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Zu einer frühen Vormittagsstunde, einige Tage bevor Per zu Hause erwartet wurde, versammelte sich bei Obergerichtsanwalt Max Bernhardt derselbe kleine Kreis von Geldleuten, der schon einmal hier zusammengekommen war, um die Möglichkeiten zur Durchführung seines westjütischen Freihafenprojekts zu besprechen.
Auch Ivan war anwesend, allerdings mit einem sehr geistesabwesenden Gesichtsausdruck. Während die anderen Herren in lebhafter Unterhaltung am Fenster standen, ging er bleich im Zimmer auf und ab oder blätterte nervös in den ausgelegten Zeitungen und Büchern.
Er war sehr niedergeschlagen über seinen mißglückten Versuch, zwischen Oberst Bjerregrav und Per zu vermitteln. Die Art, wie Per in seinem Antwortschreiben vom Oberst geredet hatte, schien jede Hoffnung auf Versöhnung auszuschließen. Er begriff nicht die Gleichgültigkeit, die Per in letzter Zeit seinem Werk und dessen Schicksal gegenüber an den Tag gelegt hatte. Als er ihm seinerzeit die erfreuliche Neuigkeit mitgeteilt hatte, daß Max Bernhardt an dem Plan interessiert sei, und als er ihm später seine hierauf gegründeten Hoffnungen hinsichtlich der Bildung eines kapitalstarken Konsortiums darlegte, da hatte Per mit lakonischem Humor geantwortet: »Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab gen Jericho und fiel unter die Mörder.«
Nachdem man am Tisch Platz genommen hatte, auf dem die üblichen Zeichenrollen, Karten, Kostenvoranschläge und so weiter ausgebreitet waren, leitete Max Bernhardt die Verhandlungen mit der Mitteilung ein, es sei Herrn Salomon leider noch nicht gelungen, den Streit zwischen Oberst Bjerregrav und Herrn Sidenius beizulegen, der vorläufig noch ein Hindernis für das Mitwirken des ersteren darstelle. Man müsse daher jetzt zu dieser Frage bestimmter Stellung nehmen, um zu einem endgültigen Beschluß über die Zusammensetzung der eventuellen Direktion der Gesellschaft zu kommen.
Ivan ergriff unmittelbar darauf das Wort und erinnerte daran, daß er bereits auf der ersten Zusammenkunft Zweifel an der Zusammenarbeit zwischen dem jungen genialen Urheber des Planes und Technikern der alten Schule geäußert habe. Eindringlich bat er darum, man möge trotz des negativen Ergebnisses seiner Bemühungen um den Oberst das Unternehmen nicht weniger hoffnungsvoll beurteilen. Er sei überzeugt, daß die außerordentliche Bedeutung des Planes der breiten Allgemeinheit auch ohne den Beistand veralteter und mißgünstiger Autoritäten klar werde, wenn man sich nur der Mitwirkung der Presse versichern könne.
Max Bernhardt antwortete mit der Bemerkung, die die anderen zum Lachen brachte, daß er großes Zutrauen zum Einfluß der Presse habe, allerdings weniger zur Urteilskraft der Allgemeinheit. Dann erklärte er jedoch, daß er mit Ivan in der Auffassung der vorliegenden Situation durchaus nicht übereinstimme. Der Oberst hatte ihnen ja bekanntlich seine Mitwirkung zugesagt und nur gewisse, an und für sich sehr vernünftige Bedingungen gestellt, die noch nicht erfüllt worden seien. Deshalb schlage er eine erneute und bestimmtere Aufforderung an Herrn Sidenius vor, seine privaten Zwistigkeiten mit dem Oberst möglichst schnell aus der Welt zu schaffen.
Ivan widersetzte sich unermüdlich. Er machte geltend, daß hier nicht die Rede davon sei, nur die Folgen eines persönlichen Streits zu beseitigen. Der Konflikt liege tiefer. Es sei eine Wiederholung des ewigen Kampfes zwischen der älteren und der jüngeren Generation. Oberst Bjerregrav und Herr Sidenius gehörten sowohl als Techniker wie als Persönlichkeiten völlig verschiedenen Entwicklungsstadien an, die sich nicht vereinen ließen.
Max Bernhardt unterbrach ihn und sagte, die anwesenden Herren wünschten gewiß nicht, daß diese reichlich theoretische Debatte fortgesetzt werde. Und weil man die Angelegenheit damit für erledigt hielt, ging man zur Diskussion des augenblicklichen Geldmarkts und der Aktienkonjunktur über.
Gegen Ende der Zusammenkunft schlug Max Bernhardt vor, man wolle die Gesellschaft als endgültig gebildet betrachten, und daher solle man nicht zögern, eine entsprechende Mitteilung der Presse zukommen zu lassen. Und obgleich die anderen Herren – mit Ausnahme von Bankier Herløv, seinem Vertrauten, und dem jungen Sivertsen, seinem Echo – starke Bedenken äußerten, so dem Gang der Ereignisse vorzugreifen, enthielten verschiedene Kopenhagener Zeitungen bereits am nächsten Morgen unter der Überschrift »Ein neues nationales Werk« eine fanfarenartige Notiz über Pers Projekt.
Pers Name wurde allerdings in der Notiz nicht erwähnt, die überhaupt ganz vorläufigen Charakter hatte und nur als eine »Verlautbarung aus Börsenkreisen« auftauchte. Schon am folgenden Tag teilten indessen dieselben Zeitungen mit, hinter dem großen Werk stände »eine Reihe bedeutender Männer und hochangesehener Geldinstitute«.
Wenn Max Bernhardt solche Eile gehabt hatte, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ein Unternehmen zu richten, zu dem er selbst wenig oder gar kein Vertrauen hatte und das er seinerseits fallenzulassen gedachte, sobald es seinen Zwecken gedient hatte, so geschah das beständig in der Hoffnung, es könne ihm gelingen, das Kopenhagener Freihafenprojekt schon im Keim zu ersticken. Wenn er es in seinen Mitteilungen an die Presse vermieden hatte, Per zu nennen, dann deswegen, um so lange wie möglich zu verschweigen, von welchem Plan die Rede war. Außerdem hatte er nicht den geringsten Glauben an Per als erobernde Kraft, weil er überhaupt nichts für den Nachwuchs aus dänischen Pfarrhäusern übrig hatte. Er hatte Per einmal auf einer Gesellschaft bei Salomons getroffen, wo Ivan sehr erpicht gewesen war, sie zusammenzuführen. Aber er war sich schnell darüber klargeworden, daß dieser laute, seminaristisch selbstgefällige junge Mann nicht aus dem Stoff gemacht war, den er gebrauchen konnte.
Er spielte deshalb auch mit dem Gedanken, Per notfalls beiseite zu schieben und durch eine andere, ihm ergebene Person zu ersetzen. Er hatte eine solche bereits im Auge. Ein gewisser Ingenieur Steiner hatte vor kurzem in einer Provinzzeitung ein anderes westjütisches Hafenprojekt veröffentlicht, das er zweifelsohne von Per entliehen, um nicht zu sagen gestohlen hatte. In den Einzelheiten war es jedoch ziemlich selbständig und jedenfalls gut genug für die Verwendung, die Max Bernhardt dafür hatte.
Schon in den ersten Maitagen waren Salomons nach »Skovbakken« hinausgezogen, obwohl der Frühling naß und stürmisch gewesen war.
Die Rücksicht auf Jakobe hatte den Aufbruch aus der Stadt beschleunigt. Sie selbst hatte den Wunsch geäußert, aufs Land zu kommen. Sie wollte hinaus, nicht allein, um Frieden zu haben, sondern auch der frischen Luft und der langen Spaziergänge wegen. Sie, die trotz all ihrer körperlichen Leiden stets ihre Gesundheit vernachlässigt hatte, weil sie an keine Besserung glaubte, war in der letzten Zeit übertrieben vorsichtig mit sich geworden. Jetzt, da sie so viel hatte, wofür sie leben mußte, hoffte sie auch auf neue Kraft und Gesundheit für ihren armen, empfindlichen Körper.
Unter den vielen verschiedenartigen Büchern und Zeitschriften, die stets auf ihrem Tisch gestapelt lagen, befanden sich nun auch medizinische Werke und Gesundheitszeitungen, die sie eifrig studierte. Heldenmütig betrieb sie im Augenblick eine spartanische Abhärtungskur mit eiskalten Bädern und langen Fußwanderungen. Schon in Kopenhagen hatte sie begonnen, frühe Morgenspaziergänge auf Langelinje hinaus zu unternehmen, ohne sich um Wind und Wetter zu kümmern – zum großen Ergötzen der Bekannten der Familie in der Bredgade, die sie von den Fenstern aus beobachteten, wenn sie gegen neun Uhr in pflichtmäßigem Eilmarsch unter dem triefenden Regenschirm zurückkehrte.
Doch all dieser Eifer hatte nichts gefruchtet. Ihre Sehnsucht war zu groß. Schließlich konnte sie den Anblick von Menschen nicht mehr ertragen. Und die Nächte waren ohne Schlaf und unendlich wie eine Ewigkeit. Sogar wenn sie am tiefsten schlief, weckte sie das Summen einer Fliege.
Trotzdem war sie nur selten bedrückt. Wie ihre Briefe an Per nie die leiseste Klage enthielten, so war sie selbst, sogar in ihren schwächsten Augenblicken, voller Hoffnung. Von Kindheit an war sie so sehr an körperliche Plagen gewöhnt, daß sie seelisch nicht mehr davon beeinflußt wurde. Sie hatte im Laufe der Jahre gleichsam ein kameradschaftliches Verhältnis zu ihren Leiden gefunden. – Schlimmer für sie waren daher die geheimen Sorgen.
Sie war mehr und mehr davon überzeugt, daß sie schwanger war. Im Gegensatz zu dem, was sie aus Zweckmäßigkeit der Mutter geantwortet hatte, die intime Fragen zu stellen begann, waren bestimmte Anzeichen vorhanden, die sie in ihrer Vermutung bestärkten. Per gegenüber hatte sie jedoch nichts davon erwähnt. Sie wußte auch nichts Sicheres, weil ihre natürlichen Funktionen stets sehr unregelmäßig gewesen waren. Die Vorstellung, Mutter zu werden, ängstigte sie eigentlich nur insoweit, als sie mitunter besorgt war, nicht genügend Kräfte zu haben, um ein Kind zur Welt zu bringen. Doch im großen und ganzen beschäftigte sie die Sache weniger, als sie gemeint hätte. Denn sooft sich ihre Gedanken mit ihrem Zustand beschäftigten, umkreisten sie Per vielhundertmal. – Weit anstrengender und aufreibender für sie war ihre ständige unüberwindliche und unbezwingbare Eifersucht.
Sie hatte in gesteigerter Unruhe und Spannung gelebt, seit davon gesprochen wurde, Per nach Hause zu rufen. Nicht mit einem Wort hatte sie seine Entscheidung zu beeinflussen versucht, obwohl Ivan sie wiederholt dazu aufgefordert hatte. Und trotzdem begriff auch sie nicht, weswegen er seinen Aufenthalt in Rom immer weiter ausdehnte, wo es ja eigentlich nichts Besonderes zu tun gab. Falls es wirklich, wie er schrieb, einzig und allein mit Rücksicht auf die begonnene Büste geschah, dann kam ihr dies unverzeihlich unbedacht vor.
Nun hatte er ihr obendrein in den letzten Tagen seltsam unzusammenhängende Briefe gesandt, die zwar in keiner Weise lieblos waren, im Gegenteil, die ihr aber doch viel zu denken gegeben hatten. Aber alle Sorgen schwanden, als das Telegramm mit der Nachricht eintraf, daß er in wenigen Tagen in Kopenhagen sein würde. Um ganz allein zu sein, ging sie in den Wald hinaus. Und zum ersten Mal in ihrem Leben entbehrte sie einen Gott, zu dem sie Dank- und Lobgesänge emporsenden konnte.
An dem Tag, als Per erwartet wurde, stand sie schon bei Tagesanbruch auf und kleidete sich mit der zögernden Ruhe und Bedachtsamkeit an, die ihr bei großen Gemütsbewegungen eigen war. Mehrere Stunden bevor der Wagen zum Bahnhof fahren sollte, war sie schon zum Aufbruch bereit. Per wollte mit dem Vormittagsschnellzug in Kopenhagen eintreffen, und sie war besorgt, zu spät zu kommen.
Das Wetter war in den vergangenen Tagen schön gewesen. Auch an diesem Tag schien die Sonne sommerlich warm, als sie mit dem Schulzug in der Stadt ankam.
Unterdessen hatte Per den Fuß auf heimatlichen Boden gesetzt und rollte nun durch Seeland. Er war niedergeschlagen und zwiespältiger Stimmung. Noch bei seiner Abreise aus Rom war er fest entschlossen gewesen, seine Verlobung zu lösen. Aber das entscheidende Wort hatte er da unten doch nicht schreiben können. Er hatte bei der Geschäftigkeit des Packens und des Aufbruchs nicht die nötige Ruhe dazu finden können. So hatte er sich denn vorgenommen, in München oder Berlin Station zu machen, um sich hier zu einer endgültigen Erklärung zu sammeln.
Doch je weiter er auf seiner Reise nach Norden gekommen war und namentlich als er sich den bewaldeten Bergen näherte, die erst vor einigen Monaten den Rahmen für ihr paradiesisches Liebesleben gebildet hatten, desto mehr gewannen die Erinnerungen Macht über ihn. In der Nacht, als er über die Alpen fuhr, saß er am Fenster des Abteils und starrte über die mondbeschienenen Berghänge. Hier erkannte er einen waldbedeckten Bergrücken, dort eine schneeglitzernde Zinne wieder, die sie auf ihren liebesfrohen Wanderungen vor Augen gehabt hatten . . . und sein Herz wurde schwer dabei.
Er hatte angefangen, mit sich selbst zu ringen. Er fragte sich, ob es sehr klug war, gerade in diesem Augenblick eine Verbindung zu lösen, die ihm doch von unschätzbarem Nutzen sein konnte in dem Kampf, der ihm bevorstand. Durfte er, wenn er es wohl bedachte, überhaupt auf die Stütze verzichten, die ihm seine Beziehung zum Salomonschen Haus ohne Zweifel schon gewesen war? Allein die Rücksicht darauf mußte vorläufig das Ausschlaggebende sein. Die entscheidende Schlacht, die zu Sieg und Niederlage führte, mußte jetzt ausgekämpft werden. Und er sehnte sich danach, endlich anzufangen. Während der Fahrt nach Norden, vorbei an den von Hammerschlägen widerhallenden Fabrikstädten Deutschlands mit ihren mächtigen Bahnhofsgebäuden und ihren Wäldern von rauchenden Schornsteinen, erwachte in ihm unbezwingbarer Tatendrang, ein förmliches Arbeitsfieber nach dem langen römischen Müßiggang. Würde man es jetzt verantworten können, fragte er sich, wenn er sein Lebenswerk aufs Spiel setzte oder es auch nur verzögerte – lediglich wegen eines schönen Frauenkörpers?
Auf seiner fast dreitägigen Eisenbahnfahrt durch Europa hatte er Zeit genug gehabt für diese Überlegungen. Und er fuhr zuerst an München und dann an Berlin vorbei, ohne Aufenthalt zu machen. Er hatte sich entschlossen, vorläufig alles zu vermeiden, was seine Angelegenheiten hemmen, geschweige denn zum Stillstand bringen oder seinen endlichen Sieg erschweren konnte. Vorläufig wenigstens mußte alles dem großen Zukunftswerk geopfert werden – auch die Liebe. Selbst wenn Jakobe nicht mehr die war, die am besten für ihn paßte, so gebot doch die Klugheit, es bei der getroffenen Wahl bleiben zu lassen. Mit dem häuslichen Glück mußte es eben gehen, wie es wollte. Für Menschen, die das Schicksal zu Großem berufen hatte, galten nun einmal nicht die normalen bürgerlichen Gesetze. Sie hatten in Herzensangelegenheiten, genau wie königliche Personen, die Pflicht, ihre Privatgefühle höheren Rücksichten zu opfern.
Als der Zug in den Hauptbahnhof von Kopenhagen brauste, war Per immer noch in zwiespältiger und nervös erregter Verfassung. Hier aber begegnete ihm etwas völlig Unerwartetes.
Als er Jakobe erblickte, die auf dem Bahnsteig stand und in die Abteilfenster spähte und ihn suchte, schlug seine Stimmung plötzlich um. Das Wiedersehen überwältigte ihn. Unwillkürlich lehnte er sich zum Fenster hinaus und schwenkte seine Reisemütze.
Jakobe sah auch ungewöhnlich gut aus. Sie trug einen neuen breitkrempigen Sommerhut, der sie besonders vorteilhaft kleidete. Die Erregung und die frische Morgenluft hatten ihren Wangen Farbe verliehen.
Per sprang aus dem Abteil. Und obwohl der Bahnsteig voller Leute war, schob er seinen Arm unter den ihren, ohne daran zu denken, daß ihre Verlobung noch geheim bleiben sollte. Er konnte sich von seiner Verblüffung gar nicht erholen, daß er sie so viel jünger und schöner und zugleich viel weniger jüdisch im Aussehen fand, als er es sich unter dem Eindruck von Nannys Persönlichkeit eingeredet hatte.
Jakobe hatte vor lauter Glück noch kein Wort sagen können. Auf dem Weg durch die Wartesäle schaute sie ihn unverwandt an. Und während sie sich nun durch das Menschengewimmel der Vorhalle drängelten, schlug ihr Herz so heftig, daß Per es an seinem Arm fühlen konnte. Er lächelte und sah ihr in die Augen, die ebenfalls so viele vertraute Erinnerungen wachriefen. Und er drückte ihren Arm an sich und flüsterte: »Du Liebe . . .«
Dann stiegen sie in eine geschlossene Droschke. Als Jakobe sich hier an seine Brust warf, ergab er sich ganz. Die Droschke rasselte davon, und ehe sie sich recht besonnen hatten, hielt sie vor dem Hotel.
Jakobe blieb im Wagen sitzen, während Per hineinging, ein Zimmer bestellte und hastig Toilette machte. Dann fuhren sie geradewegs nach »Skovbakken«, ohne die Eisenbahn zu benutzen. Zu viel hatten sie einander zu erzählen, als daß sie Ohrenzeugen um sich haben wollten.
Auf dem Strandvej ließen sie halten und das Verdeck der Droschke herunterklappen. Jetzt um die Mittagsstunde schien die Sonne heiß, und es regte sich kein Windhauch.
Er holte tief Luft. Sein ganzes Wesen streckte sich förmlich in einem glücklichen befreienden Gefühl nach der langen Folter in der Zwangsjacke der Unschlüssigkeit. Sein Herz war voll Dankbarkeit gegen Jakobe, die durch ihre Schönheit und ihre Wiedersehensfreude seine Ergebung gerechtfertigt hatte. Dazu kam das Empfinden der Sicherheit, wieder zu Hause zu sein und die Muttersprache zu hören. Wie er so dasaß, Jakobes Hand in der seinen, und über das bekannte Land mit dem grünenden Wald und den Sund mit den vielen Seglern sah, erfaßte ihn eine plötzliche Woge patriotischen Gefühls. Der Anblick einer Flagge, die über einem der Villengärten wehte, stimmte ihn sogar leicht gerührt.
»Herrgott – der alte Danebrog!« rief er.
Doch nun begann Jakobe von Dyhrings zu reden. »Gestern sind sie zurückgekehrt«, erzählte sie. »Sie sind schrecklich viel herumgereist. – Ach, es ist ja wahr, du hast sie doch in Rom getroffen. Welchen Eindruck hast du eigentlich von ihrem Verhältnis gewonnen?«
»Eindruck? . . . Ich weiß wirklich nicht.«
»Ich glaube, sie sind schon fertig miteinander. Nanny hat jedenfalls dasselbe flatterhafte Wesen, das sie immer gehabt hat. Sie kommt übrigens wohl zu Tisch heraus. Sie sagte, sie freue sich, ihre italienischen Erlebnisse mit dir aufzufrischen.«
Per versuchte zu lächeln. Geschickt leitete er das Gespräch über auf andere Dinge.
Nanny fand sich wirklich zu Tisch ein, das heißt, sie kam fast eine halbe Stunde nachdem man sich gesetzt hatte, und sie ging noch vor dem Kaffee wieder, weil sie auf eine Abendgesellschaft wollte. Anscheinend war sie in bester Stimmung. Sie sah brillant aus in ihrem gelbgeblümten Kleid und der spanischen Jacke aus blutroter Seide.
Per war sehr erleichtert, als sie weg war. So recht zufrieden und glücklich war er jedoch nicht mehr. Obwohl er keinen Grund hatte, über den Empfang zu klagen, der ihm auf »Skovbakken« zuteil geworden war – Philip Salomon hatte sogar zur Feier des Tages Champagner bei Tisch ausschenken lassen –, so war die Wiedersehensfreude, die er im ersten Augenblick gespürt hatte, gleichsam auf verborgenen Wegen entschwunden und hatte eine etwas melancholische Stimmung hinterlassen – eine Leere, einen Mangel, er wußte selbst nicht recht, was.
So ähnlich war es ihm mitunter auch schon früher ergangen. Richtig heimisch hatte er sich hier im Haus seiner Schwiegereltern nie fühlen können. In der Lebensweise und den Umgangsformen der Familie lag vieles, das ständig fremdartig auf ihn wirkte. Der Hauch des modernen Europas, der darüber hinstrich, konnte zuzeiten wie kalte Zugluft auf ihn wirken. Als nun auch heute nach dem Essen wie gewöhnlich Bekannte aus den umliegenden Villen zu Besuch kamen – meistens Juden –, hatte er völlig das Gefühl, als befinde er sich noch im Ausland.
Er ging mit Jakobe in den Garten hinunter. Arm in Arm wanderten sie in der Allee unten am Wasser auf und ab. Hier liefen sie am wenigsten Gefahr, von den Gästen des Hauses überrascht zu werden.
Im übrigen machte sich Jakobe nichts mehr daraus, ihr Verhältnis vor den Leuten weiter geheimzuhalten. An einem der nächsten Tage sollte aus Anlaß von Nannys und Dyhrings Hochzeit eine große Gesellschaft auf »Skovbakken« gegeben werden. Sie wußte, es war der Wunsch der Eltern, diese Gelegenheit zur Bekanntgabe ihrer Verlobung zu nutzen. Besonders die Mutter war sehr dafür gewesen. Sie hatte geäußert, es sei auch an der Zeit, an die Hochzeit zu denken. Jakobe hatte denn jetzt auch Per in den Garten geführt, um mit ihm darüber zu sprechen. Hier wollte sie ihm auch anvertrauen, woran sie nun nicht länger zweifelte.
Anfangs redete sie nicht sehr viel, sondern ging neben ihm, den Kopf an seine Schulter gelehnt, während Per mit heimlicher Verlegenheit ihre Liebkosungen erwiderte. Sooft sich Jakobes Lippen zu den seinen erhoben, glitt Nannys Bild zwischen sie und verwirrte ihn.
Unwillkürlich beeinflußt von seiner Zurückhaltung, bedrückte es Jakobe ein wenig, sich ihm anvertrauen zu sollen, zumal sie nicht sicher war, wie Per es aufnehmen würde. Schließlich entschloß sie sich, damit zu warten, bis sie das nächste Mal einander wieder ganz gehören würden.
Sie blieb abermals stehen und sagte, indem sie die Hand an seine Wange legte, er solle am nächsten Vormittag zu Hause bleiben. Sie wolle dann kommen und ihn besuchen.
Per tat anfänglich so, als verstünde er die Absicht nicht, und erwiderte: »Das ist leider unmöglich, Liebste! Eben hat mir Ivan mitgeteilt, daß ich mich morgen früh zehn Uhr zu einer geschäftlichen Besprechung bei Max Bernhardt einfinden soll. Nun kommt die Zeit der Arbeit!«
»Dann später am Tag. Wann es dir am besten paßt.«
»Nein, es geht wirklich nicht. Hier müssen wir vorsichtig sein.«
Sie sah ihn überrascht an. In dem leisen Lachen, mit dem er diese Worte begleitete, lag etwas, was sie verletzte. Sie ging weiter und sprach nicht mehr davon.
Sie verließen jetzt die Allee und kamen hinaus auf den Strand. Hier, dicht am Wasser, stand eine Bank, umgeben von einem halbrunden Schirm. Die Sonne war eben untergegangen. Metallblank lag der Sund unter einem rosabewölkten Himmel. Die sandigen Ufer drüben auf Hveen glühten. Aus dem Tiergarten klang das siedende Rauschen herüber, das sich in den Wäldern oft noch lange hält, wenn sich alle Winde schon längst gelegt haben. Sonst war es still. Ganz deutlich hörte man die Ruderschläge eines Boots, weit, weit draußen.
Um Jakobes Fragen auszuweichen, begann Per, Steine über das Wasser tanzen zu lassen. Darin war er als Junge Meister gewesen. Und es machte ihm Freude, als er sah, daß er es nach so vielen Jahren noch nicht verlernt hatte. Vornübergebeugt, den Kopf in die Hand gestützt, saß Jakobe auf der Bank und sah zu. Sooft sich Per nach einem gelungenen Wurf umdrehte, um ihren Beifall einzuheimsen, lächelte sie und nickte. Doch sonst war ihr Gesicht ernst, der Ausdruck gedankenvoll und abwesend.
»Hast du gesehen? . . . Achtmal!« rief Per, stolz wie ein Junge.
Er war eifrig geworden. Mit großer Sorgfalt wählte er die Steine aus, die er verwenden wollte. Zuletzt zog er sich sogar die Jacke aus. Jenes Gefühl, wieder zu Hause zu sein, das ihm in der Villa verlorengegangen war, fand er hier am offenen Strand wieder. Das weiche Glucksen der Wellen auf dem Ufersand, das Rauschen aus der Tiefe des Waldes hinter ihm, die dumpfen Ruderschläge des unsichtbaren Boots weit draußen auf dem Wasser – in alldem lag etwas, was ihn fröhlich machte. Es war, als klinge ihm daraus das heimatlich-vertraute »Willkommen« entgegen, das er vermißt hatte.
Per hatte mit Ivan verabredet, dieser solle am nächsten Morgen zu ihm ins Hotel kommen. Dann wollten sie gemeinsam zu der bei Max Bernhardt angesetzten Besprechung gehen. Todmüde von den vielen widerstreitenden Eindrücken des Tages und von den vorangegangenen mehrtägigen Reisestrapazen kehrte er frühzeitig von »Skovbakken« zurück.
Er legte sich sofort zu Bett und fiel bald in tiefen Schlaf, aus dem ihn am nächsten Morgen das Bimmeln der Straßenbahn weckte.
Als ihm bewußt wurde, wo er war und welche bedeutungsvollen Dinge ihm bevorstanden, wurde er hellwach und erhob sich sogleich. Trotz des Unbehagens, das er noch immer bei dem Gedanken an diese fremden Geschäftsmänner empfand, die er jetzt zu seinen Vertrauten machen, denen er sozusagen etwas von seinem innersten Wesen preisgeben sollte, erfüllte ihn Ungeduld, endlich anzufangen. Er hoffte, durch seine persönliche Anwesenheit den offensichtlich sehr ängstlichen und nüchternen Geldleuten mehr Mut einflößen und ihnen einen deutlicheren Begriff von der Aufgabe geben zu können, die vor ihnen lag.
Als er seinen Rasierspiegel an den Fensterpfosten hängte, fiel sein Blick auf den Markt unter ihm. Einige Augenblicke blieb er mit dem Rasierpinsel in der Hand stehen und betrachtete die Menschen, die vorübergingen. Es war der sogenannte Halmtorv, ein großer Platz, der in seiner unregelmäßigen Form und seinem vernachlässigten Zustand gleichsam ein Bild der Unfertigkeit war, von der die Stadt noch geprägt wurde. Inmitten einer Reihe hastig aufgeführter »Prachtbauten« in modernem europäischem Kaffeehausstil sah man noch Reste des alten Festungswalls und ein Stückchen Allee mit breitkronigen hundertjährigen Bäumen. Ja, an einer Stelle erhob sich in ländlicher Umgebung eine Windmühle, deren Flügel sich drehten und dabei Schatten auf das Marktpflaster warfen.
Blendender Sonnenschein lag über dem großen Platz, der vom nächtlichen Tau noch naß und schmutzig war. Es war jene geschäftige Morgenstunde, in der die Altstadt mit ihren Läden, Büros, Schulen und Nähstuben die Bevölkerung der Vorstadt ansog. Ein breiter Strom von Menschen ergoß sich von Vesterbro herein über die beiden Fliesenreihen, die den Weg durch den Schmutz bildeten.
Das dänische Volk! . . . Meine Sideniusse! dachte Per und betrachtete lächelnd diese vierschrötigen Gestalten, die – so schien ihm – einander ähnlich waren wie Brüder und Schwestern.
Einen Augenblick verfiel er in Gedanken.
Nach den qualvollen Grübeleien der vielen einsamen Jahre, nach so vielen Vorbereitungen und vergeblichen Versuchen sollte endlich heute, am vierzehnten Mai, der Grundstein für das neue Reich gelegt werden, das er Stück für Stück aus dem Chaos seiner Gedanken geformt hatte, eigentlich seit er ein Junge von elf Jahren war. Und da unten ging das nichtsahnende Volk – der Rohstoff für das Dänemark der Zukunft, der Lehmklumpen, den er wie ein Gott zu seinem Bilde umzuwandeln, dem er seinen befreiten Atem einzublasen träumte.
Er mußte wieder lächeln, als er sich endlich einzuseifen begann.
Es steckte ein bißchen Wahnsinn darin – das sah er jetzt sehr wohl. Doch es schreckte ihn nicht. Es gab ihm im Gegenteil Befriedigung und Sicherheit, sich im Besitz des Körnchens Wahnsinn zu wissen, von dem der kleine weltkluge Maler in Rom gesagt hatte, es sei erforderlich, wenn man unter den Menschen entscheidende Siege erringen wollte.
Als er mit dem Rasieren fertig war, klingelte er nach dem Zimmermädchen, das ihm den Morgenkaffee und die Tageszeitungen brachte. Er hatte Hunger, und das heimatliche Gedeck erhöhte seinen Appetit. Wie genoß er nach so vielen Monaten wieder das Schwarzbrot und die dänische gesalzene Butter! – Mit den Zeitungen wurde er dagegen schnell fertig. Die Innenpolitik des Landes interessierte ihn nicht, und die vielen Artikel über Theater, Literatur und Gemäldeausstellungen übersprang er aus alter Gewohnheit.
Plötzlich schrak er zusammen. Zufällig waren seine Augen auf eine Anzeige gestoßen, unter der er den Namen seiner Schwester Signe sah. »Schüler für Anfangsgründe in Musik gesucht«, las er als Überschrift, und unter dem Namen war ihre Adresse angegeben. Es war irgendwo in Vesterbro in einer der kleinen Seitenstraßen am Anfang des Gammel Kongevej.
Während seines Italienaufenthalts war seine Familie wiederum aus seinem Leben ausgelöscht gewesen. Es war ihm allerdings in Rom mehrmals ebenso wie seinerzeit in Dresack ergangen, daß er mitten in der Nacht mit einem nervösen Ruck erwachte, weil er von zu Hause aus dem Pfarrhaus geträumt hatte. Doch in wachem Zustand hatten sich seine Gedanken in den letzten Monaten nicht mit seiner Familie beschäftigt. Abermals hatte er sich wie in seiner Jugend mit voller Absicht unempfindlich gegen die Erinnerungen an sie gemacht. Er hatte sich damit verteidigt, daß er in dieser Hinsicht keinem Geringeren als Christus selbst nacheifere, der ja gebot, rücksichtslos Vater und Mutter zu verlassen und dem inneren Ruf zu folgen.
Seine Augen hingen noch immer an der kleinen Annonce in Petitschrift. Jetzt entsann er sich ganz deutlich, daß beim Begräbnis des Vaters die Rede davon gewesen war, mit Rücksicht auf die jüngeren Brüder, die Zwillinge, zum April hierher zu ziehen.
Einer von ihnen hatte seinerzeit gerade eine Stellung bei einem Apotheker in Kopenhagen bekommen. Der andere war in einer Buchhandlung beschäftigt. – Die Mutter und der größte Teil der Geschwister befanden sich also hier in Kopenhagen!
Im selben Augenblick klopfte es an seiner Tür, und wie aus der Kanone geschossen, stürmte Ivan herein, unter dem Arm eine riesige Aktenmappe.
Er überbrachte Blumen und Grüße von Jakobe und fügte auf eigene Faust einen Gruß von den Schwiegereltern hinzu, um Gelegenheit zu haben, Per die Annehmlichkeit mitzuteilen, sie seien besonders erfreut gewesen, ihn wiederzusehen. Das war übrigens nicht gelogen. Vor allem war Philip Salomon überrascht gewesen, wie Per sich entwickelt hatte.
»Aber nun zu den Geschäften!« unterbrach ihn Per ein wenig ungeduldig und stand auf. – Er ging noch halb angezogen in Hemdsärmeln und Pantoffeln umher.
»Ja – zu den Geschäften!« wiederholte Ivan matt und setzte sich unruhig auf einen Stuhl, wobei er sich an den Hals faßte, als drückte ihm plötzlich etwas die Kehle zu. Er wußte nicht, auf welche Art und Weise er es Per mitteilen sollte, wie schlecht es um seine Sache im Augenblick bestellt war, wie er ihn auf die bedingungslosen Forderungen vorbereiten konnte, die man ihm auf der bevorstehenden Zusammenkunft stellen würde.
Um Zeit zu gewinnen, vervollständigte er daher den Bericht, den er in seinen Briefen von dem ersten Treffen gegeben hatte, und wiederholte verschiedene Äußerungen, die bei dieser Gelegenheit über das Projekt gefallen waren.
Per flocht von Zeit zu Zeit brummend eine Bemerkung ein. Er stand wieder vor dem Spiegel am Fensterpfosten und band sich seinen Schlips. Alle Augenblicke mußte er an seine Mutter denken. Er konnte sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß sie hier in der Stadt, noch dazu in seiner unmittelbaren Nähe wohnte, vielleicht kaum tausend Schritt von ihm entfernt.
»Darf ich dich etwas fragen?« fing Ivan nach einer kleinen Pause wieder an. Seine Stimme klang ziemlich kläglich.
»Bitte schön!«
»Sage mir . . . würde es . . . könnte es . . . ich meine, wäre es dir ganz unmöglich, dich zu einem Vergleich mit Oberst Bjerregrav zu entschließen?«
Per wandte langsam den Kopf nach ihm um. Im ersten Augenblick wußte er nicht, ob er lachen oder wütend werden sollte. Er wählte das erste. »Hört mal, Leutchen«, entgegnete er und drehte sich wieder nach dem Spiegel um, »mir scheint, der verkalkte Trottel hat euch in die Tasche gesteckt! Falls er euch eingeredet hat, wir könnten auf seinen Beistand nicht verzichten, dann dürft ihr ihn von mir grüßen und ihm bestellen, er kann mir . . . na, genug. Werdet bloß nicht nervös! Wenn das alte Biest kläfft, dann deswegen, weil er sich nicht traut zu beißen!«
»Ich gebe dir – gewissermaßen – natürlich ganz recht«, erwiderte Ivan. »Selbstverständlich ist es – in gewisser Hinsicht – völlig schwachsinnig, seiner Zustimmung eine . . . irgendwelche entscheidende Bedeutung beizumessen. Aber – auf der anderen Seite – wenn nun unsere lieben Mitstreiter nicht von dem Gedanken abzubringen sind, daß gerade er unentbehrlich ist, und wenn er sich selbst bereit erklärt hat – unter bestimmten Bedingungen –, das Unternehmen zu unterstützen, dann . . .«
»Was dann?«
»Tja . . . ich meine . . . dann«, fuhr Ivan fort und wand sich, als habe er Magenkrämpfe, »dann würde es ja ohne Zweifel den Gang der Dinge erheblich erleichtern, falls du dich zu einem solchen . . . solchen . . . Zugeständnis bequemen könntest, wie er es gewünscht hat.«
»Unsinn, mein Freund! Du weißt nicht, wovon du sprichst. Aber jetzt kann ich die oft erwähnten lieben Mitstreiter selbst in die Mangel nehmen. Sie werden wohl nicht dümmer sein, als daß man sie zu der Einsicht zwingen kann, daß ich mich mit keiner Bevormundung abfinden kann noch will.«
»Aber davon ist hier ja gar nicht die Rede, liebster Freund! Nur aus Rücksicht auf das Publikum wollten sie seinen Namen mit dabei haben. Und ich kann dir einen überströmend freundlichen Empfang bei ihm garantieren. Seit von dem Unternehmen etwas in den Zeitungen zu lesen war, ist er umhergegangen wie ein Huhn, das legen will. Ich weiß das vom Onkel.«
»Ja, das ist mir einerlei, Ich will jetzt nichts mehr von der Sache hören.«
»Darf ich nicht noch ein Wort sagen? Wenn ich auch sonst in jeder Hinsicht deine überlegenen Gesichtspunkte anerkenne, so glaube ich doch, verzeih mir, daß du dich hier verrechnest. Besonders was Max Bernhardt angeht.«
Doch als Ivan diesen Namen erwähnte, war Pers Geduld zu Ende. Er drehte sich um und sagte: »Ach, verschone mich bitte mit diesem ewigen Max Bernhardt! Hier habe ich doch wohl zu bestimmen, zum Kuckuck! Mach du dir nur keine Sorgen. Jetzt wollen wir sehen, daß wir endlich wegkommen!«
Als sie eine halbe Stunde später Max Bernhardts elegantes, nach Pariser Geschmack eingerichtetes Empfangszimmer betraten, waren die anderen Herren – mit Ausnahme von Bankier Herløv und Max Bernhardt selbst – bereits versammelt. Sie standen in einer Gruppe an einem der hohen Fenster und empfingen Per mit der seltsam brutalen Herablassung, wie man sie oft bei Börsenleuten antrifft.
Einen Augenblick lang wurde Per aus der Fassung gebracht. Auf diesen Empfang war er nicht vorbereitet. Vielmehr hatte er eine ziemlich aufdringliche Liebenswürdigkeit von diesen Männern befürchtet, die sich durch seine Arbeit zu bereichern hofften. Und nun würdigten sie ihn kaum eines Grußes. Der »ehemalige Landmann« beglotzte ihn mit seinen kleinen weißbewimperten Schweinsaugen ganz ungeniert, ohne die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen, während er grüßte.
Per maß ihn aus diesem Grunde mit einem durchdringenden Blick und sagte, zu Ivan gewandt, der die Vorstellung übernommen hatte: »Ich habe den Namen des Herrn nicht gehört.«
»Herr Nørrehave«, flüsterte Ivan, der von einem Fuß auf den anderen trat. Er war bestürzt über Pers herausfordernde Haltung diesen Männern gegenüber, die das Schicksal seines Werkes entscheiden sollten.
»Soso«, antwortete Per langsam und blickte den dicken Bauern unverwandt an, so daß dieser schließlich einen roten Kopf bekam und ihm mit höhnischem Schnauben den Rücken zukehrte. Aber die Hände hatte er aus den Taschen genommen und unter die breiten Rockschöße geschoben.
Die Sache war nun die: Alle diese Herren waren mehr oder minder voller Bedenken, weil sie ihre Namen für ein Unternehmen gegeben hatten, zu dem sie noch immer kein Vertrauen finden konnten. Nur ihr unerschütterlicher Glaube an Max Bernhardt hatte sie bewogen, sich darauf einzulassen. Die meisten von ihnen waren nicht weit davon entfernt, Per für einen bewußten Betrüger zu halten, der das einzigartige Glück gehabt hatte, Max Bernhardt Sand in die Augen streuen zu können. In Wahrheit spekulierten sie nur darauf, einen passenden Vorwand zu finden, um sich aus der Affäre ziehen zu können, ohne sich mit dem einflußreichen Mann zu verfeinden.
Nun erschien er mit Bankier Herløv aus dem Nebenzimmer. Man nahm an dem großen Tisch mitten im Zimmer Platz, und mit einiger Schwierigkeit kam die Verhandlung in Gang. Zu Anfang drehte sich das Gespräch hauptsächlich um Dinge, die in sehr losem oder gar keinem Zusammenhang mit Pers Projekt standen. Man bezog sich auf etwas, worüber man zuvor gesprochen hatte. Es wurden auch ohne jede Anknüpfung Fragen über ganz andere Geschäfte aufgeworfen, an denen die verschiedenen Herren interessiert waren. Man erzählte sich Börsenneuigkeiten und wiederholte Gerüchte. Ja der junge Herr Sivertsen unterhielt seinen Nachbarn sogar mit einer Anekdote, die er über eine der populärsten Schauspielerinnen der Stadt gehört hatte.
Mehrmals mußte Max Bernhardt mit einem Lineal auf den Tisch klopfen und die Anwesenden bitten, sich soweit wie möglich an die vorliegende Sache zu halten. »Meine Herren, wir befinden uns jetzt in der Hjerting-Bucht! Wir wollen versuchen, unsere vielbesungene Nordsee in Aktien umzusetzen!«
Ivan saß wie auf Kohlen. Er blickte verzweifelt zum Schwager hinüber, der sich in seinen Stuhl zurückgelehnt hatte und ein Gesicht zog, das an ein nahendes Gewitter erinnerte. Noch beantwortete Per allerdings – wenngleich nur kurz und abweisend – die Fragen, die ab und zu an ihn gerichtet wurden. Aber auf die Dauer konnte er seine Verbitterung nicht zurückhalten. Außerdem war er etwas nervös, seit er entdeckt hatte, daß seine Angehörigen hierher nach Kopenhagen übergesiedelt waren. Selbst wenn er nicht ständig daran dachte, so lastete dieses Bewußtsein doch wie ein Alpdruck auf ihm und machte ihn reizbar. Während der ganzen Zeit hatte er nicht übel Lust, einfach aufzustehen und wegzugehen. Als er sah, wie diese Börsenbanditen lässig und überlegen dasaßen und plauderten und sein Werk hin und her drehten, das so viele Jahre lang sein einziger Gedanke gewesen war, ja sein ganzes Leben bedeutet hatte, überfiel ihn ein Gefühl, als werde er persönlich von ihnen beschnüffelt und betastet.
Ohne es zu wissen, war er unterdessen von dem Tischende her, wo Max Bernhardt saß, den Ellenbogen auf der Stuhllehne, den dunklen Kopf in seine schöne weiße Hand gestützt, scharf beobachtet worden. Seine großen sackartigen Lider, umgeben von bläulichen Schatten, waren wie gewöhnlich halb geschlossen, so daß man nicht sehen konnte, wohin sein Blick schweifte. – Aber er ruhte fast unverwandt auf Per.
Pers zusammengepreßter Mund und die geschwollenen Adern an seiner kräftig geschnittenen Stirn fesselten diesen Mann, der zu sagen pflegte, er wolle bei seinem Tod eine Prämie aussetzen für jeden einigermaßen charaktervollen Kopf in der Sammlung von Fleischklößen, aus denen das dänische Volk bestehe. Er war überhaupt überrascht von Pers stattlichem und weltmännischem Aussehen, das gar nicht zu dem Bild paßte, das er von jener Gesellschaft bei Philip Salomon her bewahrt hatte. Damals war ihm Per wie ein recht geschmackloses Mittelding zwischen Seminarist und Zuhälter vorgekommen. Sollte er sich in ihm getäuscht haben? Sollten die dänischen Pfarrhäuser ausnahmsweise einmal einen wirklichen Kerl mit einigermaßen unerschütterlichem Willen hervorgebracht haben?
Pers Beharrlichkeit Oberst Bjerregrav gegenüber sah er plötzlich in einem neuen Licht. Er bekam geradezu Bedenken, daß er sich mit ihm eingelassen hatte. Wie alle tyrannischen Naturen fürchtete er einen Gegner und Nebenbuhler in jedem, der sich nicht sofort und gutwillig unter sein Joch beugte. Je länger er Per betrachtete, um so überzeugter wurde er, daß er ihm gefährlich werden könne und deshalb beizeiten aus dem Wege geräumt werden müsse.
Unterdessen behandelte man die Frage, wie die Presse für die Sache zu gewinnen sei. Bankier Herløv sagte in väterlichem Ton zu Per, er müsse natürlich sofort den einzelnen Redaktionen Besuche abstatten, am besten sowohl in Kopenhagen wie in der Provinz. Er nannte eine Reihe größerer Zeitungen und fügte hinzu, es wäre natürlich das beste, wenn er gleichzeitig die Berechtigung erhielte, diesen Blättern eine Summe für Anzeigen zuzusichern. »Das wird an mehreren Orten gern gesehen«, schloß er mit trockenem Witz.
Per tat, als habe er nichts gehört, und drehte den Kopf zur anderen Seite.
Jetzt aber ergriff Max Bernhardt das Wort. Im Anschluß an die Bemerkung seines Teilhabers kam er auf Oberst Bjerregrav zu sprechen. In unverändert spaßigem Ton sagte er, zu Per gewandt: »Es ist wirklich recht fatal, daß sich der Oberst und Sie, wie wir hören, einmal in den Haaren gelegen haben . . . wahrscheinlich nicht buchstäblich, denn Oberste pflegen in der Regel glatzköpfig zu sein.«
Am Tisch wurde bereitwillig gelacht, und der junge Herr Sivertsen stimmte ein eselartiges Wiehern an.
»Ich finde, wie gesagt, daß das äußerst fatal ist«, fuhr Max Bernhardt fort, »weil Oberst Bjerregrav von unseren bekannten Gutachtern unbedingt derjenige ist, der unserer Sache am besten dienen könnte . . . gar nicht davon zu reden, daß es sehr unangenehm, ja vielleicht gefährlich wäre, ihn als Gegner zu haben. Nun haben wir indessen – wie Sie wissen – die Zusicherung des Obersten erhalten, daß er sich unseres Vorhabens annehmen will, jedoch unter der Bedingung, daß die einleitenden Schritte zu einer Zusammenarbeit von Ihnen ausgehen – was angesichts seines Alters und seiner sozialen Stellung keinesfalls als unbillige Forderung bezeichnet werden kann.«
Die Augen aller waren bei diesen Ausführungen erwartungsvoll auf Per gerichtet, dessen Haltung nach und nach versteckte Ratlosigkeit unter den versammelten Herren erweckt hatte.
Er ließ sie nicht auf die Antwort warten. »Ich protestiere auf das bestimmteste gegen jede Art von Bevormundung«, erklärte er. »Ich habe den Plan ohne fremde Hilfe ausgearbeitet und wünsche auch für die Zukunft keinen mir beigeordneten Mitarbeiter.«
Ivan sank lautlos zusammen wie ein ins Herz getroffener Vogel. Auch die anderen Herren zuckten verblüfft zusammen, so ungewöhnlich war es, daß jemand – geschweige denn ein junger unbekannter Mann – sich offen erkühnte, gegen Max Bernhardts Wünsche aufzutreten.
Dieser war nahe daran, seine lächelnde Maske fallenzulassen. Er fing sie jedoch im Fallen; und um Per Gelegenheit zu geben, seinen Fehltritt wiedergutzumachen, scherzte er: »Herr Sidenius ist heute morgen offensichtlich mit dem verkehrten Fuß zuerst aus dem Bett gestiegen.« – Und zu Per gewandt, fuhr er fort: »Wie können Sie zu einem Ehrenmann wie Oberst Bjerregrav nur so unversöhnlich sein, zu einem betagten Kriegsinvaliden und Vaterlandsverteidiger! Das ist ja ein Mann zum Küssen!«
Als pflichtmäßiger Bewunderer stimmte Herr Sivertsen wieder sein wieherndes Gelächter an, hielt aber plötzlich inne, als er merkte, daß die anderen ernst blieben.
Per verlor hierauf völlig die Beherrschung. Er schlug mit der geballten Faust auf den Tisch, sprang auf und sagte, fahl im Gesicht: »Ich möchte die Herren darauf aufmerksam machen, daß Sie nach mir geschickt haben – nicht umgekehrt. Daher sollte ich meinen, daß es mir – und nicht Ihnen – noch sonst jemandem – zukommt, Bedingungen zu stellen.«
Er setzte sich unter eisigem Schweigen. Alle blickten zu Max Bernhardt hinüber, der wieder, die Hand unter dem Kopf, dasaß und mit halb geschlossenen Augen vor sich hin sah. Sein blutleeres Gesicht zeigte jenen unheimlichen starren Ausdruck, der stets dann erschien, wenn er in Gedanken ein Todesurteil fällte. Unterdessen hatte er ein paar schnelle Blicke mit Bankier Herløv getauscht. Dieser hatte beide Arme auf den Tisch gestützt. Sein dicker roter Schädel war nach vorn gebeugt, als schliefe er. Doch in Wirklichkeit war er hellwach und hatte mit einem schwachen bestätigenden Nicken Pers Schicksal besiegelt.
»Es ist also Ihre Absicht«, nahm nun Max Bernhardt scheinbar gleichgültig das Wort, »Oberst Bjerregrav – und damit uns – das gewünschte Zugeständnis zu verweigern?«
»Ja.«
»Und das ist Ihre endgültige Antwort?«
»Unbedingt!«
»Ja – meine Herren! – Dann sind wir fertig. Unser Vorschlag ist nicht akzeptiert worden. Wir lassen also die Sache fallen. Ich gehe wohl kaum fehl in der Annahme, daß bei den Herren ohnehin keine überwältigende Begeisterung dafür vorlag. Daher unterlasse ich es auch, irgendwelches Bedauern hinsichtlich des Resultats zu äußern.«
Hiermit stand Max Bernhardt auf. Und nacheinander erhoben sich auch die übrigen, die meisten erleichtert, weil sie so unerwartet schnell von diesem in ihren Augen totgeborenen Projekt befreit worden waren. Einige von ihnen waren allerdings dennoch unzufrieden mit diesem plötzlichen Abschluß. Besonders galt dies von Herrn Nørrehave, dem Pers Auftreten sehr imponiert hatte und der ihn nun mit seinen kleinen Schweinsaugen verfolgte, während Per nach einem hastigen und lässigen Gruß zum Zimmer hinausstürmte, gefolgt von Ivan.
Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, gebot Max Bernhardt erneut Schweigen und erklärte: »Es ist wohl überflüssig, hinzuzufügen, daß ich den Freihafengedanken hiermit nicht aufgegeben habe. Ich kann den Herren bereits mitteilen, daß er in allernächster Zukunft auf einer anderen und, wie ich glaube, entschieden vernünftigeren Basis erneut aufgenommen wird. Wir sehen uns also bald wieder, meine Herren!«
Draußen auf »Skovbakken« ging Jakobe an diesem Vormittag in ziemlich gedrückter Stimmung umher. Die Erwartung, mit der sie in den vergangenen Tagen und Nächten die Stunden bis zu Pers Ankunft gezählt hatte, war zu stark gewesen, als daß nicht eine Erschlaffung hätte folgen müssen. Sie fühlte sich ein wenig enttäuscht, ja sogar mehr, als sie es sich selbst eingestehen wollte.
Sie konnte einfach nicht darüber hinwegkommen, daß er sich verändert hatte. Sein neuerdings beherrschtes, fast zugeknöpftes Wesen, über das sich die Eltern so gefreut hatten, befriedigte sie gar nicht. Es erinnerte sie auf beunruhigende Weise an den Ton seiner letzten Briefe aus Italien. Es war vielleicht nur eine besondere Art, die er sich zugelegt hatte, ein gewollt weltmännisches Gehabe; aber es kleidete ihn in ihren Augen nicht. Sie liebte ihn als den ungeschlachten Bären, der er war, als sie ihn kennenlernte, und der er noch gewesen war, als sie vor zwei Monaten im Laugenwald voneinander Abschied nahmen. Sie hatte sich daran gewöhnt, daß ihr das Herz bis an den Hals schlug, wenn sie mit anderen zusammen waren, aus Angst, daß er irgendwie Anstoß und Ärgernis erregen könne. Und sie wünschte gar nicht, von diesem kleinen Martyrium befreit zu werden. Fast war es so, als fürchte sie, ihn weniger zu lieben, wenn er nicht mehr Gegenstand des Verkanntseins war.
Sie war noch mit diesen Gedanken beschäftigt, als Ivan mit der Hiobsbotschaft von der Zusammenkunft bei Max Bernhardt zurückkehrte. Sie befand sich gerade bei der Mutter im Gartensaal, da stürmte er mit der Aktentasche herein.
Im ersten Augenblick mußte sie über die Mitteilung lachen. Das Ereignis erschien ihr so spaßig als nachdrücklicher Protest gegen all das, was sie eben noch gedacht hatte; und Ivans weinerliche Miene und die Bestürzung der Mutter erfüllten sie mit augenblicklicher Befriedigung. Nun erkannte sie ihren groben Gesellen wieder! Es dauerte jedoch nicht lange, da wurde auch sie bedenklich. Ja, als sie sich erst besonnen hatte und besonders als sie aus Ivans Darstellung entnahm, wie unüberlegt und planlos Per gehandelt hatte, da ärgerte sie sich fast noch mehr als die anderen und fühlte sich beschämt. Sie dachte allerdings weit weniger daran, welche Folgen sich für ihn und dadurch auch für sie ergaben, obwohl die Aussicht, hinsichtlich ihrer Zukunft wieder ganz im ungewissen leben zu müssen, gerade bei ihrem jetzigen Zustand keinesfalls ermunternd auf sie wirkte – ihr Zorn galt vor allem der gedankenlosen Gleichgültigkeit, die er durch sein Auftreten für all das gezeigt hatte, was der Vater und Ivan für die Sache getan hatten.
Am Nachmittag meldete Per seine Ankunft durch ein Telegramm an. Sie ging ihm auf dem Bahnhofsweg durch den Wald entgegen, und schon von weitem rief er ihr lächelnd zu: »Du hast die Neuigkeit wohl schon gehört? . . . Ich habe Christus nachgeahmt und die Krämerseelen zum Tempel hinausgetrieben!«
Dieser überspitzte Ausspruch verstimmte Jakobe noch mehr. Hätte er sie jetzt wenigstens in seine Arme geschlossen und sich gegen ihre Vorwürfe gewehrt, indem er ihr den Mund mit Küssen verschloß! Doch Per versuchte keine derartige Annäherung. Schon ehe sie zusammentrafen, hatte er die Mißbilligung in ihren Zügen gelesen.
Er war überzeugt gewesen, daß wenigstens sie ihn verstehen und die Bedeutung seiner Herausforderung an die Börsenjobber anerkennen würde. Sie hatte doch stets voller Unwillen über dergleichen gewissenlose Ausbeuter geredet und bedauert, daß ein Mann wie Max Bernhardt im öffentlichen Bewußtsein als Führer der neuen Zeit eine Rolle spielen durfte.
Aber in diesem Punkt war sie also, wenn es darauf ankam, nicht im mindesten besser als die anderen – dachte er voll Bitterkeit. Der Krämergeist steckte selbst in ihr und lauerte ihrem Stolz auf, um ihn bei der ersten passenden Gelegenheit zu überlisten. Ja – wahrhaftig! Die Juden hatten auch ihre Spukgestalten!
Sie waren an den Waldrand gelangt. Jakobe, die müde geworden war, aber noch nicht nach Hause wollte, setzte sich auf eine Bank, die unter einem der Bäume stand. Obwohl sie ihn durch die Art, wie sie ihr Kleid zu sich heranzog, einlud, neben ihr Platz zu nehmen, wollte er sich nicht setzen. Die Fingerspitzen in die Westentaschen gesteckt, ging er vor ihr auf und ab, ganz und gar damit beschäftigt, ihr die Gründe für seine Handlungsweise zu erklären und sie zu verteidigen.
Jakobe lehnte sich schweigend gegen die Rücklehne der Bank, auf der ihr ausgestreckter Arm lag. Und während sie ihm mit wachsamem Ausdruck auf seinem Hinundhermarsch folgte, verwunderte es sie von neuem, wie sehr er sich verändert hatte. Im forschenden Blick ihrer dunklen Augen sprang ein Funken Mißtrauen auf. Sollte in dieser merkwürdigen Haltung etwas liegen, das er ihr nicht gestanden hatte? Hatten seine gestrige Zurückhaltung und seine heutige Reizbarkeit die gleiche verborgene Ursache?
Sie strich sich mit der Hand über die umwölkte Stirn. Mit Gewalt wollte sie all diese häßlichen Gedanken verjagen. »Am meisten tut es mir fast um Ivan leid«, meinte sie und blickte weg. »In seinem Eifer für deine Sache war er wirklich rührend. Ich glaube nicht, daß er sich mehr angestrengt hätte, wenn es um seine eigene Zukunft gegangen wäre.«
Anfänglich wollte Per hierauf nicht antworten. Nach und nach ärgerte es ihn, ständig von Ivans Aufopferung hören zu müssen. »Ja, es ist natürlich schade. Es tut mir wirklich leid um deinen Bruder . . . aber da läßt sich nun mal nichts machen. Übrigens, Ivan hätte sich selbst sagen können, daß es keinen Zweck hat, mich mit solchen Leuten zusammenzubringen.«
»Du hattest sie doch akzeptiert.«
»Ich kannte sie ja nicht. – Und dann ihre plebejische Großmannssucht! Als erwiesen sie mir eine Gnade, daß sie bereit waren, sich durch meine Arbeit zu bereichern! Wenn das bei uns die Männer der neuen Zeit sind, dann sind wir vom Regen in die Traufe gekommen.«
»Was gedenkst du nun zu tun?« fragte Jakobe nach einem Schweigen.
»Ganz einfach – weitermachen, wie ich angefangen habe. Agitieren, schreiben, die Sturmglocke läuten, bis mich die Leute hören. Es muß doch in diesem Land auch noch andere geben, mit denen man reden kann, als gerade diese Börsenräuber. – Stell dir vor, sie hatten die Frechheit, zu verlangen, ich sollte den Zeitungsredaktionen Besuche abstatten. Was sagst du dazu? Bei diesen Presselümmeln von Dyhrings Kaliber antichambrieren zu sollen!«
»Na ja, Herrgott!«
Er blieb stehen und betrachtete sie mit unverhohlener Überraschung. »Das findet deinen Beifall, wie mir scheint.«
»Wenn es zum Nutzen des Unternehmens wäre – und das wäre es ja wohl –, warum solltest du es dann eigentlich nicht können?«
»Und das meinst du wirklich? Ich muß bekennen, du verblüffst mich heute.«
»Ich meine, wenn man wirklich die Absicht hat, sich Einfluß zu verschaffen, weil man ihn aus irgendeinem Grund benötigt, dann dürfte es die Klugheit gebieten, die Macht derjenigen anzuerkennen, die sie im Augenblick besitzen, ohne sich zu sehr in Grübeleien zu verlieren, wie sie eigentlich dazu gekommen sind.«
»Aha, du mußt schon entschuldigen, aber da habe ich eine andere Auffassung von dem, was man sich selbst schuldig ist. Ich sehe überhaupt nicht ein, wieso es weniger beschämend für einen Menschen ist, sich vor dem Goldenen Kalb zu demütigen als vor dem Kruzifix. Was ich heute erlebt habe, hat mich mit so viel Abscheu erfüllt gegen diesen ganzen Geschäftsschwindel, daß ich es bestimmt nicht so schnell verwinden kann.«
Jakobe antwortete darauf nicht. Es war ihr peinlich, daß sich Per dauernd bemühte, sich in dieser Sache zu rechtfertigen. Sie wünschte, er würde aufhören mit seinen Erklärungen, die in ihren Augen nur Ausflüchte waren, ein krampfhafter Versuch, sich selbst zu belügen.
Per redete immer weiter. Jakobes ständige uneingeschränkte Mißbilligung seiner Handlungsweise, ihr völliger Mangel an Verständnis für das, was ihn zu diesem Aufruhr getrieben hatte, endlich seine mangelhafte Fähigkeit, sich selbst und ihr den inneren Antrieb zu erklären, aus dem er gehandelt hatte – all das erregte ihn und machte ihn streitsüchtig.
»Es belustigt mich wirklich, wie du Max Bernhardt und seine Kumpane bewunderst. Das ist neu. Das ist doch wohl nicht extra für diese Gelegenheit erfunden worden?«
»Das letzte habe ich überhört, Per«, erwiderte Jakobe mit erkämpfter Ruhe, aber sehr ernst. »Übrigens wüßte ich nicht, daß ich irgendwelche Bewunderung gezeigt hätte – auch nicht für Max Bernhardt, wenn ich auch glaube, daß er ein gut Teil besser ist als sein Ruf. Zufällig weiß ich, daß er in aller Stille sehr viel Gutes tut und mehrere arme jüdische Familien hier in der Stadt unterstützt . . .«
»Wahrscheinlich als Buße für all das Unglück, das er über Hunderte von Familien im ganzen Land bringt. Er soll ja schon eine recht ansehnliche Anzahl ruinierter Familien auf dem Gewissen haben.«
»Nun ja – er ist eben eine Kämpfernatur. ›Krieg ist meine Devise‹, soll er einmal erklärt haben. Er kennt keine Schonung und ist unversöhnlich, zuzeiten bestimmt auch grausam. Daher hatte ich ja auch eine Zeitlang Bedenken wegen seines wachsenden Einflusses – darin hast du völlig recht. Aber vielleicht habe ich ihn nicht richtig verstanden und insgesamt die Bedeutung dieser Art Leute unterschätzt. Vielleicht brauchen wir gerade solchen Mann hierzulande, wo man anscheinend vergißt, wie ein wirklicher Willensmensch aussieht.«
»Also doch ein Ideal, ein Lehrmeister für uns alle!«
»Kann sein.«
»Mit wieviel Selbstmorden kann er sich denn bis jetzt brüsten?«
»Ach, das ist dummes Gerede.«
»Aber du mußt doch zugeben . . .«
»Ja, na und? Mir scheint, gerade das Geschrei, das jedesmal erhoben wird, wenn er seine Macht benutzt, um einen Gegner unschädlich zu machen oder einen seiner Helfershelfer nach vorn zu bringen, beweist doch deutlicher als alles andere, wie schwer man hierzulande begreift, daß man auch die Mittel wollen muß, wenn man das Ziel will, und daß man nicht ständig darüber rechten soll – weder mit sich noch mit anderen.«
Per betrachtete sie einen Augenblick schweigend. Mit ihren Worten hatte sie ihn auf ganz andere Weise getroffen, als sie es beabsichtigt hatte oder ahnen konnte.
»Du bist ziemlich kühn«, entgegnete er, und es brannten ihm ein paar heftige Worte auf der Zunge. Er hatte Lust, ihr zu sagen, daß sie beide wahrscheinlich das letztemal miteinander gesprochen hätten, falls er die Lebensregel im Ernst befolgte, für die sie hier eintrat. Er begnügte sich jedoch damit, ihr zu versichern, daß er hinreichend Gelegenheit gehabt habe, Ziel und Mittel gegeneinander abzuwägen, und zwar bei wichtigeren Entscheidungen als dieser. Übrigens, er habe nichts Wesentliches gegen den Grundsatz selbst einzuwenden; es wundere ihn nur, daß sie sich dazu versteige, einen Schurken wie Max Bernhardt zu verteidigen, dessen Ziel von niedrigster Art sei: eitle Herrschsucht oder vielleicht schlecht und recht Geldgier, und der sich als ein ungewöhnlich bösartiger kleiner . . . Er wollte »Jude« sagen, besann sich jedoch und fügte »Börsendackel gezeigt habe« hinzu.
»Aber ich räume ein«, schloß er mit einem Achselzucken und wandte sich ab, »du hast die angeborenen Voraussetzungen dafür, einen Charakter wie den seinen zu würdigen, was mir persönlich abgeht.«
Jakobe warf ihm einen blitzschnellen Blick zu, dann sah sie weg und schwieg.
»Aber«, fuhr er fort, »ich finde, die ganze Sache ist all den Lärm nicht wert. Es kommt mir vor, als ob du sie viel zu wichtig nimmst. Du hast dir überhaupt eine etwas abgeschmackte Vorliebe für den Konthurn zugelegt.«
»Den Kothurn, Per . . . den Kothurn!«
»Ach verschone mich bitte mit deiner Wichtigtuerei!«
»Aber du mußt doch wenigstens den Sprachgebrauch respektieren. Es geht nicht, daß du deine Reformwut auch auf die Wissenschaft ausdehnst.«
So ging es noch eine Weile weiter. Ein bitteres, verletzendes Wort jagte das andere – bis Jakobe plötzlich die Hand über die Augen legte und sich zwang, ruhig zu sein. Nein, nein, sie wollte ihm nicht mißtrauen. Sie wollte vor dem Eulengeschrei der Eifersucht ihre Ohren verstopfen. Sie wollte an keine Gefahr glauben.
Hastig stand sie auf, nahm Pers Kopf zwischen beide Hände und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. »Per«, sagte sie, »meinst du nicht, daß wir uns alle beide ein wenig schämen sollten? – Jetzt küß mich, und dann vergessen wir alle häßlichen Worte, die wir gesagt haben. Meinetwegen kannst du mir die Schuld geben, wenn du nur wieder gut sein wolltest. Und dann versprechen wir uns, daß so etwas nie wieder zwischen uns vorkommt. Nicht wahr? Das versprechen wir uns!«
Per war schnell besänftigt. In diesen Tagen widerstand er schwer einem liebevollen Wort.
»Du hast recht . . . es war dumm. Aber ich war so überzeugt, daß zumindest du meine Handlungsweise billigen würdest. Und ich spüre, ich werde von nun an mehr als je zuvor das Bedürfnis haben, Verständnis und Halt bei dir zu finden.«
»Daran soll es dir auch nie fehlen, Per!« sagte sie.
Und sie besiegelten die Versöhnung mit einem langen Kuß.
Trotzdem herrschte an diesem Tag auf »Skovbakken« keine angenehme Stimmung beim Mittagessen. Philip Salomon, der schon in der Stadt gehört hatte, was geschehen war, sprach kein Wort. Es hätte überhaupt niemand gesprochen, wenn nicht die kleinen Kinder dagewesen wären, die mit ihrem unbefangenen Geplauder die Spannung zwischen den anderen ein wenig gelockert hätten.
Per saß wie in einer Rüstung, seine Miene war kampfbereit. Nach der Art und Weise, wie Ivan und Jakobe die Sache aufgefaßt hatten, war er darauf vorbereitet, daß die Schwiegereltern eine Erklärung von ihm verlangten, ja vielleicht sogar eine Art Recht ihm gegenüber geltend machen würden, weil er zur Zeit von ihrer Unterstützung lebte.
Bei dieser Gelegenheit sollte er indessen keine Möglichkeit zu einer Selbstverteidigung haben. Philip Salomon, der ein für allemal zu Per und seinen Zukunftsplänen Stellung genommen hatte, überwand glücklich die Versuchung, die er unleugbar verspürte, ihm eine Lektion zu erteilen über das, was man in der Geschäftswelt als erlaubt ansah. Auch die Schwiegermutter deutete mit keinem Wort auf das Vorgefallene hin.
Nach Tisch begaben sich Jakobe und Per in den Garten hinunter. Sie gingen Arm in Arm, aber trotz der Versöhnung im Wald wollte die alte Vertrautheit nicht wieder zurückkehren. Aus Furcht, unbeabsichtigt etwas zu sagen, was den Streit von vorhin wieder entfachen könnte, verbargen sie ihre Gedanken voreinander und unterhielten sich über gleichgültige Dinge. Daher konnte sich Jakobe auch jetzt nicht entschließen, mit ihm über die Bekanntgabe ihrer Verlobung zu sprechen, geschweige denn, ihm ihre Vermutung anzuvertrauen. Und Per konnte sich nicht überwinden, ihr von der Übersiedelung seiner Familie nach Kopenhagen zu erzählen, die ihn trotz der großen Ereignisse des Vormittags unausgesetzt beschäftigte.
Außerdem war er voll Unruhe, daß Nanny hier draußen auftauchen könne. Bei Tisch war die Rede davon gewesen, daß sie wegen der festlichen Gesellschaft am nächsten Tag schon abends herkommen und hier übernachten wolle. Die ganze Zeit über lauschte er daher zur Villa hinüber, während er zugleich achtgeben mußte, daß Jakobe seine Zerstreutheit nicht bemerkte.
Schließlich setzten sie sich auf die Bank am Strand, wo sie Schutz fanden vor dem starken Wind. Ungefähr zur gleichen Stunde hatten sie sich auch am vorangegangenen Abend hier aufgehalten. Doch heute lag über der Natur eine ganz andere Stimmung. Bis weit hinauf nach Norden waren die beiden Küstenlinien scharf abgezeichnet. Die Insel Hveen trat so deutlich hervor, daß man erkennen konnte, wie sich die Wellen an der sonnenhellen Uferböschung brachen. Der Wind kam von Westen. Entlang der seeländischen Küste war die Meeresfläche fast ruhig, ja an einzelnen Stellen, wo das Land gleich hinter dem Strand anstieg, lag sie spiegelblank da, so daß sich die Badebrücken und Villengärten darin abzeichneten. Draußen auf dem Sund hingegen türmten sich die Wellen schwarzblau mit weißen Schaumköpfen. Ein paar Boote schaukelten da mit halb gerefften Segeln, während ein grüngestrichener Frachtdampfer langsam durch das Fahrwasser glitt und die Boote mit seiner heiseren Dampfpfeife warnte. Der schwarze Kohlenrauch, der über ihm hängenblieb wie eine Wolke, fing die Strahlen der sinkenden Sonne auf und zog einen langen dunklen Schatten über das Wasser.
Bei diesem klaren Meeresbild mußte Per unwillkürlich an Fritjof denken. In Gedanken versetzte er sich nach Berlin zurück, zu den lustigen Abenden mit dem tollen Maler und seinen verrückten Kunstbrüdern in der gemütlichen Stammkneipe in der Leipziger Straße.
Eigentlich wußte er selbst nicht, was ihn bei diesen Menschen so angezogen hatte, daß er in einem Augenblick wie dem jetzigen förmlich Sehnsucht nach ihrer Gesellschaft bekam. Er hielt Fritjof in gewisser Weise für einen Narren. Ihm fehlte auch völlig das Verständnis für seine große und ergreifende Kunst. Es hatte ihm deshalb keinesfalls geschmeichelt, als seine Freunde dort eine bestimmte Ähnlichkeit zwischen ihnen zu finden meinten, ja ihn sogar für einen nahen Verwandten Fritjofs gehalten hatten.
Unklar fühlte er, daß es eigentlich Fritjofs berüchtigte »Haltlosigkeit« war, die ihn anzog. In der launenhaften Willkür seiner Ansichten und Handlungen lag etwas, was eine verführerische Wirkung auf ihn hatte und im Gegensatz stand zu der starren Einseitigkeit und unbeeinflußbaren Enge der Lebensauffassung Jakobes und der ganzen Salomonschen Familie. Während man auf »Skovbakken« Gedanken und Urteile bereits im voraus in einer festen abgeklärten Form bereit hatte, die in gewisser Weise den hellen stilvollen, für Per jedoch ungemütlich kühlen Zimmern des Hauses entsprachen, verfocht Fritjof jeden Tag eine neue Anschauung über dieselbe Sache, und stets mit tiefer Überzeugung und unverminderter Leidenschaft. Während sich die Familie Salomon trotz einer gewissen Vorliebe für Extravaganzen stets auf derselben Seite des Lebens bewegte, nämlich auf der, die sich vernunftmäßig erfassen ließ, hatte Fritjofs unsteter Geist offenbar bereits mehrfach das Dasein umsegelt und auf der Tag- wie auf der Nachtseite Schiffbruch erlitten, um schließlich das Glück in der Ruhelosigkeit selbst zu finden.
Per fing zuletzt an, über ihn zu reden, und Jakobe erwähnte darauf, sie habe ihn vor ein paar Tagen in der Østergade gesehen.
»Dann ist er also hier in der Stadt!« sagte Per lebhaft interessiert. »Letzten Herbst sprach er noch davon, er wolle nach Spanien, um sich dort niederzulassen. Er hasse Dänemark – ›das neue Judenland‹, wie er es nannte.«
»Sicherlich hat er unterdessen in alle Länder der Erde reisen und sich in allen Städten der Welt niederlassen wollen. – Er kommt aber trotzdem nur selten weiter als eine Tagereise von Kopenhagen. Du weißt vielleicht nicht einmal, daß er zur Zeit wieder begeisterter Fortschrittsanhänger ist, ja revolutionäre Reden hält.«
»Wirklich?«
»Seit die Deutschen soviel Staat mit ihm gemacht haben, ist er hier wieder in Mode gekommen. Mit seinem Antisemitismus ist es auch gänzlich vorbei. Markus Levi hat nämlich vor kurzem eine ganze Reihe Bilder für seine Sammlung gekauft, ich glaube, für zwanzigtausend Kronen. Seitdem soll Fritjof die jüdische Unternehmungslust und die Segnungen der modernen Großindustrie gar nicht genug loben können.«
Per lachte laut. »Ja, das sieht ihm ähnlich! – Ich traf ihn im Herbst in Berlin, und ich habe ihn trotz seiner bravourösen Reden schätzengelernt. Doch es ist ziemlich schwierig, herauszufinden, wo der eigentliche Mensch bei ihm anfängt und der Komödiant, der Schwätzer, der Spekulant und Angeber aufhört. Es ist, als vereinigten sich in ihm ein Dutzend Personen, die jede für sich eine Art Eigenleben führt. Aber das trifft vielleicht mehr oder weniger auf alle Menschen zu . . . jedenfalls auf uns Nordländer.«
Jakobe wollte hierauf nicht antworten. Schon als sich Per noch in Berlin aufhielt, war sie recht unangenehm berührt gewesen von seiner offenkundigen Schwärmerei für Fritjof, der in ihren Augen ein Narr und Lump war, ein tragischer Falstaff, dem die verschwenderische Natur in menschenverhöhnender Laune künstlerisches Genie eingeblasen hatte. Sie erkannte seine überragenden Fähigkeiten und seine einzigartige Virtuosität an, aber sie wollte Talent nicht als Entschuldigung gelten lassen für Mangel an Persönlichkeit. Sie vertrat im Gegenteil die Meinung, daß Begabungen verpflichten, und sie sah in der Nachsicht, mit der man allgemein über Fritjofs geringen menschlichen Wert sprach, eine Verhöhnung wirklicher Größe und eine Erniedrigung der Kunst.
Ebenso wie am Vortag verabschiedete sich Per zeitig. Er fühlte sich müde, und daher versuchte Jakobe nicht, ihn zurückzuhalten. Nanny hatte sich bisher nicht blicken lassen. Zwar konnte sie noch mit dem letzten Zug kommen; doch gerade deswegen brach Per auf.
Spätabends kam er in der Stadt an. Der Halmtorv lag noch in schwachem Dämmerlicht, in den Straßen war es bereits dunkel. An der einen Seite des Marktplatzes war in einem der neuerrichteten, unpassend wirkenden Prachtgebäude eine lange Reihe von Caféfenstern hell erleuchtet. An der anderen hob sich die alte Wallwindmühle gespenstisch gegen den fahlen Himmel ab. Vom Markt aus gesehen glich sie einer großen dicken Hexe, die mit ausgestreckten Armen Verwünschungen auf die moderne Stadt herabschleuderte.
Per kehrte nicht sofort nach Hause zurück. So müde er war, folgte er einer Eingebung, die den ganzen Tag über bei all seinen wechselnden Gedanken und Stimmungen auf diesen Augenblick gewartet hatte, um ihn zu überrumpeln. Langsam, halb widerstrebend, schritt er nach Vesterbro hinaus, das sich mit seinem gewöhnlichen lauten Abendverkehr zwischen den Laternenreihen erstreckte.
An der Bagerstræde bog er von der Stadt ab und in die stille Gegend am Gammel Kongevej ein. Bald stand er an der Ecke der Straße, in der seine Mutter wohnte. Um nicht erkannt zu werden, falls er jemanden von der Familie treffen sollte, hatte er den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut in die Stirn gedrückt. Vorläufig war allerdings kein Mensch zu sehen. Zuerst ging er auf der Straßenseite, an der das Haus liegen mußte. Als er es gefunden hatte, überquerte er den Damm und stellte sich auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig in den Schatten.
Hier stand er nun und schaute empor zu dem unauffälligen, dürftigen vierstöckigen Gebäude mit den winzigen Drei- bis Vierzimmerwohnungen. Seine Augen hatten sofort die Fenster im zweiten Stock links von der Haustür gesucht; doch hier waren die Scheiben der Fenster weiß gekalkt. Er mußte sich demnach geirrt haben. Diese Wohnung war offensichtlich unbewohnt oder wurde renoviert. Da fiel ihm ein, daß nach der Anordnung der Treppen im Haus die Wohnung »links« – wie es in der Annonce der Schwester geheißen hatte – natürlich rechts vom Eingang liegen mußte, wenn man das Haus von der Straße her betrachtete.
Dorthin richtete er jetzt seine Blicke und gewahrte hinter einem der Fenster einen schwachen Lichtschein. Im Nebenzimmer war das Rouleau nicht heruntergelassen, und an einer Stelle der Decke konnte er einen schwachen Lichtstreifen sehen, der offensichtlich dadurch entstand, daß die Tür zum erleuchteten Nebenzimmer nur angelehnt war. Doch vergeblich bemühte er sich, drinnen etwas zu erkennen. Er konnte es einfach nicht glauben, daß seine Mutter wirklich in diesem wildfremden Haus wohnte.
Da erblickte er einen kleinen Gegenstand, der zwischen den Blumentöpfen auf dem Fensterbrett stand – und im selben Augenblick strömte ihm das Blut gewaltsam zum Herzen. Er hatte die kleine rote Holzschale seiner Mutter wiedererkannt, in der Garnknäule aufbewahrt wurden. Er erinnerte sich an sie aus seiner frühesten Kindheit. Damals war sie ihm wie ein tiefer Brunnen vorgekommen.
Einen Augenblick später glitt ein Schatten hinter dem Rouleau vorbei.
Vielleicht war das Mutter, dachte er, und ihn fröstelte plötzlich in der Nachtkühle.
Nach einigen Minuten erschien der Schatten noch einmal, aber so flüchtig und undeutlich, daß er nicht unterscheiden konnte, ob es der Schatten eines Mannes oder einer Frau war. Im selben Augenblick hörte man die lauten Stimmen einer Gesellschaft, die sich vom unteren Ende der Straße näherte. Da entfernte sich Per.
Langsam ging er zurück zur Stadt, auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Als er sich dem Hotel näherte, empfand er trotz seiner bleiernen Müdigkeit so viel Unlust, ja beinahe Angst, in das einsame fremde Zimmer hinaufzugehen, daß er in der Haustür kehrtmachte und zu dem Café auf der anderen Seite des Marktplatzes schlenderte. Dort setzte er sich bei einem Glas Bier in eine Ecke und versuchte sich ein wenig zu besinnen.
Erst hier, als er sich endgültig Rechenschaft ablegte über die Ereignisse des Tages und sich die Frage nach der nächsten Zukunft nicht länger mit einer Redensart abfertigen ließ, wurde ihm völlig bewußt, welch große Schwierigkeiten er sich bereitet hatte. Nun stand er wieder auf nacktem Boden, spürte um sich wieder einen riesigen leeren drohenden Raum und erblickte nirgends eine Zuflucht. Ja, doch – eine gab es: Oberst Bjerregrav. Ja, und notfalls war da noch eine zweite: die verrückte Baronin.
Das heißt mit anderen Worten, er mußte wie Dyhring und so viele andere seine Selbständigkeit opfern, sein eigenes Ich kastrieren und sich in einen Eunuchen der Öffentlichkeit verwandeln, oder er mußte von Max Bernhardt lernen, sich mit Umsicht ein Opfer wählen und es kaltblütig ausplündern. Jakobe hatte auch in dieser Beziehung recht gehabt. Es gab wohl keinen anderen Ausweg. »Man muß auch die Mittel wollen, wenn man das Ziel will.«
Nein – notgedrungen mußte er sich eingestehen: In ihm steckte nicht das Zeug zu einem Welteroberer, wie er geglaubt hatte. Er konnte sich nicht überwinden, das zu zahlen, was das große Glück kostete. Oder besser: Es erging ihm mit dem Ruhm und dem Machtrausch, wie es ihm zuvor mit anderen laut besungenen Verlockungen des Lebens ergangen war, sie verloren, aus der Nähe besehen, ihren Reiz für ihn. Er fand den Preis, der dafür gefordert wurde, zu lächerlich hoch.
Er mußte in diesem Zusammenhang an jemand denken . . . an den verstorbenen Neergaard. Was hatte er doch während jener Nacht in seiner prophetischen Rede gesagt?
Im selben Augenblick wurde die Glastür, die zum Marktplatz führte, aufgerissen. Und herein trat eine zwei Meter große graubärtige Gestalt in hellem Mantel, einen Stock wie ein Schlachtschwert über die Schulter gelegt – Fritjof!
In seiner freudigen Überraschung hätte Per fast seinen Namen laut gerufen. Als er jedoch aufstehen und sich zu erkennen geben wollte, bekam er plötzlich Bedenken, und er blieb sitzen. Er nahm sogar eine Zeitung und verbarg sich dahinter, während Fritjof an ihm vorüberschritt und ins Nebenzimmer ging.
Eine gewisse Scham veranlaßte ihn, sich zu verbergen. Ihm wurde gänzlich klar, daß er es nicht ertragen würde, wenn er hier in der Stadt blieb, wo er überall solchen peinlichen Begegnungen ausgesetzt war. Mit Schrecken dachte er an die große Festlichkeit, die am nächsten Tag auf »Skovbakken« stattfinden sollte und zu der fast der ganze Bekanntenkreis der Familie Salomon geladen war. Das tägliche Zusammensein mit den Schwiegereltern war unter den gegebenen Umständen auch nicht gerade ermunternd für ihn. Und in Wirklichkeit hatte er hier ja gar nichts mehr zu tun. Er war entschlossen, die Agitation wieder aufzunehmen, mochte sie nun in einer neuen Streitschrift oder in einer Reihe von Zeitungsartikeln bestehen. Aber das konnte er genausogut, ja vielleicht am allerbesten vom Ausland aus tun. Und dann war da noch die Geschichte mit Nanny . . . und das andere . . . das Unvorhergesehene, daß die Mutter gerade jetzt in die Stadt gekommen war.
Ja, er mußte wieder wegreisen. Am liebsten so bald wie möglich. Schon am nächsten Tag wollte er mit Jakobe darüber reden. Im übrigen war es ohnehin seine Absicht gewesen, sich hier nur vorübergehend aufzuhalten.
Er trank sein Glas aus und ging.
Als er aus dem lauten hell erleuchteten Café auf den großen öden Platz trat, fiel sein Blick auf die alte Wallmühle. Ohne es zu wissen, blieb er einen Augenblick mitten auf dem Markt stehen, unwillkürlich gefesselt von der melancholischen Stimmung, die über diesem gespenstischen Überbleibsel der Vergangenheit ruhte.
Dann ging er langsam in sein Hotel.