war überall, hielt Vorträge, ließ sich interviewen, inszenierte insgesamt seine eigene Verherrlichung und die seiner »Mission« ganz planmäßig.
Ein taunasser Zweig schlug weich gegen die Fensterscheibe. Im Wohnzimmer auf der anderen Seite der Diele begann die Uhr zu schlagen – zwölf.
Per preßte die Hand gegen die Augen und saß lange regungslos. Dieses Sideniussche Erbe – das war doch der Fluch seines Lebens gewesen! War es vielleicht besser oder weniger verwerflich, hier ohnmächtig zu sitzen und langsam von eunuchenhaftem Lebenshunger verzehrt zu werden – statt sich aus Lebensüberdruß eine Kugel durch den Kopf zu jagen wie Leutnant Iversen und Neergaard? Sein Leben war zerstört, seine Kraft vergeudet! Er war wie eine Uhr, aus der man Stück für Stück das Werk herausgenommen hatte.
Langsam und fast ängstlich blickte er zum Bücherregal auf, auf dem die Marmorbüste im Halbdunkel unter der Decke schimmerte. An diesem Bildnis, das er einst vernichten wollte, hing sein Blick oft in letzter Zeit fast mit Andacht. Er begann, sich in seine eigene Jugend zu verlieben. Es kümmerte ihn nicht mehr, daß er ein verständnisloser, frecher, eingebildeter Bursche gewesen war, in vielem ein Narr, in manchem ein Tunichtgut und in allem ein seelenloses Wesen. Und doch hatte die Musik des Lebens in seinem Blut gesungen, hatte sie in seinen Träumen widergeklungen. Nun war es wüstenstill geworden in seinem Innern. Nur eine einzige Schalmei war geblieben von dem riesigen Orchester, das in ihm so disharmonisch getönt hatte.
Wer einsam und verlassen war, wer auf der Schattenseite des Lebens stand und fror, dem mochte es manchmal recht schlecht gehen. Und doch gab gerade das Bewußtsein, benachteiligt und verstoßen zu sein, in der Not große Kraft. Er hatte stets entweder das Feuer seiner Hoffnungen oder den Brand des Zorns gehabt, sich daran zu erwärmen. Noch nie war er damals so bemitleidenswert gewesen wie jener, den mitten im Sonnenschein Todes- oder Grabeskälte durchschauerte, der an der königlichen Tafel des Lebens saß und von Hunger verzehrt wurde, der täglich all sein Sehnen, all seine Träume um sich her lebendig werden sah und dennoch hatte fliehen müssen! Aber gerade dies war sein Los geworden!
Haus und Herd und Friede waren ihm geblieben. Drei Scheffel Erde waren ihm geblieben von der Welt, die er im glücklichen Übermut seiner Jugend hatte erobern wollen. In Ingers Liebe, in der Lebensfreude der Kinder, im Glück und Frieden seines Heims war ihm Ersatz gegeben worden für das, was ihm fehlte.
In gewisser Weise war er auch nicht benachteiligt worden. Daher durfte Inger auch nichts von seinen Entbehrungen wissen, woran sie so ganz unschuldig war, was sie nicht einmal verstehen würde. Und war das so verwunderlich?
Er verstand seine unüberwindliche Ohnmacht ja selbst nicht. Daß er sein kleines Haus liebgewonnen hatte, daß Inger nur ungern die Umgebung ihrer Kindheit verlassen wollte, daß auch er im Lauf der Jahre eine Art Gewohnheitsmensch geworden war – all das erklärte nicht den Zauber, mit dem dieses Fleckchen Erde ihn trotz seiner oft erdrückenden Einsamkeit gefangenhielt. Die Angst, er würde woanders seine Familie nicht versorgen können, war es ebenfalls nicht, was ihn abhielt. Neben der Einladung von Ingers Onkel, die ihn nie verlockt hatte, war er auf verschiedene andere recht reizvolle Angebote ebenfalls nicht eingegangen. Dabei hatte er sogar einen Gönner im Landrat selber gefunden, der sich sehr für seine Regulierungsarbeiten interessiert und mehrfach unaufgefordert versprochen hatte, ihn dem Innenminister und Wasserbaudirektor zu empfehlen, die beide seine persönlichen Freunde waren.
Am wenigsten machte Per seine Gesundheit Sorge. Wenn er überhaupt Rücksicht auf sein Befinden nahm, dann vor allem Ingers und der Kinder wegen. Die Todesfurcht, die ihm in seiner Jugend das Mark aus den Knochen geblasen hatte, sobald ihm nur das geringste fehlte, war längst überwunden. Jetzt sah er eher mit Neid bei Begräbnissen den Sarg im Dunkel der Erde verschwinden, und es gab Zeiten, da ihm kein Laut so verheißungsvoll erschien wie jene dumpfen, klopfenden Töne, die vom Grab heraufklangen, wenn die drei Schaufeln Erde auf den Sargdeckel fielen – das Echo aus dem Totenreich, Antwort und tröstliche Versicherung des Nichts.
Mitunter fragte er sich, ob es nicht auch für Inger das beste wäre, wenn er sterbe. Sie war ja noch jung und schön. Sicherlich würde sie wieder heiraten und dann wirklich ganz glücklich werden. Oft hatte er daran denken müssen, ob sich nicht hinter ihrer Abneigung gegen den jungen Gutsbesitzer Brück instinktive, unbewußte Furcht vor dessen männlicher Schönheit und Kraft verbarg. So vieles schlummerte noch in Inger, das zu wecken er nicht die Geduld und wohl auch nicht die Fähigkeit gehabt hatte.
Ein paar Tage später saßen sie nachmittags beim Kaffee in Pers Zimmer, Inger mit einer Näharbeit in der Sofaecke, Per mit einer Zigarre am Fenster.
Nachdem sie eine lange Zeit nicht gesprochen hatte, fragte Inger: »Soll ich gehen?«
»Nein – warum?«
»Du siehst so aus, als wolltest du lieber allein sein.«
»Aber nein, gar nicht. Im Gegenteil, ich freue mich, daß du hier sitzt.«
»Da ist nämlich etwas, über das ich gern ernsthaft mit dir reden wollte.«
»Und was ist es?«
»Siehst du – ich habe mir überlegt, ob es nicht das richtigste wäre für uns, wenn wir weggehen von hier, ehe wir dazu gezwungen werden. Du hast ja selbst davon gesprochen, daß es mit dem Verdienst weniger wird. Es ist wohl auch unmöglich, hier auf die Dauer genügend Arbeit für dich zu finden.«
Per schaute sie überrascht an. »Wieso bist du gerade jetzt auf diesen Gedanken gekommen?«
»Ach, wir haben ja schon oft davon gesprochen.«
»Das haben wir allerdings. Aber daß du gerade jetzt auf diesen Gedanken verfällst?«
Noch immer ruhte sein Blick argwöhnisch auf ihr. Sie beugte sich über ihre Näharbeit und sah nicht auf. Was war nur geschehen? Er mußte daran denken, daß sie in den letzten Tagen so eigenartig still geworden war – ja, seit jener Gesellschaft beim Apotheker. War sie sich vielleicht der Furcht vor Gutsbesitzer Brück bewußt geworden?
»Und wohin, meinst du, sollten wir ziehen?« fragte er.
»Das weiß ich nicht. Aber der Landrat hat doch versprochen, dir eine Anstellung zu besorgen.«
»Der Landrat hat wohl vor allem an eine Stelle in der Verwaltung in Kopenhagen gedacht. Er kennt ja den Innenminister. Aber nach Kopenhagen möchtest du ja nicht so gern.«
»Möchte . . . Ich möchte in dieser Hinsicht, was du für das Richtige hältst. Ich werfe mir ja gerade vor, daß ich dich vielleicht zu sehr zurückgehalten habe. Es war ja immer hauptsächlich der Kinder wegen. Wenn ich daran dachte, wir müßten vielleicht irgendwo im vierten Stockwerk wohnen, wo sich die Kinder wie in einem Käfig vorkommen, dann fand ich allerdings, daß es ein Jammer wäre für sie. Aber jetzt glaube ich, es könnte am Ende doch gehen. Eine Zeitlang im Sommer können sie ja hier drüben bei Vater und Mutter sein und sich tüchtig braun brennen lassen. Dann werden sie sich wohl mit Gottes Hilfe für den Rest des Jahres mit der Stadtluft begnügen können.«
»Und du selbst, Inger?«
»Ich?« Mit offenem, unschuldigem Blick, der eine drückende Last von seiner Brust wälzte, sah sie auf. »Ach, um mich mach dir keine Sorgen. Ich bin ja kräftig. Und selbst wenn wir da drüben – zumindest zu Anfang – wohl etwas eingeschränkt leben müssen, denn wir werden ja sicherlich nur eine kleine Vierzimmerwohnung haben, so gewöhnt man sich eigentlich bald daran. Ich habe schon daran gedacht, daß wir Laura kündigen. Sie eignet sich nicht für die Stadt und ist außerdem zu langsam. Und dann ist es wohl auch richtiger, wenn wir uns – wenigstens vorläufig – mit einem Mädchen begnügen. Mit den Kindern kann ich ja selbst spazierengehen.«
Per hörte kaum hin. Er hatte seine Zigarre weggelegt. Sein Blut pochte in seinem Körper, und er fühlte sich ganz matt nach der Angst, die sie ihm eingejagt hatte.
»Nur eins macht mir Kummer«, fuhr Inger auf ihre ruhige Art fort.
»Und das wäre?« fragte Per.
Es dauerte eine Weile, ehe sie weitersprach. »Ich wollte übrigens schon seit langem einmal darüber mit dir sprechen. Aber du bist ja in letzter Zeit so unzugänglich gewesen.«
»Bin ich das? Jetzt verwechselst du dich sicher mit mir«, sagte er halb im Scherz, um sie abzulenken. »Du bist doch gerade in den letzten Tagen so grüblerisch gewesen. Was hast du denn bloß auf dem Herzen gehabt?«
»Ich habe dich fragen wollen, Per, ob du dir nicht die Mühe machen und ein wenig mehr für die Kinder dasein könntest. Ich weiß natürlich, daß du sie liebhast; aber ich kann es ihnen anmerken, und besonders Hagbarth, daß sie es als Entbehrung empfinden, wenn du dich nicht mehr mit ihnen beschäftigst.«
»Was soll das heißen, Inger? Beschäftige ich mich etwa nicht mit ihnen?«
»Ja, ich weiß, was du meinst. In bestimmten Augenblicken, wenn du gerade guter Laune bist, macht es dir ja Freude, mit ihnen zu spielen. Aber zu anderen Zeiten weist du sie ab auf eine Art und Weise, die sie nicht verstehen – und dann werden sie dir gegenüber unsicher und befangen. Und nun fürchte ich, daß dir die Kinder noch ganz fremd werden, wenn wir nach Kopenhagen kommen, wo du wahrscheinlich mehr außer Haus bist.«
»Aber das verstehe ich wirklich nicht. Ich finde im Gegenteil, daß ich immer . . .«
»Ach, du ahnst vielleicht gar nicht, wieviel du dich absonderst, Per«, unterbrach ihn Inger mit unterdrücktem Seufzen. »Natürlich denkst du auch gar nicht darüber nach, wenn du die Kinder so deutlich merken läßt, daß sie dir lästig sind. Aber für so was haben selbst Kinder ein feines Empfinden, glaube mir! Deswegen meine ich, du solltest auch um deinetwillen ein wenig mehr achtgeben darauf. Und weil wir nun schon mal davon sprechen, dann will ich dir doch erzählen, was Hagbarth kürzlich an seinem Geburtstag abends zu mir sagte, als du so lange weg warst, daß er dir nicht gute Nacht sagen konnte. Mit Tränen in den Augen meinte er trotzig: ›Vater macht sich nichts aus mir, das weiß ich ganz genau.‹ Du bist doch hoffentlich nicht beleidigt, weil ich dir das erzähle? Und jetzt möchte ich, wie gesagt, wünschen, Per, daß du dich – wenn wir nach Kopenhagen oder sonstwohin in der Welt kommen – ein bißchen mehr um Hagbarth kümmerst, daß du bloß ab und zu wieder einen Spaziergang mit ihm machst und etwas mehr über das redest, was euch begegnet. Er ist doch wirklich ein kluger Bursche und an allem so interessiert, was um ihn her geschieht. Ich weiß ganz genau, dir sind gerade alle diese vielen kindlichen Fragen lästig – aber damit muß man wirklich Geduld haben.«
Per saß eine Zeitlang wortlos da. Dann stand er auf und ging im Zimmer auf und ab, wie er es meistens tat, wenn ihn etwas bewegte. Ingers Worte hatten ihn erschreckt. Ihre behutsame Anklage hatte ihn tiefer getroffen, als sie ahnte, weil sie an seine eigenen Kindheitserinnerungen rührte, über die er nicht sprach. »Morgen fahre ich nach Kopenhagen«, sagte er endlich. »Noch heute abend schreibe ich an den Landrat und erinnere ihn an sein Versprechen. Laura soll gleich morgen früh meinen dunklen Anzug auslüften und tüchtig klopfen. Auch den Frack – für den Fall, daß ich zum Minister muß. Und wie sieht es mit meinem Schuhzeug aus?«
Inger war ganz durcheinander. Solche überstürzten Beschlüsse waren nichts für sie. Sie bat ihn, er solle sich Zeit lassen und die Angelegenheit erst einmal gründlich überlegen. Es habe doch keine Eile, und sie müßten doch auf jeden Fall die Frage erst mit ihren Eltern besprechen. Aber davon wollte Per nichts hören. Er könne sich dieser Tage am besten frei machen, meinte er. Und außerdem sei die Sache oft genug besprochen worden, auch mit ihren Eltern.
»Laß uns jetzt eine Entscheidung treffen! Wenn wir noch länger darüber reden, geht es uns vielleicht so wie all die anderen Male, daß wir zu keinem Ergebnis kommen! Ach Inger! Wir wollen noch einmal das Schicksal in die Schranken fordern! – Weißt du übrigens, daß ich mich in den letzten Tagen mit Gedanken beschäftigt habe, die in dieselbe Richtung gehen? Jetzt kann ich's dir ja erzählen. Du erinnerst dich doch bestimmt noch an diesen Ingenieur Steiner, an diesen gemeinen Hochstapler, von dem ich dir erzählt habe. Es hat mich wahrhaftig furchtbar geärgert, daß sich dieser Kerl meine alten Ideen angeeignet, ja daß er sie mir gestohlen und sich damit noch gebrüstet hat. Stell dir vor, er hat neulich in Aarhus bekanntgegeben, es sei jetzt seine Absicht, auch Kopenhagen zu erobern, nachdem er die Provinzen bezwungen habe. Das hat gestern in der Zeitung gestanden, und er soll auch tatsächlich schon zu einer Versammlung in der nächsten oder übernächsten Woche eingeladen haben. Ich hätte nicht übel Lust, bei dieser Gelegenheit dem frechen Burschen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ich könnte aufstehen in der Versammlung und ganz ruhig die Vorgeschichte der Sache erklären. Ich habe Grund zu der Annahme, daß es mir nicht schwerfallen wird, dem Kopenhagener Publikum gegenüber meine Rechte geltend zu machen. Man weiß in der Stadt sicher sehr gut, was er für ein Scharlatan ist; und ich denke mir, es gibt bestimmt unter den Technikern und Presseleuten, die bei einer solchen Gelegenheit anwesend sind, ein paar, die sich an mein Buch noch erinnern.«
»Ach, weswegen willst du nur diese alten Geschichten wieder aufwühlen? Du hast bestimmt keine Freude daran!«
»Du bist nicht dafür? Na ja, wir werden sehen!« sagte Per. Er hatte die Hände auf dem Rücken und knipste mit den Fingern.
»Ich meine, du solltest die Vergangenheit ruhen lassen, Per. Ich weiß wahrhaftig nicht, was du dir denkst. Was kann schon dabei herauskommen, wenn du heute, nach so vielen Jahren, zu protestieren anfängst. Aber du tust es ja auch gar nicht, Lieber.«
»Was dabei herauskommen soll? Liebes Kind, ich behalte mir mein Urheberrecht vor, nichts weiter. Niemand weiß, welche Bedeutung das für unsere Zukunft haben kann.«
»Ich bin fest überzeugt, Per, du schaffst dir nur noch mehr Ärger. Du sagst ja selbst, dieser Herr Steiner ist ein roher Mensch, der kein Mittel scheut, um seinen Gegnern zu Leibe zu gehen. Und du hast ja auch gar keine Übung im öffentlichen Auftreten, deswegen . . .«
»Ich glaube, meine kleine Frau hat schon Lampenfieber für ihren Mann«, sagte Per heiter und blieb lächelnd vor ihr stehen. »Na ja, wir werden sehen. Wir werden sehen! – Aber wo sind eigentlich die Kinder? Wo ist Hagbarth?«
»Draußen im Garten bei den anderen!«
»Heute wollen wir mal Blindekuh spielen, und zwar so richtig!«
»Ich finde, du solltest lieber einen kleinen Spaziergang mit Hagbarth machen. Den ganzen Tag läuft er herum ohne Beschäftigung. Kannst du nicht mal mit ihm zu Kristen Madsen gehen? Die haben zur Zeit die neue Dampfdreschmaschine in Betrieb. Das wird ihm Spaß machen. Er hat so viel Interesse für solche Dinge.«
»Zu Kristen Madsen? Aber da sind doch bei solchen Gelegenheiten immer so viel Menschen.«
»Ja, gerade deshalb. Um so mehr gibt es für den Jungen zu sehen. Und wenn du kannst, solltest du ihm die Einrichtung dieser Maschine mal erklären. Sie hat ihn so sehr beschäftigt, als sie neulich hier vorbeifuhr. Aber ich konnte ihm ja nicht richtig Bescheid geben.«
»Jaja, ich mach das schon.«
Als er nach etwa einer Stunde zurückkam, ging er gleich an die Vorbereitungen für seine Reise. Als er jedoch den Koffer vom Dachboden holte, war ihm, als halte ihn eine unsichtbare Hand zurück. Aber das war nur ein vorübergehendes Gefühl. Eine andere, stärkere Angst trieb ihn hinaus in das Getümmel des Lebens. Er spürte, daß er am letzten Kreuzweg seiner Lebensbahn stand. Wenn es ihm jetzt nicht gelang, vor sich selbst und seiner Schwermut zu fliehen, dann würde Rimalt sein Grab werden.
Per war nur ein einziges Mal in Kopenhagen gewesen, seit er vor mehr als sechs Jahren aus der Stadt weggezogen war. Ein halbes Jahr nach der Hochzeit hatte er mit Inger eine Vergnügungsreise dorthin unternommen und sich einige Wochen dort aufgehalten. Aber schon damals hatte er sich in der großen Stadt fremd und unbehaglich gefühlt. Der Lärm auf den Straßen, die muffigen Hotelbetten, das Essen im Restaurant, die Trinkgelder, die großen Entfernungen und die Tatsache, daß man immerzu in Sonntagskleidern herumlaufen, Handschuhe tragen und frisiert sein mußte, weil es Inger sehr entschieden verlangt hatte das alles hatte schon nach wenigen Tagen Heimweh nach seiner kleinen, stillen Studierstube und der Ungezwungenheit des ländlichen Lebens in ihm erweckt.
Auch diesmal ging es ihm nicht viel anders. In den ersten Tagen war er allerdings ziemlich beeindruckt von der großen Ausdehnung, die die Stadt in den letzten Jahren erfahren hatte. Gleich am ersten Morgen war er losgegangen, um sich die neuen Hafenanlagen anzusehen, an denen noch gearbeitet wurde. Später durchstreifte er die neuen Stadtteile und die teilweise völlig umgebauten Straßen der Innenstadt, worüber er soviel in den Zeitungen gelesen hatte. Als jedoch seine Wißbegier in dieser Sache befriedigt war, überfiel ihn wieder dasselbe hilflose Gefühl der Verlassenheit, das ihn vor siebzehn Jahren ergriffen hatte, als er zum ersten Mal aus seinem Elternhaus hierher gekommen war.
Jetzt war die allerunruhigste Zeit der Stadt, in der sich Sommer und Winter begegneten und größere Geschäftigkeit draußen wie drinnen hervorriefen. Während noch das Tivoli abends seine Raketen über die Stadt schleuderte und in allen Vergnügungsgärten die Blasorchester schmetterten, waren die Theater eröffnet, und die deutschen und schwedischen Sommergäste füllten noch die Cafés, in denen sich bereits die Stammgäste aus der Sommerfrische einfanden, höchst unangenehm berührt, weil ihre Sofaecken von Fremden besetzt waren.
Per fühlte sich ganz außerhalb all dieses lebhaften Treibens, das in seinen Ohren und Augen nur Lärm und oberflächliches Trugbild war. Wenn er diese eiligen Menschen betrachtete, die auf den Straßen hin und her wogten, in Straßenbahnen einstiegen und wieder ausstiegen, in offenen Droschken durch die Stadt rollten, im Restaurant wie in ihrer eigenen Stube saßen, ihr Frühstück mit einer Zeitung in der Hand einnahmen oder Geschäfte bei einem Glas Bier machten und sich nie eine Stunde zum Besinnen zu gönnen schienen, dann wurde ihm ganz klar, daß er sich geirrt hatte, denn das Leben dieser Leute konnte nie mehr sein eigenes werden. Ja, wenn er mitten im Gewühl steckte, regte sich sogar eine Art Missionseifer in ihm. Dann packte ihn plötzlich das Bedürfnis, all diesen Menschen ein warnendes Halt! zuzurufen.
Noch nach fünf Tagen hatte er sich daher nicht entschließen können, um Audienz beim Innenminister oder beim Wasserbaudirektor nachzusuchen. Sooft er diesen Schritt tun wollte, hielt ihn die Überzeugung zurück, daß er dann einen Mord an dem Besten in sich beginge.
»Meine Liebe«, schrieb er an Inger, »ich möchte Dich lieber gleich darauf vorbereiten, daß ich wahrscheinlich unverrichteterdinge heimkehren werde. Die Ursache hierfür kann ich Dir in einem Brief nicht erklären. Ich will nur das eine sagen: Mit jedem Tag, der vergeht, spüre ich deutlicher, daß die hiesigen Verhältnisse mir jetzt nicht im mindesten mehr zusagen als vor sieben Jahren. Im Gegenteil. Doch, Liebste, wir wollen deswegen nicht mutlos werden. Irgendwo in der Welt muß ich doch wohl hingehören. Ich will nicht müde werden, danach zu suchen. Ich halte meine Reise auch keinesfalls für unnütz. Ich habe jetzt endgültig die Bestätigung erhalten, daß das Gefühl, welches mich damals – und seinerzeit vielleicht recht unüberlegt – aus dem Hauptstadtleben vertrieb, tief begründet ist in meiner Natur. Dadurch habe ich mehr Zusammenhänge in meinem Leben entdeckt, und allein hierin liegt eine große Befriedigung. Es ist also nicht, wie ich mitunter in düsteren Augenblicken glaubte, der blinde Zufall, der mein Schicksal bestimmte. Eine innere Kraft, von welcher Art sie auch sein mag, hat das Steuer meines Lebensbootes übernommen, auch wenn es scheinbar vor Wind und Wellen her trieb. – Das habe ich früher ja auch recht deutlich gespürt. Jetzt will ich glauben: Wenn ich nur beständig diesen selbsttätigen Steuermechanismus den Kurs bestimmen lasse, werde ich endlich schon dahin kommen, wohin ich soll. – Ihr werdet mich also bald wieder bei Euch sehen. Vielleicht fragst Du, warum ich nicht ebensogut sofort komme, weil ich doch den ursprünglichen Zweck meiner Reise nun aufgegeben habe. Dazu muß ich gestehen, daß mich ein gewisses Gefühl der Scham zurückhält. Ich verließ Dich mit so großen Versprechungen und kehre mit so traurig leeren Händen heim. Aber ich weiß, Du wirst Nachsicht mit mir haben.«
Bei Pers planlosem Umherschweifen in der Stadt kam es öfter vor, daß er alte Bekannte aus Philip Salomons Haus erblickte. Mit starkem Herzklopfen sah er einmal vom Verdeck einer Straßenbahn aus seinem einstigen Freund und Schwager Ivan nach, der ganz wie früher eilig auf seinen kurzen Beinen vorübertrabte, unter dem Arm eine Aktentasche. Auch Aron Israel, Max Bernhardt, Hasselager und Nathan sah er wieder, und es verwunderte ihn, daß sie alle so ganz unverändert waren. Er stieß auch – selbst unerkannt – auf mehrere seiner alten Studienkollegen vom Polytechnikum. Sie alle waren jetzt angesehene Leute, zum Teil in einflußreichen Stellungen. In der Zeitung hatte er ihren Entwicklungsweg aufmerksam verfolgt. Doch nun, da er sie sah, beneidete er sie nicht mehr.
Am eifrigsten und ängstlichsten spähte er nach Jakobe aus. Er wußte, daß sie in Kopenhagen lebte und eine Asylschule errichtet hatte, eine Art Kloster, worüber viel in den Zeitungen geschrieben wurde. Drüben in Jütland hatte er vergebens versucht, nähere Auskünfte über die Schule und Jakobes Absichten damit zu erhalten. Aber in den Provinzzeitungen hatte nichts weiter gestanden, als daß es eine »ziemlich herausfordernde Laune einer jüdischen Kapitalistentochter« sei.
Eines Nachmittags, als er an einem Caféfenster an der Ecke der Østergade und des Kongens Nytorv saß, erblickte er Dyhring. Auch der kam ihm seltsam unverändert vor. Er stand auf dem Bürgersteig und unterhielt sich mit einer jungen, hübschen und elegant gekleideten Dame, die wie eine Schauspielerin aussah und unaufhörlich lachte – und dieses Lachen wurde gleichsam von seinen dreisten Blicken hervorgekitzelt. Er erregte großes Aufsehen. Jeder zweite gut gekleidete Herr grüßte ihn, und die Damen stießen sich mit den Ellenbogen an.
Als sich Dyhring von der Schauspielerin verabschiedete, drückte er ihr warm die Hand und stieg dann in eine offene Droschke, die auf der Straße gewartet hatte. Hunderte Augen folgten ihm, während er über den sonnenhellen Marktplatz fuhr, und man sah ständig, wie sein blanker Zylinder grüßend von dem goldblonden Kopf genommen wurde.
Per erinnerte sich, in einer Zeitung gelesen zu haben, daß Dyhring vor kurzem aus Paris zurückgekehrt sei, wo er als besonderer Pressevertreter an der Eröffnung irgendeines öffentlichen Instituts teilgenommen habe und bei dieser Gelegenheit dem Präsidenten der Republik vorgestellt worden sei und einen Orden erhalten habe. Überhaupt war er der selbstverständliche, unentbehrliche Botschafter der Öffentlichkeit geworden. Wo sich etwas von Bedeutung ereignete, war er zugegen. Oder umgekehrt, nur wo er zur Stelle war, hatte etwas Bedeutung. Alle Türen standen ihm daher offen, alle feinen und derben Genüsse des Lebens fielen ihm umsonst zu. Männer und Frauen wetteiferten um seine Gunst. Sogar der Hof bediente sich, sicherem Vernehmen nach, seiner zuweilen in delikaten diplomatischen Missionen.
Es steckte also wirklich etwas von einem Welteroberer in diesem Mann, für den das Leben nur eine Narrenposse war. Unüberwindlich in seiner göttlichen Sorglosigkeit machte er all seine Tage zu fröhlichen Festen, zu einem ununterbrochenen Triumphzug.
Und dennoch! Auch diesen modernen Alexander beneidete Per nicht.
Aber wohin gingen denn eigentlich sein Wunsch und sein Verlangen? Wo gehörte er hin? . . .
Am Tag zuvor hatte er in einer Zeitung zufällig eine öffentliche Bekanntmachung gelesen über die freie Stelle eines Wegebauassistenten in einem der äußersten Bezirke an der Westküste, oben bei Aggertangen. Und seither hatte er immerzu daran denken müssen. Auch jetzt kam ihm der Gedanke wieder. Nicht etwa, weil er daran dachte, sich um diesen Posten zu bewerben. Das Gehalt wäre zu gering gewesen. Vor allem aber würde sich Inger, die eine so große Vorliebe für alles Friedliche, Geschützte und üppig Sprießende in der Natur hatte, niemals in dieser kahlen Dünengegend wohl fühlen, wo die Nordseestürme und der salzige, eisige Seewind unaufhörlich in ihrer ganzen zerstörerischen Wildheit über das Land hinfuhren. Wenn ihm trotzdem die Bekanntmachung ständig vor Augen stand, dann wohl deswegen, weil dieser Ort eine persönliche Anziehungskraft auf ihn ausübte, und zwar – hierüber wurde er sich jetzt erst klar – gerade wegen der öden, trübseligen Verlassenheit und völligen Einsamkeit.
Ihm war, als habe er sich noch niemals so tief und klar gesehen wie in diesem Augenblick. Er sah gleichsam den Grund seines eigenen Wesens aufgedeckt, und es schauderte ihn. Wenn er trotz aller Erfolge, die er gehabt hatte, nicht glücklich gewesen war, so deshalb, weil er im üblichen Sinne gar nicht glücklich sein wollte. Wenn er sich zurücksehnte nach Rimalt, so waren es gar nicht Inger und die Kinder allein, die ihn anzogen, oder der häusliche Frieden. Jene unsichtbare Hand, die ihn von dieser Reise abhalten wollte und zeit seines Lebens in allen entscheidenden Augenblicken eingegriffen hatte, um seine Schritte zu lenken – sie war nichts anderes als sein Instinkt, daß die Einsamkeit sein eigentliches Zuhause war und daß sein Leben der Trauer und dem Schmerz gehörte. »Speise mich, o Herr, mit Tränenbrot und gib mir an Tränen zu trinken ein volles Maß.«
Nun begriff er die zugleich lockende und ängstigende Macht, die dergleichen wunderliche Worte auf ihn ausüben konnten. Das große Glück, das er blind gesucht hatte, war das große Leiden, war jenes unstillbare Entbehrenwollen, das ihm Pastor Fjaltring so oft gepriesen und als göttliche Gnadengabe der Auserwählten bezeichnet hatte.
Per hob den Kopf, und als erwache er aus einem Alptraum, schaute er wieder hinaus auf den sonnenhellen Platz mit seinem Gewimmel von Wagen und Fußgängern. Kurze Zeit später stand er auf und ging schweigend. Planlos irrte er durch die kleinen Gassen der Innenstadt und gelangte schließlich in den Ørstedspark. Hier hatte er in den vergangenen Tagen regelmäßig seinen frühen Morgenspaziergang gemacht, wenn erst wenige Passanten unterwegs waren. Auch jetzt, zur Abendessenszeit, war es hier friedlich. Die Kinder und die Kindermädchen waren nach Hause gegangen. Die Bänke waren leer. Lange Schatten fielen auf Rasenflächen und Wege, während die Sonne noch das goldene Laub und die vielen patinagrünen Bronzestatuen beschien.
Er setzte sich auf eine Bank an einem Mittelweg, und während er ungestört mit seinem Stock Figuren in den Kies malte, kam ihm wieder der Gedanke, daß es für Inger und auch für die Kinder sicher ein Glück wäre, wenn er sterben oder auf andere Weise aus ihrem Dasein gestrichen würde. Vielleicht besonders für die Kinder. Er erinnerte sich, was Inger kürzlich von Hagbarth erzählt hatte. Seit geraumer Zeit hatte er selbst bemerkt, daß etwas Verstecktes in das Wesen des Jungen ihm gegenüber gekommen war. Besonders einmal, als er ihn bei einer ganz harmlosen Jagd nach einem Vogel im Garten überrascht hatte. Der Ausdruck in den Augen des Jungen, als er ihn entdeckte, hatte ihn bis ins Innerste erschüttert. Es war ihm gewesen, als sehe er sich selbst als Kind vor seinem Vater stehen, als greife er selbst, furchtsam und frech zugleich, nach allen möglichen erniedrigenden Ausflüchten, um ein Versehen zu bemänteln. Aber Hagbarths klare Stirn sollte nicht von einem Kainsmal gezeichnet werden! Der Fluch seiner Väter, der auf seinem Leben ruhte und ihn fremd und friedlos hier auf Erden gemacht hatte, durfte nicht als Erbe auf seine Kinder übergehen. Und Inger! Nun, da er sich seiner unüberwindlichen Lebensscheu voll bewußt geworden war – wie konnte er es jetzt noch länger verantworten, daß sie sein Schicksal mit ihm teilte? Das arme Ding! Sie kannte ihr Unglück noch nicht. Sie begriff noch nicht, daß sie an einen Wechselbalg gebunden war, an einen unterirdischen Kobold, der im Licht blind und vom Glück getötet wurde. Und selbst wenn ihr die Augen einmal geöffnet würden durch die Liebe zu einem anderen – sie würde trotzdem ihr Geheimnis verschließen wie eine Todsünde, hinwelken und sterben, ohne es auch nur sich selbst eingestanden zu haben.
Er richtete sich auf, um weiterzugehen. Da fiel sein Blick auf eine Statue, die sich über der Rasenfläche auf der anderen Wegseite erhob. Es war Silen mit dem Dionysoskind auf dem Arm. Gestützt gegen einen Baumstamm, stand der alte Satyr da, ein unmerkliches Lächeln in den Augenwinkeln, und beugte sich über den unartig strampelnden Knaben, während sein bärtiges Gesicht glänzte in ruhiger, stolzer Pflegevaterfreude.
Per war wieder auf die Bank zurückgesunken. Er starrte diese sorglose Gruppe lange an, bis ihm die Tränen in die Augen traten. Er mußte daran denken, wie sich vielleicht alles anders für ihn gestaltet hätte, wenn solch ein Gesicht und solch ein sonniges Lächeln über seiner Kindheit gestrahlt hätten, wenn man ihn nicht verdächtigt hätte seit seiner frühesten Jugend, zu Hause und in der Schule, wenn diese Verdächtigungen nicht am meisten von den beiden ausgegangen wären, die ihn auf diese Welt gesetzt hatten. Aber er war durch einen Kuß aus dem Mund des Todes für das Leben geweiht worden. An demselben Tag, da er das Licht der Welt erblickte, war ihm das Kreuzzeichen des Grabes auf Stirn und Brust gezeichnet worden.