Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Fünfzehntes Kapitel

Mitte April war Per nach Rom gekommen. Er hatte zuletzt den Bitten der Baronin nachgegeben, sie und die Schwester zu begleiten . . . oder vielmehr der Anziehung, die das Zusammensein mit der letzteren in steigendem Maße auf ihn ausübte.

Er war sich selbst nicht klar über die Art des Wohlgefallens, das er an der Gesellschaft dieser mehr als fünfzigjährigen, grauhaarigen, korpulenten Dame empfand. Von einer erotischen Anziehungskraft konnte nicht die Rede sein. Er schrieb deswegen auch ganz offen an Jakobe über den Eindruck, den ihre Persönlichkeit und ihr Charakter auf ihn machten, ohne zu bemerken, daß Jakobe ihrerseits diese Bekanntschaft nie erwähnte.

Es war das Mütterliche im Wesen der Hofjägermeisterin, das Per anzog. Es war ihre besorgte Teilnahme auch für sein seelisches Wohl und Wehe, das Gefühle befriedigte, deren er sich selbst nicht einmal bewußt war. Dazu kam noch der eigentümliche Gegensatz zwischen ihrer sicherlich grundaufrichtigen Frömmigkeit und der gewählten, ja verfeinerten Eleganz ihrer Kleidung und ihrer Lebensweise, zwischen den feierlichen Bibelworten, die sie in der Unterhaltung mit ihm gebrauchte, und einem gewissen, gleichsam verborgenen, ganz irdischen Lächeln, das er zuweilen um ihren Mund oder tief in ihren noch glänzenden dunkelblauen Augen spielen sah. In ihrer Frömmigkeit wie in ihrer Weltlichkeit war sie ihm ein aufregendes Rätsel.

Unter seinen Landsleuten in Rom sprach man viel über die beiden adligen Damen und ihren jugendlichen Reisebegleiter. Besonders erregte Pers Verhältnis zur Baronin ihre Neugier. Die Gefühle dieser Dame für ihn hatten sich während der Reise zu einer stillen schwärmerischen Anbetung gesteigert. Sooft man ihr etwas mitteilte, rief sie mit tränenerfülltem Blick aus: »Oh, das sollten Sie wirklich Herrn Sidenius erzählen!« oder: »Wie wird es unseren lieben Freund amüsieren, das zu hören!« Gleich nach ihrer Ankunft in Rom beauftragte sie einen Bildhauer damit, Pers Büste zu modellieren.

Per merkte sehr gut, daß die alte Dame ein völlig willenloses Wesen in seinen Händen geworden war, Ausführlich hatte er ihr von seinen Zukunftsplänen berichten müssen, und sie hatte ihm sofort ihre Unterstützung angeboten. Als sie von der Interessengemeinschaft zur Verwirklichung seiner Ideen hörte, die gerade im Entstehen war, zeigte sie sich so begeistert, daß sie sogar davon sprach, eines ihrer Güter zu verkaufen, um das Unternehmen zu sichern.

Per gedachte jedoch nicht, irgendwelchen persönlichen Vorteil aus seiner Macht über dieses arme kranke Wesen zu ziehen, besonders nachdem ihm klargeworden war, daß sie ihn für den Sohn ihres verstorbenen Bruders hielt – ein Irrtum, an dem er nicht ganz schuldlos war.

Außerdem nahm ihn mit jedem Tag das neue und fremdartige Leben mehr gefangen, das er um sich herum sah. Als sonnenfroher Nordländer genoß er den klaren Himmel und die laue milde Luft. Nie zuvor hatte er sich so gesund und stark an Leib und Seele gefühlt wie jetzt! Sein Gesicht mit dem kleinen dunklen Spitzbart hatte in wenigen Tagen einen fast bronzefarbenen Ton angenommen, gegen den sich seine Augen doppelt blau abhoben. Wenn er nachmittags in seinem neuen hellgrauen Sommeranzug mit der Baronin und der Hofjägermeisterin auf dem Monte Pincio spazierenging, geschah es mehr als einmal, daß eine schwarzäugige Schönheit ihm einen brennenden Blick über ihren Fächerrand zusandte.

Er wohnte nicht im selben Hotel wie die beiden Schwestern. Doch er fand sich täglich bei ihnen ein, um sie auf Spaziergängen zu begleiten oder mit ihnen den Skandinavischen Klub aufzusuchen, wo sie jeden Nachmittag die Zeitungen lasen. Er war sehr empfänglich für den Hauch angeborener Vornehmheit, der ihn in der Gesellschaft der beiden adligen Damen umgab. Er genoß es, daß ihm die Hotelbediensteten und dergleichen Leute überall sehr vornehme Titel verliehen. Auf seine eigenen Landsleute wirkte seine falsche Baronswürde auf die Dauer jedoch nicht überzeugend. Obwohl das Zusammensein mit der Hofjägermeisterin sein Wesen noch mehr abgeschliffen hatte, verriet sich der dänische Jeppe unweigerlich unter der Maske des Weltmanns. War man anfangs noch ein wenig im Zweifel gewesen, wofür man ihn halten sollte, so erfuhr man bald durch Pers Offenheit mehr von seinen Lebenszielen und Plänen, als manch einer mit anzuhören vermochte.

Neben dem Leben auf der Straße zog Per vor allem das älteste Rom an, in dieser Stadt der Städte, der »Ewigen« Stadt, dem Mausoleum der Weltseele. Doch auch hier war es weit weniger die Schönheit der Architektur, die ihn beschäftigte, als die Masse der Mauern, die Festigkeit des Mörtels, die ganze titanische Kraft, die sich in diesen zweitausend Jahre alten Riesenwerken entfaltet hatte. Stundenlang konnte er in dem öden Innenraum des Kolosseums sitzen und sich damit beschäftigen, es in Gedanken von Grund auf wiederaufzubauen, es mit einem Geflecht von Gerüsten zu umgeben auf einem gewaltigen Arbeitsplatz, der mit zyklopischen Steinblöcken, Ochsenkarren und Hunderten schweißtriefender Sklaven angefüllt war, und es Stück für Stück wachsen zu lassen wie das Fundament zu einem Turm von Babel.

Diese Phantasien führten ihn aufs neue zurück zu den Büchern. Die antiken Mauerkolosse weckten in ihm das Bedürfnis, mehr vom Römervolk und seinem Schicksal zu wissen als das wenige, dessen er sich höchst unklar aus seiner Schulzeit erinnerte. Aus der Bibliothek des Skandinavischen Klubs lieh er sich Mommsens »Römische Geschichte«. Und mit der eigensinnigen Energie, die er stoßweise entwickelte, arbeitete er sich in kurzer Zeit durch das bändestarke Werk.

Zum ersten Mal in seinem Leben erfaßte ihn eine historische Stimmung. Bisher war sein Blick stets erwartungsvoll vorwärts gerichtet gewesen, auf die ersehnte große Zeit. Die Vergangenheit hatte ihn noch nie beschäftigt. Nun war es ihm förmlich ein Genuß, zwischen den Ruinen des Palatinischen Hügels zu sitzen und, den Rücken gegen einen sonnenwarmen Säulenstumpf gelehnt, von den Männern zu lesen, die von dieser Stätte aus die Welt beherrscht hatten. Diese Studien führten ihn auch erstmalig, ohne mit dem verhaßten Christentum in Berührung zu kommen, in eine Kultur ein, die völlig unbeeinflußt war von jener geistigen Macht, die für ihn der Fluch der Neuzeit war. In den Heldengestalten der römischen Republik fand er die vorbildlichen Charaktere, die er bislang vermißt hatte. In diesem praktisch veranlagten, kühn Handel treibenden, klugen und unsentimentalen Heidenvolk sah er den Menschen in seiner unverzerrten Ursprünglichkeit, das Titanengeschlecht, von dem er unklar geträumt hatte und mit dem er sich verwandt fühlte.

In einem Brief an Jakobe schrieb er begeistert: »Nie habe ich so stark wie hier empfunden, welches Verbrechen an der Menschheit das Christentum gewesen ist. Nie habe ich mit soviel Scham begriffen, wie hoch wir noch emporklimmen müssen, um dem Geschlecht bis an die Schultern zu reichen, dessen Menschengröße zu verdächtigen jener blasse Kastrat aus Nazareth sich erfrecht hat. Kennst Du die Geschichte von König Buckelrücken? Weil es das Schicksal so gewollt hatte, daß die Majestät mit krummen Beinen und schiefem Rücken geboren wurde, erließ man eine Verordnung, die alle Begriffe im Lande auf den Kopf stellte. Was klein war, wurde groß genannt, was krumm war, gerade. Einen ranken Rücken hieß man Buckel, einen Riesen Zwerg. – In diesem verrückten Land leben wir bis auf den heutigen Tag!«

Nach zehntägigem Aufenthalt bekam die Hofjägermeisterin ein Telegramm von ihrem Gatten, der krank geworden war und ihre Rückkehr wünschte. Da brachen denn die Schwestern auf, obwohl die Baronin etwas jammerte, weil sie Rom verließ, ohne eine Audienz beim Papst gehabt zu haben, wovon sie die ganze Zeit über geredet hatte.

Der Abschied von Per war von seiten beider Damen sehr herzlich. Die Hofjägermeisterin nahm ihm das Versprechen ab, sie und ihren Mann auf Kærsholm zu besuchen, wo auch die Schwester vorläufig wohnen wollte. Noch vom Abteilfenster aus rief ihm die Baronin mit tränenfeuchten Augen und unter heftigem Winken mit dem Taschentuch ein »Auf Wiedersehen!« zu.

Per mußte noch eine Weile in Rom bleiben wegen der Büste, die seine mütterliche Freundin bestellt hatte und für die er sich zu interessieren begann. Überhaupt hatte er es gar nicht eilig wegzukommen. Er fühlte sich nach wie vor ungewöhnlich wohl hier, und die Berichte über den naßkalten Frühling nördlich der Alpen lockten nicht zum Aufbruch. Schließlich steckte immer noch die Angst vor der Einsamkeit in ihm. Deswegen suchte er in Rom auch ständig Gesellschaft.

Ivan hatte ihm mitgeteilt, er müsse darauf vorbereitet sein, die Reise zu unterbrechen, weil seine Anwesenheit möglicherweise zu Hause zur Förderung seiner Sache vonnöten sei. Im letzten Brief hatte Ivan sogar angefragt, ob Per in der Lage sei, innerhalb eines Tages abzureisen.

Hierauf hatte Per noch nicht geantwortet. Diese fast täglich eingehenden Briefe des Schwagers mit ihren dauernden Fragen, Ersuchen und Mahnungen begannen ihn zu langweilen. In seinem Verhältnis zu dem, was er sein Lebenswerk genannt hatte, war – auch für ihn fast unbemerkt – von dem Augenblick an eine Veränderung eingetreten, da sich die Möglichkeit für eine Durchführung ergeben hatte. Es hatte für ihn nicht gerade an Wert verloren, aber sein Interesse dafür hatte sich verringert, nachdem es aus einer revolutionierenden Idee in ein Ding verwandelt worden war, das nun Börsenleute und Spekulanten beschäftigte und trocken-nüchtern besprochen wurde. Schon allein die barbarische Handelssprache, in der Ivan ihm darüber schrieb, dieses nur halb verständliche Krämergewäsch, verleidete ihm die Verhandlung. Außerdem enthielt fast jeder Brief Ivans neue Vorbehalte oder Vorschläge für Kürzungen oder weitere Anpassungen und Streichungen, so daß Per ihn regelmäßig aus lauter Ärger darüber mehrere Tage unbeantwortet liegenließ. Der Gegensatz zwischen dieser Beschränktheit und den Eindrücken aus jener großen Zeit, in der er während dieser Tage in Gedanken weilte, verstärkte seine Gleichgültigkeit und weckte seinen Mißmut. Im letzten Brief hatte Ivan sogar die Dreistigkeit besessen, ihm eine Annäherung an Oberst Bjerregrav vorzuschlagen, an den Mann, der ihn seinerzeit kalten Blutes hatte in die Finsternis hinabstürzen wollen.

All diese Unannehmlichkeiten aus der Heimat machten das sorglose Müßiggängerleben hier in Rom nur noch anziehender für Per. Er war mit verschiedenen skandinavischen Landsleuten bekannt geworden, auch mit einigen Damen, in deren Gesellschaft er sich schnell über den Verlust der Hofjägermeisterin tröstete. Die Abende verbrachte er regelmäßig mit ihnen in einem der ländlichen Gasthöfe am Rande der Stadt, wo sich die Skandinavier nach alter Gewohnheit zusammenfanden, um hier nach Künstlerart ungezwungen das Leben zu genießen. Bei vollen Gläsern und Gesang und bei Wortgefechten ging es lustig zu – an warmen Tagen in Hemdsärmeln –, und Per fühlte sich sehr wohl bei dieser Zwanglosigkeit der Künstler. Stets war er bei strahlender Laune. Der Frühling, den Jakobe mit ihrer sonnenwarmen Hingebung in ihm erweckt hatte, stand nun in voller Blüte. Alle Keime zu hellen und festlichen Gefühlen in ihm gelangten hier zum Wachstum, und nach und nach nahm er alle für sich ein. Wenn man spät in der Nacht singend nach Hause zog, sah man ihn in der Regel an der Spitze des Zuges, blumengeschmückt und bekränzt, mit hingerissenen jüngeren oder älteren Damen am Arm.

Eines Abends traf er in dieser Gesellschaft einen jener vollbärtigen deutschen Künstler, mit denen ihn Fritjof im Herbst in Berlin zusammengebracht hatte. Zur Zeit war er hier in Rom als Maler sehr in Mode – ein kleiner zwergartiger Mann mit einem gewaltigen Viktor-Emanuel-Bart und zwei Zoll hohen Absätzen unter den Schuhen. Mit dem üblichen feierlichen Erheben der Gläser erneuerte man die alte Bekanntschaft, und Per wurde eingeladen, den berühmten Mann am folgenden Tag in seinem Atelier zu besuchen.

Hier wartete eine Überraschung auf ihn. Auf einer Staffelei mitten im Raum stand das eben vollendete lebensgroße Porträt einer jungen Dame, einer rotblonden Jüdin, deren feine Züge und scheue Rehaugen er sofort wiedererkannte. Es war Jakobes Berliner Halbkusine, die Tochter des Geheimen Kommerzienrats, die Alleinerbin von fünfzig Millionen.

»Ist sie hier in der Stadt?« fragte er verwundert.

»War hier. Sie ist gestern wieder zurückgefahren. Sie kennen sie also?«

Per erzählte, er sei ein paarmal im Hause ihrer Eltern gewesen. »Wie war das doch? Ist sie nicht inzwischen verheiratet?« fragte er und konnte das Auge nicht abwenden von diesem herrlichen Gesicht, das ihn mit demselben verstohlenen, forschenden Seitenblick anschaute wie an jenem Abend beim Konzert.

»Sie ist verheiratet, ja. Sie war mit ihrem Gemahl hier – dem Glückspilz!«

»Wie hieß er gleich?«

»Bieber – Dr. Bieber.«

»Ja, richtig. Ich erinnere mich, ihn da im Hause gesehen zu haben. Er zeichnete sich nicht gerade durch körperliche Schönheit aus. Er glich geradezu einem wandelnden Bauch.«

»Ach was – körperliche Schönheit!« unterbrach ihn der kleine Mann und drehte mit einer Hand, an der ein Amethyst funkelte, die buschigen Enden seines Kriegerbarts.

»Vielleicht war er sehr reich?« forschte Per.

»Reich? Nein, ein armer Teufel war er. Wissen Sie das denn nicht? Eine köstliche Geschichte! Da füllten die fürsorglichen Eltern ihr Haus mit verschuldeten Baronen und Offizieren, damit die Tochter eine standesgemäße Partie machen konnte. Alle bürgerlichen jungen Männer hielt man von ihr fern. Bloß an den dicken Dr. Bieber hatte keiner gedacht. Er war Assistent bei ihrem Hausarzt – und da hat er natürlich den Vogel abgeschossen!«

»Hm, ja!« murmelte Per auf einmal geistesabwesend. Sein Blick hing noch immer wie gebannt an den Zügen der jungen Frau.

»Wenn Sie Gast im Palais der Eltern im Tiergarten gewesen sind, dann wissen Sie sicherlich auch, daß dies eine Art vergoldete Hölle für die junge Dame war. Die Mutter hält sich ungeniert einen Stab bezahlter Liebhaber, und der Vater ist ganz einfach ein Schuft. Um jeden Preis wollte die Tochter aus diesem Leben heraus – das ist die Erklärung. Ich meine, sie hätte fast jeden einigermaßen ansehnlichen und ordentlichen Mann genommen, der den Mut gehabt hätte, sie zu entführen.«

Per wandte sich ab von dem Bild und sah den kleinen redseligen Maler durchdringend an. »Hat er sie entführt?«

»Na, nicht gerade wortwörtlich. Aber er witterte seine Chance. Und trotz seiner Häßlichkeit, seiner Armut und sogar trotz seiner bürgerlichen Herkunft – sein Vater ist so eine Art feinerer Trödler – hatte er den nötigen Mut . . . oder das Selbstvertrauen . . . wir können auch sagen, die Arroganz . . . sein Glück zu versuchen. Vielleicht hielt er sich selbst für einen Adonis. Auf seine Einbildung hin hat er jedenfalls dann gesiegt! . . . Haben Sie, junger Freund, die ironische Lebensweisheit darin erfaßt? Ist Ihnen schon einmal aufgegangen, daß es in Wahrheit weniger darauf ankommt, was man ist, als was man zu sein sich einbildet? – Meinen Sie vielleicht, Leutnant Napoleon wäre je Kaiser von Frankreich geworden, wenn er nicht die verrückte Idee gehabt hätte, in seinen Adern flösse altes französisches Königsblut?«

Der weltberühmte Künstlerzwerg mit den hochhackigen Schuhen stellte sich bei diesen Worten auf die Zehenspitzen und zwirbelte wieder seinen martialischen Schnurrbart. Per aber schlug betreten die Augen nieder und saß lange schweigend und geistesabwesend da.

 

In Kopenhagen hatten Nanny und Dyhring unterdessen geheiratet. Gleichzeitig hatte Dyhring den »Falken« verlassen und war Chefredakteur an einem älteren angesehenen Blatt, am »Borgerbladet«, geworden, das vor allem in Geschäftskreisen stark verbreitet war.

Sein Schwiegervater Philip Salomon hatte jedoch keinen Anteil an dieser Beförderung. Er verdankte sie allein dem Einfluß des Obergerichtsanwalts Max Bernhardt. Dyhring gehörte zu den vielen Hörigen dieses Mannes. Ja er war derjenige von ihnen, auf den Bernhardt wegen des eleganten Äußeren, der Wendigkeit und frühgereiften Verachtung für alle menschlichen Gesetze und Vorschriften die meisten Hoffnungen setzte. Unter dem Schutz des großen Mannes war Dyhring mit zwanzig Jahren zu einem hervorragenden Posten im Mitarbeiterstab des »Falken« gekommen. Er hatte in dieser Stellung durch seinen absoluten Gehorsam gegenüber seinem Wohltäter dessen Vertrauen, ja Freundschaft gewonnen.

Max Bernhardt hatte sich aber sehr unzufrieden gezeigt, als ihm Dyhring seine Verlobung mit Nanny mitteilte. In seinem blutlosen Gesicht hatten sich zwei tiefe Falten von der Nasenwurzel abwärts eingegraben, und er hatte gesagt:

»Eine Jüdin, Dyhring! Das überrascht mich wirklich. Ich hätte Ihnen mehr Verstand zugetraut . . . Schon vor längerer Zeit habe ich Sie auf Konferenzrat Lindholms Tochter aufmerksam gemacht. Sie ist auch hübsch und reich. Und Sie hätten sicherlich den nötigen Eindruck auf sie gemacht.«

Doch zum ersten Mal verweigerte Dyhring seinem Herrn und Meister den Gehorsam. Er war in Nanny verliebt, und Frauen von der Art Nannys gegenüber widerstandslos zu sein war seine einzige Schwäche.

Max Bernhardt hatte eingesehen, daß er hier nachgeben mußte. Er hatte selbst eine Schwäche für schöne Frauen, und die einzigen Dummheiten, die er verzieh, waren deshalb diejenigen, die um einer Dame willen begangen wurden. Er hatte Dyhring lediglich das Versprechen abgenommen, die Verlobung so lange geheimzuhalten, bis er ihm eine ansehnlichere und selbständigere Stellung bei der Presse besorgt hatte. Und schon in der folgenden Woche war für ihn der Weg zum sehr begehrten Redakteurposten am »Borgerbladet« frei geworden.

Max Bernhardt hatte hierin Philip Salomon zuvorkommen wollen. Er hegte die Befürchtung, etwas von seiner Herrschaft über Dyhring zu verlieren, wenn dieser seinem Schwiegervater die Redakteurwürde zu verdanken hatte.

Und nun hatten Dyhring und Nanny Hochzeit gefeiert. Das war mit den allerwenigsten Umständen geschehen. Eines schönen Tages kam Nanny lachend aus der Stadt zurück, ihren neugebackenen Redakteur am Arm, knickste vor ihren Eltern und stellte sich als Frau Dyhring vor. Am Vormittag waren sie in einem verstaubten Bürgermeisterbüro getraut worden und hatten, wie sie zungenfertig berichtete, schreckliche Mühe gehabt, während der Feier ernst zu bleiben. Später waren sie in ein Restaurant gegangen und hatten mit ein paar Bekannten Dyhrings gespeist, die sie dort zufällig trafen.

Bei Tisch, der jetzt so feierlich gedeckt wurde, wie es sich in der Eile machen ließ, stieß Philip Salomon auf das Wohl seines Herzenskinds und dessen Gemahl mit einer unwillkürlichen Feierlichkeit an, die in seltsamem Gegensatz zu dem munteren Gleichgewicht der Neuvermählten stand. Die Mutter war ebenfalls sehr ergriffen. Wie sehr sich das alternde Ehepaar in den letzten Jahren unter dem Einfluß der Kinder auch bemüht hatte, mit der Zeit Schritt zu halten – bei einer Gelegenheit wie dieser siegte doch seine eigentliche Natur über die Erziehung. In Wahrheit sahen beide nicht sehr zuversichtlich in die Zukunft. Vor allem die eigenwilligen Handlungen ihrer Töchter bereiteten ihnen Kummer.

Allmählich riß die Fröhlichkeit der anderen sie jedoch mit, und die Freude am Tisch artete schließlich wegen der Anwesenheit der kleinen Kinder in lautes Lärmen aus. Nur Jakobe blieb still und gleichsam teilnahmslos. Sie war auch die einzige, die sich nicht festlich gekleidet hatte. Über Nannys Ausgelassenheit und die Entheiligung der Liebe war sie empört, denn nichts anderes war diese Hochzeit und diese Ehe in ihren Augen. Nur die bestimmte Aufforderung der Mutter hatte sie bewegen können, am Tisch Platz zu nehmen. Zuerst hatte sie sich mit Unwohlsein entschuldigen wollen. Und wahrhaftig, sie fühlte sich nicht wohl. Mehrfach überfiel sie ein Schwindel während des Essens, sie zitterte vor Nervosität.

Bald nachdem man vom Tisch aufgestanden war, ging sie auf ihr Zimmer und ließ sich nicht mehr blicken.

Sie setzte sich hin, um an Per zu schreiben. – Sie wußte kein anderes Mittel, um ihr Verlangen nach ihm zu betäuben und die wilde verzehrende Eifersucht zu stillen, die ihr Seele und Leib fast zerstörte.

Nicht, daß sie in irgendeiner Weise Per verdächtigte! Jeder Gedanke an eine Treulosigkeit von seiner Seite lag ihr so fern, daß nicht einmal seine kurzen Briefe und die Mühe, die es ihm offensichtlich wieder bereitete, den vertraulichen Ton zu finden, sie ernsthaft beunruhigten. Seit ihrer zärtlichen Vereinigung empfand sie ihn als unzertrennlichen Teil ihrer selbst. In ihrer stolzen und keuschen Art konnte sie überhaupt nicht an die Möglichkeit eines Betruges glauben. Sie hatte nicht den Ausdruck von Glück und Dankbarkeit vergessen, der in Pers Augen gelegen hatte, als er zum ersten Mal in ihren Armen ruhte. Sie bewahrte diese Erinnerung wie ein geweihtes Pfand. In diesem Augenblick hatte sie die Gewißheit erhalten, daß auch sie als Frau dem Geliebten Liebeswonne schenken konnte, woran sie zuzeiten fast gezweifelt hatte.

Doch wenn sie an all die Menschen dachte, zwischen denen sich Per jeden Tag bewegte, die das Glück hatten, in seiner Nähe zu leben, seine Hand zu ergreifen, seine Stimme zu hören, sein Lächeln zu sehen . . . dann erfaßte sie Haß auf all diese Fremden, die das alles besaßen, wonach sie sich sehnte. Sie war neidisch auf die Pflastersteine, die er betrat, auf die Luft, die seine sonnengebräunten Wangen umspielte. Sie war eifersüchtig auf den Kellner, der ihn bediente, auf die Zimmermädchen, die des Morgens sein Bett machten, das noch die Wärme und den Duft seines Körpers barg.

Unten im Wohnzimmer versuchte unterdessen die Mutter, sie vor Dyhring und Nanny zu entschuldigen, denn letztere hatte eine spöttische Bemerkung über den Anlaß ihres Verschwindens fallenlassen.

»Jakobe ist in letzter Zeit so überspannt«, klagte die Mutter. »Ich bin ihretwegen sehr in Sorgen.«

Nanny lächelte und antwortete nicht. Doch als sie im Wagen saß, um mit Dyhring zu dessen Junggesellenwohnung zu fahren, wo sie übernachten wollten, schmiegte sie sich in seinen Arm und bemerkte: »Weißt du, was mit Jakobe los ist? Sicher hast du es bei Tisch auch bemerkt. Sie ist neidisch, das arme Ding! Sie ist wütend darüber, weil sie es nicht ist, die jetzt mit ihrem Verlobten nach Hause fahren kann.«

Am nächsten Morgen reisten die Jungvermählten ins Ausland. Sie wollten ein paar Wochen fortbleiben. Es war ihre Absicht, in dieser Zeit möglichst viel von Europa zu sehen. Sogar bis nach Spanien wollten sie, weil Nanny unbedingt einen Stierkampf zu sehen wünschte.

So war denn die Reise im wesentlichen ein Aufenthalt auf Eisenbahnen und in Hotels. Doch gerade dieses abwechslungsreiche Leben unter allen möglichen Menschen gefiel den beiden. Sogar in ihren Flitterwochen hatten sie kein Bedürfnis nach Einsamkeit. Von einer wirklichen Leidenschaft war überhaupt auf beiden Seiten nicht die Rede. Dyhrings Verliebtheit äußerte sich schon nach kurzer Zeit vor allem in schamlosen Liebkosungen, und trotz ihrer verhältnismäßigen Unschuld kam Nanny seinem Hang nach aufreizenden Zärtlichkeiten bereitwillig entgegen.

Im übrigen war es vor allem die Befriedigung ihrer Eitelkeit, die sie miteinander verband. Dyhring genoß das Aufsehen, das Nannys orientalische Schönheit überall hervorrief – vor allem, weil er überzeugt war, daß die Leute sie nicht für verheiratet hielten. Er wußte sehr wohl, daß Nanny in ihrem Wesen wie in ihrer Art, sich zu kleiden, an die feinere Halbweltdame erinnerte. Gerade das hatte ihn stets gereizt. Jetzt schmeichelte es seinem Ehrgeiz, wenn er merkte, wie die Herren selbst im lasterhaften Paris mit neidischen Blicken zu ihm herüberschauten.

Nanny ihrerseits war auf ihren Gatten stolz wegen seines eleganten und korrekten Äußeren. Seine schlanke Figur und sein goldblondes Haar erregten überall in den Hotels Aufsehen. Nanny pflegte oft von ihm zu sagen, er sehe aus wie ein deutscher Prinz. Sie freute sich auch, weil er kein Jude war. Obzwar sie stets das Gegenteil behauptete, fühlte sie sich zuzeiten doch bedrückt durch ihre Herkunft. Jetzt gestand sie ehrlich, daß sie glücklich war, für immer den Namen Salomon los zu sein und Frau Dyhring zu heißen.

Schließlich war sie auf ihren Mann stolz, weil er ihnen in seiner Eigenschaft als Redakteur gelegentlich Zutritt zu Sehenswürdigkeiten verschaffen konnte, für die andere bezahlen mußten oder von denen sie ganz ausgeschlossen waren. Der Sinn für den Wert des Geldes, den sie trotz aller Toilettenpracht bereits als junges Mädchen entwickelt hatte, verließ sie auch in ihrer Ehe nicht. Dyhrings Neigung, flott zu leben, beunruhigte sie insgeheim. Regelmäßig wurde sie irgendwie nervös, sobald Geld ausgegeben werden sollte. Aus einem Hotel, in dem sie mindestens ein dutzendmal nach dem Zimmermädchen geläutet hatte, um sich beim Ankleiden helfen zu lassen, konnte sie ruhig abreisen, ohne ein Trinkgeld zu geben. Oder sie hinterließ höchstens einen halben Franc auf dem Nachttisch.

Der kühle Frühling und der Regen trieben das junge Paar bald nach Süden. Von Paris wollten sie direkt nach Madrid. Weil ihnen aber unterwegs das Gerücht zu Ohren kam, in dieser Stadt sei die Cholera ausgebrochen, flohen sie sehr schnell zurück über die Pyrenäen. Dann reisten sie über die Riviera nach Italien.

Per war zu dieser Zeit noch in Rom. Jakobe hatte ihn in einem Brief auf das Kommen der beiden vorbereitet, was im übrigen ganz überflüssig gewesen war. Die dänischen Zeitungen, die er regelmäßig im Skandinavischen Klub las, enthielten täglich Notizen über die Hochzeitsreisenden.

Der freilich stets vielumstrittene, doch bislang nicht sehr angesehene Theater- und Varietékritiker Dyhring war in Dänemark plötzlich ein Mann von Bedeutung geworden. Bisher war es etwas ganz Unerhörtes, daß man einem so jungen Mann ohne Examen oder sonst eine entsprechende Garantie, ja sogar ohne einen tadellosen Ruf die Leitung eines Unternehmens anvertraute, wie es »Borgerbladet« war. – Tatsächlich war es Max Bernhardt auch nicht leicht geworden, seinen Willen in dieser Sache durchzusetzen. Während dessen Günstling im samtüberzogenen Eisenbahnabteil durch Europa rollte und sich von seiner schönen jungen Frau verwöhnen ließ, führte man im Namen der Moral einen Kampf gegen ihn in all den Zeitungen, die Max Bernhardt noch nicht unter seinen Einfluß gebracht hatte.

Dyhrings Berufung war das Signal für ein Wiederaufflackern des Streites zwischen den Repräsentanten der alten und der neuen Zeit geworden. Sein Name war das Feldzeichen, unter dem Tatkraft gegen Ohnmacht, Übermut gegen tugendhaft maskierte Mißgunst kämpften. Die kleineren Zeitungen brachten lange Artikel über ihn, geschmückt mit seinem Bild; die Witzblätter enthielten farbige Karikaturen, während der Klatsch auf tausend Beinen durch das Land ging und die phantastischen Berichte über seine verfeinerten Gewohnheiten, seine mit Atlas ausgeschlagenen Zimmer, seine Weiberorgien und sein sagenhaftes Wohlleben wieder aufwärmte.

Daher war es nicht verwunderlich, daß die Ankunft Dyhrings und seiner jungen Frau in Rom bei ihren dortigen Landsleuten mit einer gewissen Spannung erwartet wurde. Trotz aller moralischen Entrüstung waren vornehmlich die Damen in einer Weise damit beschäftigt, die Pers Ärger hervorrief.

Per hatte sonst nie andere um ihr Glück beneidet. Dazu hatte er sich stets zu sehr als der besonders Auserwählte, als die Ausnahme gefühlt, die erhaben war über jede Nebenbuhlerschaft. Doch das Reiseleben des letzten halben Jahres, das auf mancherlei Weise seine Selbsterkenntnis gefördert hatte, die Vergleiche, zu denen die Bekanntschaft mit so vielen weltgewandten Fremden Anlaß gab, und jetzt zuletzt der Besuch bei dem zwerghaften Maler sowie dessen Bericht über den fabelhaften Triumph des dicken armen Dr. Bieber – all das hatte sein Verständnis dafür vertieft, daß sein Charakter Schwächen besaß, die überwunden werden mußten. Die Stimmung, die ihn an jenem Tag im Atelier des Malers erfaßte und die jetzt durch Dyhrings schnell wachsenden Ruf erneuert und verstärkt wurde, hatte Per im Unterbewußtsein schon seit längerem beherrscht. Sie hatte ihn auf seiner Reise begleitet wie ein verborgenes Gefühl der Ohnmacht. Sogar während der ausgelassenen, lustigen Tage hier in Rom hatte sie auf seiner Seele gelastet als eine noch schlummernde Melancholie.

Als er eines Tages im Skandinavischen Klub zufällig erfuhr, daß das Paar mit dem Nachmittagszug in Rom erwartet wurde, beschloß er nach anfänglichem Zögern, es auf dem Bahnhof zu empfangen. Er sagte sich, daß es für den Familienfrieden das beste sei, Dyhring und er würden Freunde, da sie nun einmal verschwägert waren. Besonders aber war er besorgt, daß er durch Zurückhaltung ihm gegenüber seine mißgünstigen Gefühle verraten könnte, die ihn demütigten und quälten.

Also erschien er am Bahnhof mit einem kleinen billigen Blumenstrauß für Nanny und hieß die beiden in Rom willkommen. Der gewandte Redakteur war wie stets die Verbindlichkeit in Person. Er murmelte einige Dankesworte und ergriff Pers großmütig ausgestreckte Hand mit einem Lächeln, das glücklicherweise nur Nanny bemerkte.

Sie zeigte ganz unverhohlen Freude über das Wiedersehen, nannte Per ihren Schwager und überbrachte Grüße von Jakobe und allen daheim. Später traf man sich, wie verabredet, in einem der französischen Restaurants.

Nach dem Essen wurde Dyhring bald ungesellig und gähnte ungeniert hinter seiner sorgfältig gepflegten Hand. Nanny dagegen stand der Mund keinen Augenblick still. Sie redete drauflos und nahm Per so in Anspruch, daß er das rücksichtslose Benehmen des Ehegatten zum Glück gar nicht bemerkte.

Um Kaffee zu trinken, hatten sie sich an der Piazza Colonna vor ein Café gesetzt, und hier wie überall, erregte Nanny wegen ihrer Schönheit, ihrer Kleidung und ihres ungezwungenen Wesens Aufmerksamkeit. Sie war ganz in Weiß, vom Spitzenhut bis hinab zu den mit Schleifen gezierten Schuhen. Das luftige Kleid umschloß ihren reifen Körper wie Schwanengefieder.

Per konnte sich nicht von seiner Überraschung erholen, wie blendend sie aussah. Er hatte vergessen, wie hübsch sie war. Während er ihr am runden Kaffeetischchen gegenübersaß, streifte sein Blick im Laufe des Gesprächs des öfteren verstohlen ihren entblößten Hals und den üppigen Busen. Und er mußte daran denken – was ihm ebenso fast entfallen war –, daß er seinerzeit drauf und dran gewesen war, um ihre Hand anzuhalten, und daß sie damals aller Wahrscheinlichkeit nach ja gesagt hätte.

Als sich die kleine Gesellschaft abends trennte, verabredete man, Per solle Nanny am kommenden Vormittag vom Hotel abholen und sich ihrer annehmen. Dyhring wollte dem dänischen Konsulat einen Besuch abstatten, um sich Material für einen Reisebrief zu holen, den er für seine neue Zeitung über die italienischen Handelsverhältnisse zu schreiben beabsichtigte. Nanny selbst hatte diese Einteilung vorgeschlagen, und mit seiner gewohnten Galanterie gab Dyhring seine Zustimmung.

Es war die einzige Bedingung, die die beiden Eheleute bei ihrer Heirat einander gestellt hatten: Jeder müsse völlig uneingeschränkt seine Freiheit bewahren können. Sie waren sich sogar darin einig geworden, daß auch nur der geringste Versuch des einen, dem anderen Zwang aufzuerlegen, als ausreichender Scheidungsgrund zu betrachten sei.

Als Per am folgenden Tag zur vereinbarten Zeit ins Hotel kam, war Dyhring schon fort. Nanny empfing ihn in der weißen Garderobe des Vortags, bereit, ihm zu folgen. Sie erhob sich vom Frühstückstisch, auf dem nur Schokolade und Kuchen standen, und rief sogleich ohne Willkommensgruß oder sonst eine Zeremonie aus: »Wo wollen wir hin? Heute will ich mich mal richtig amüsieren!«

Per erzählte, auf einem Platz in der Nähe, an dem er eben vorbeigekommen sei, werde ein Monatsmarkt mit allerlei altem Kram abgehalten, den man aus allen Winkeln Roms zusammengetragen habe. Als Nanny das hörte, wollte sie durchaus zuerst dorthin. Der Gedanke an einen so riesigen Haufen Gerümpel erregte ihre Heiterkeit. Nachher – sagte sie – könnten sie eine Droschke nehmen und in der Stadt umherfahren, um die »Sehenswürdigkeiten« zu betrachten.

Sie schritt noch einmal musternd durch ihre beiden Zimmer, und im Vorbeigehen steckte sie Per eine Makrone in den Mund. – Dann brachen sie auf.

Als sie sich dem Markt näherten, dessen Lärm und Getöse man schon von weitem hören konnte, bat sie um seinen Arm. Sie war auf einmal gar nicht mehr so mutig bei dem Anblick der gestauten Menschenmassen und der schmalen Zeltgassen. Ängstlich blickte sie zu den zerlumpten Gestalten hinüber, die von überall dem Markt zustrebten oder die großen Haufen grünspanüberzogener Kupfergeräte, eisernen Plunders und alter Kleider umstanden, die gleich am Eingang auf dem Straßenpflaster lagen. Voll Angst vor der Unsauberkeit der untersten Volksschichten Roms hatte sie ihre Röcke fest zusammengerafft, und je mehr sie ins Gewühl gerieten, desto höher hob sie sie.

Per fand sie noch reizender als am Vortag. Ihm war ganz schwindlig, als er ihren Arm hielt und die Formen ihres vollen Körpers fühlte, wenn sie, erschreckt durch ein halbnacktes oder besonders zerlumptes Individuum, das sich an sie heranmachte und seine Waren feilbot, sich an ihn drängte, um Schutz zu suchen. Bisher war er in seinem Auftreten ihr gegenüber etwas unsicher gewesen, hatte sich verlegen gefühlt bei ihrer ungenierten Schwägerinnenvertraulichkeit. Jetzt schob er energisch alle Gedanken an Jakobe beiseite und gab sich ungezwungen der Stimmung des Augenblicks hin.

Es war auch nicht möglich, in solchem Gewimmel den Anstand zu wahren. Bald mußte er sie mit seinem Arm, bald mit dem ganzen Körper gegen Püffe und Stöße beschirmen. Endlich schlug er vor, sich zurückzuziehen. Doch sie wollte nichts davon hören. Mitten in ihrer Todesangst vor den lustigen Lumpengestalten, die immer unverschämter näher rückten, in all dem Lärm und dem Knoblauchduft und dem aufdringlichen Schweißgeruch war sie entzückt und lachte unablässig und krampfhaft, als werde sie gekitzelt.

»Mir gefällt es hier großartig!« rief sie im dichtesten Gedränge. »Hierher wäre Otto nie im Leben mitgegangen!«

Plötzlich entstand Tumult vor einem Zelt in einiger Entfernung. Zwei junge Burschen waren in Streit geraten. Und sofort hatte sich ein Kreis interessierter Zuschauer um sie gebildet, die eine Art Arena um sie herum offenhielten.

Per wollte Nanny wegführen. Doch ohne etwas zu sagen, hielt sie ihn zurück, ja zog ihn noch ein paar Schritte näher an den Kampfplatz heran und stellte sich auf die Zehenspitzen, um sehen zu können.

Nach Art erregter Italiener hatten sich die Streitenden in kauernder Stellung einander gegenübergesetzt. Und mit wilden Bewegungen hoben sie bald die eine, bald die andere Faust, während ihre schwarzen Augen blitzten und ihre roten Münder Flüche und Schimpfwörter ausstießen, die wie wilde Schreie durch das Marktgetümmel drangen.

Per wurde ein wenig merkwürdig zumute, als er Nannys Begeisterung bemerkte. Sie war abwechselnd rot und blaß, und ihre Lippen zitterten. Zweifelsohne hatte sie völlig vergessen, daß es nicht Dyhring war, der sie am Arm hielt, so eng preßte sie sich jedesmal an ihn, wenn sich die geballten Fäuste da drinnen im Kreis erhoben.

»Ob sie sich mit Messern stechen werden?« flüsterte sie.

Per mußte lachen. In Rom war er schon des öfteren Zeuge solcher Straßenszenen gewesen, bei denen es aussah, als kämpften leidenschaftliche Männer auf Leben und Tod miteinander, während sie sich nur in einer Art künstlerischen Behagens an den Heldenposen berauschten, um sich dann zu trennen, ohne anderes gewechselt zu haben als schmutzige Schimpfwörter.

Genauso verlief dieser Streit hier. Gerade als die Wut ihren Höhepunkt erreicht zu haben schien, verdunstete sie plötzlich, und die beiden Männer entfernten sich jeder nach seiner Seite wie ein paar Schauspieler, denen der Beifall der Zuschauer folgt.

»Was denn . . . schon vorbei?« fragte Nanny und drehte sich enttäuscht nach Per um.

»Ja – nicht wahr? – Da lobe ich mir unsere guten dänischen Raufbolde!« sagte er und zog sie nun energisch fort, um aus dem Trubel heraus zu sein, bevor sich die gestaute Zuschauermenge auflöste.

Mit viel Mühe erreichten sie den Rand des Marktes, wo sie sich einigermaßen ungehindert bewegen konnten. Da blieb Nanny plötzlich stehen und schrie förmlich: »Aber wir haben ja überhaupt nichts gekauft!« Und unbarmherzig zog sie ihn aufs neue hinein in das Menschengewühl.

An seinem Arm drängte sie sich an einen Holztisch vor, der nahe am Zusammenbrechen war und auf dem allerlei angebliche Antiquitäten angeboten wurden. Ein banditenähnlicher Greis mit weißen Bartstoppeln, die bis auf seinen kahlen Vogelhals hinunterreichten, begrüßte sie mit orientalischer Unterwürfigkeit. Und ohne zu feilschen, kaufte sie zu unverschämtem Preis eine kleine silberne Figur und eine vergoldete Schnalle, wobei sie ohne weiteres Per das Bezahlen überließ.

Danach erklärte sie sich endlich bereit, ihm auf einer Rundfahrt durch die Stadt zu folgen. Per nahm eine Droschke, und sie begaben sich auf den Weg.

Sie besichtigten die Piazza del Popolo, die Nanny unbedingt zuerst sehen wollte, weil sie einmal einen Roman mit diesem Titel gelesen hatte. Von da aus fuhren sie über den Monte Pincio durch die Gregorianastraße nach dem Quirinal und wieder weiter bergauf und bergab, vorbei an den Bädern des Diokletian, am Kapitol und am Forum.

Der Kutscher hatte den Auftrag, die Pferde traben zu lassen. Sie hielten nirgendwo. Nanny war völlig mit dem zufrieden, was man vom Wagen aus durch ein Theaterglas betrachten konnte. Sie vergaß nicht die pflichtgemäßen Ausrufe der Verwunderung, war aber in Wahrheit ausschließlich mit ihrer eigenen Person beschäftigt – oder vielmehr mit dem Gedanken, welchen Eindruck sie wohl auf ihren Begleiter machte.

Ihre Empfindungen für Per waren noch von früher her mit einiger Bitterkeit durchsetzt. Niemals hatte sie ihm verziehen, daß er sie damals verschmäht hatte. Stets hatte sie auf eine Gelegenheit gewartet, sich Genugtuung verschaffen zu können. Diese Gelegenheit hielt sie nun endlich für gekommen. Daher hatte sie bereits am Vortage auf dem Bahnhof all ihre Bezauberungskünste an ihn verschwendet.

Rücksicht auf Jakobe kannte sie nicht. Verwöhnt wie sie war, hatte sie der Halbschwester nie verzeihen können, daß sie sich nicht wie alle anderen von ihr beeindrucken ließ, sondern recht häufig erklärt hatte, ihr falsches, gefallsüchtiges Wesen sei ihr zuwider. Nanny nahm es überhaupt mit den Mitteln nicht so genau, wenn es darum ging, eine Lust oder auch nur eine Laune zu befriedigen. In gutem Glauben hatte sie der Vater das »Normalkind« genannt, weil sie stets vor Gesundheit strotzte. Doch seit je hatte sie eine unnatürliche Freude daran, Unheil zu stiften. Schon während der Schulzeit hatte es ihr Vergnügen bereitet, auf listige Weise die Mitschülerinnen in Ungelegenheiten zu bringen. Und kaum war sie halbwegs erwachsen, kaum hatte ihre Figur rundliche Formen bekommen, da betrieb sie es förmlich als Sport, zwischen Verlobten Zwietracht zu säen, indem sie die weibliche Eifersucht weckte. Ihre Schadenfreude war um so gefährlicher, als sie bei ihrem Mangel an Phantasie nur selten den Umfang des Unheils ahnte, das sie verursachte. Wie ein Kind, das in aller Unschuld das Haus des Nachbarn anzündet, um die Flammen aus dem Dach schlagen zu sehen, konnte sie hinterher ganz bestürzt sein über den angerichteten Schaden.

Doch jetzt erging es ihr, wie es zu gehen pflegte, wenn sie mit Per allein war: sie hatte ihm gegenüber nicht den rechten Mut. Der Gedanke, daß er von allen Männern derjenige gewesen war, der am ehesten Herrschaft über sie hätte gewinnen können, machte sie ein wenig unsicher. Besonders war sie auf ihrem Posten, seit er seinerseits kühner geworden war, ja geradezu eine Annäherung zu versuchen schien. Es war wohl kaum ein Zufall, daß er ihre Hand so fest drückte, als er ihr in den Wagen half. Ein paarmal war er ihr auch so nahe gerückt, daß sie sich etwas zur Seite setzen mußte, um zu verhindern, daß sich ihre Körper beim Stoßen des Wagens berührten. So groß die Zufriedenheit auch war, die sie bei seinen Annäherungsversuchen empfand – besonders wenn sie an Jakobe dachte –, so beunruhigte es sie doch, als sie spürte, wie die Rollen allmählich wechselten, so daß sie, die als Verfolgerin begonnen hatte, nun nicht weit davon entfernt war, die Verfolgte zu sein.

Trotzdem sprach sie unablässig, bewegte ihren mit Schwanendaunen verbrämten Fächer und lachte übermütig. Pantheon, Trajanssäule und Titusbogen – alles glitt vorüber, ohne daß sie im Grunde etwas sah.

Erst der Anblick des Amphitheaters nahm sie für einen Augenblick gefangen. Hier überwand sie sogar ihre Bequemlichkeit und verließ den Wagen, um sich die Arena anzuschauen.

»Wir wollten jetzt eigentlich in Madrid sein, um uns einen Stierkampf anzusehen«, plauderte sie in ihrem Østergade-Dialekt, während sie an Pers Arm durch die dämmrigen kühlen Gänge verschwand, die in das Innere des ungeheuren steinernen Kessels führten. »Aber die dumme Cholera kam dazwischen. Das war schrecklich ärgerlich!«

Während Per unwillkürlich von der historischen Stimmung dieser Stätte ergriffen wurde, redete sie immer weiter. Nicht einmal als sie auf dem Grund der gewaltigen Opferschale standen, die Zeuge so vieler blutiger Hekatomben gewesen war, schwieg sie einen Moment still. Das Glas vor den Augen, blickte sie an den himmelwärts führenden Bankreihen auf und nieder, wobei sie überlegte, ob sie nicht lieber das geblümte Musselinkleid mit dem roten spanischen Seidenjäckchen hätte anziehen sollen. Das hatte Leutnant Iversen fast um den Verstand gebracht, als er sie kurz vor ihrer Abreise damit abends im Theater gesehen hatte.

Per war bemüht, ihr die Einrichtungen des Bauwerks zu erläutern. Er zeigte ihr die erhöhten Plätze für den Kaiser und die Vestalinnen, beschrieb, wie man damals die Arena künstlich unter Wasser setzte, so daß Seeschlachten und Kämpfe mit Flußungeheuern vorgeführt werden konnten . . . Und Nanny wurde wirklich nach und nach aufmerksam. Vor allem interessierten sie die vergitterten Tore, durch die die Gladiatoren waffenklirrend eintraten, um zur Belustigung des Volkes zu morden oder gemordet zu werden. Sie mußte an ein Bild denken, das einen römischen Fechter in einem dichtbesetzten Amphitheater darstellte . . . eine Riesengestalt mit schwellenden Muskeln und ganz nackt. Nur mit einem Metallhelm auf dem Kopf und einem schmalen Tuchfetzen um die Lenden! Das Bild hatte während eines ihrer letzten Schuljahre im Schaufenster eines Buchhändlers auf der Østergade gehangen. Damals hatte sie stets dafür gesorgt, daß ihr Weg sie daran vorbeiführte. Nun dachte sie daran, daß hier auf dem Fleck, wo sie stand, vielleicht so ein großer unbekleideter Mann mit kräftigen Gliedern gestanden hatte, der seinen Fuß auf die blutende Kehle des überwundenen Gegners setzte, um lächelnd die Huldigungen des Kaisers und des mit Menschenmassen angefüllten Theaters entgegenzunehmen, und ihre Nasenflügel blähten sich unwillkürlich, und sie spürte denselben wollüstigen kalten Schauer über Nacken und Rücken rieseln wie die schwanenflaumweißen Vestalinnen, wenn sie den Blutgeruch wahrnahmen. Als sie nach einiger Zeit wieder Pers Arm ergriff, um zur Droschke zurückzukehren, maßen ihre Augen mit einem verstohlenen Blick hastig seine Gestalt. Und sie war eine Zeitlang schweigsam.

Per schlug vor, jetzt die »Sehenswürdigkeiten« beiseite zu lassen und ein wenig auf die Höhen zu fahren, um frische Luft zu schöpfen. Nach einigem Zögern ging Nanny darauf ein, und der Kutscher bekam den Auftrag, über den Tiber zu lenken. Über den berühmten schlangenartig gewundenen Weg gelangten sie auf den Janiculus mit dem wundervollen Rundblick auf Rom und der meilenweiten Aussicht über die Campagna bis zu den schimmernden Albanerbergen in der Ferne.

Jetzt war es Per, der die Unterhaltung bestritt. Nanny saß meistens mit abgewandtem Gesicht da und tat, als lausche sie seinen Erläuterungen über die Gebäude, deren Türme und Kuppeln hoch über dem goldenen Sonnendunst aufragten, der über der Stadt lag. Die Unruhe, die sie die ganze Zeit über gespürt hatte, verwandelte sich hier oben in der Einsamkeit in wirkliche Furcht. Sobald Per sich auf seinem Sitz nur bewegte, fuhr sie nervös zusammen. Und plötzlich erklärte sie, sie sei müde und wolle heim.

Per versuchte allerlei Einwände zu machen. Doch sie war hartnäckig. Sie verlangte auf das bestimmteste, der Wagen solle umdrehen und sie nach Hause bringen.

Vor dem Hoteleingang trennten sie sich.

Dyhring war von seinem Besuch auf dem Konsulat längst zurück. In Hemdsärmeln saß er am Tisch und schrieb. Als Nanny eintrat, konnte sie von der Tür aus nichts weiter von ihm sehen als seinen Scheitel und seinen schmalen, mit einer Weste bekleideten Rücken. Und es verblüffte sie, wie alt, ja wie greisenhaft dünn er sich von hinten betrachtet ausnahm.

»Na, bist du wieder da, Schätzchen?« sagte er und nickte ihr über die Schulter zu.

Sein ruhiger Ton verdroß sie. Sie antwortete kurz »ja«, zog die Handschuhe aus und warf sie auf das Sofa.

»Wie hast du dich denn amüsiert?« fragte er unbeirrt.

»Glänzend! Großartig! . . . Beinahe wäre ich nicht mehr wiedergekommen.«

»Ach! Das wäre ja nett gewesen. – Du mußt mich noch einen Augenblick entschuldigen.«

»Wie du meinst!«

Schweigend setzte Dyhring seine Arbeit fort, während Nanny, nachdem sie auch ihren Hut abgenommen hatte, sich in einen Sessel am anderen Ende des Zimmers fallen ließ. Hier glaubte sie sich unbemerkt. Sie ahnte nicht, daß ihr Gatte sie, ohne seine Stellung beim Schreiben zu ändern, in einem Eckspiegel beobachten konnte und daß er seine Aufmerksamkeit ziemlich gleichmäßig zwischen dem Studium ihres Gesichtsausdrucks und dem Abfassen eines wohlformulierten Artikels teilte, in dem er in sachkundigem und ernsthaft belehrendem Ton den Lesern des »Borgerbladet« eine Übersicht der Handelsverhältnisse in Italien vermittelte.

Etwa eine halbe Stunde lang war es ganz still im Zimmer. Nannys Gedanken konnten nicht von der Niederlage loskommen, die sie schon wieder durch Per erlitten hatte. Sie begriff nicht ihre Schwäche und empfand sie als unerträgliche Demütigung. Aber offensichtlich war zur Zeit mit ihr nicht alles so, wie es sein sollte. Schon in Paris hatte sie eine Veränderung an sich bemerkt. Wenn sie nicht mit Bestimmtheit wüßte, daß es unmöglich war, hätte sie wahrhaftig geglaubt, sie sei schwanger. Morgens wachte sie jetzt bisweilen mit abscheulichen Kopfschmerzen auf, und den ganzen Vormittag über konnte ihr schwindlig sein. Und die sonderbaren Gelüste, die sie des öfteren hatte! Ganz zu schweigen von den schrecklichen Träumen, die sie nicht einmal ihrem Gatten erzählen konnte, weil sie so unanständig waren!

Während der vier, fünf Tage, die sich das junge Paar noch in Rom aufhielt, war Per mehrfach mit ihnen zusammen. Anscheinend beeindruckte seine Kurmacherei den Ehemann überhaupt nicht. Nach wie vor behandelte Dyhring ihn mit der gleichen, etwas lässigen Verbindlichkeit. Doch Nanny, durch Schaden klug geworden, sorgte selbst dafür, daß sie und Per nicht öfter allein blieben.

Erst am Tage ihrer Abreise, als Per sich auf dem Bahnhof einfand, um Lebewohl zu sagen, wagte sie sich wieder aus ihrem Hinterhalt hervor. Beim Abschied drückte sie ihm mit unverkennbarer Wärme die Hand. Als sie dann am offenen Abteilfenster stand, schaute sie ihn in glänzender Verstellungskunst mit ihren schönen Augen leidenschaftlich an, als werde sie jetzt im Augenblick des Scheidens widerstandslos fortgerissen von einem Gefühl, mit dem sie im verborgenen gekämpft hatte.

In ihren Händen hielt sie einige sehr schöne kostbare Blumen, Pers Abschiedsstrauß. Als sich der Zug in Bewegung setzte, ließ sie eine davon, eine fast erblühte Rose, auf den Bahnsteig fallen. Es konnte so aussehen, als sei es aus Unachtsamkeit geschehen. Doch es konnte auch ein Zeichen sein, ein stummes Geständnis, eine strahlende Verheißung.

Per hob die Rose auf, unsicher, was er glauben sollte. Als er wieder aufblickte, war das Abteilfenster leer. Er verfolgte es mit den Augen. Aber der Zug verschwand hinter einer Gebäudeecke, ohne daß sie sich sehen ließ.

Als er am Abend nach langem sinnlosem Umherstreifen durch die Umgebung von Rom in sein Zimmer zurückkehrte, stand in ihm der Beschluß fest, mit Jakobe zu brechen.

Lange schon hatte der Gedanke in ihm geglommen. Mit jedem Tag hatte ihn seine Entwicklung weiter von ihr entfernt. Ihm war klargeworden, wie grundverschieden sie voneinander waren und wie schlecht Jakobe mit ihrem eigenartigen, auf viele abstoßend wirkenden Wesen zu dem ungebundenen, verschwenderischen Genußleben paßte, das ihm als endliches Ziel der neuen Renaissance jetzt vorschwebte. Mit Freudenfeuern und Zimbelklängen sollten die heimischen Zaubermächte in die Erde verbannt werden; Doch um ihm zu helfen, solche Feststimmung in seinem eigenen Leben zu schaffen – dazu eigneten sich Frauen von Nannys Art ungleich besser.

Hinzu kam noch, daß Jakobe nicht mehr ganz jung war. Es hatte ihn ständig bedrückt, daß sie ein Jahr älter war als er. Und mit ihrer kränkelnden Zartheit wirkte sie auch nicht jünger, als sie war. Zudem genierten ihn ihre ausgeprägt jüdischen Gesichtszüge. Als er seinerzeit in ihrem Brief las, wie sie auf der Heimreise aus Breslau von zwei Herren beleidigt worden war, hatte ihn dies – trotz der Überlegenheit, mit der sie selbst darüber sprach – höchst peinlich berührt.

Daß die Auflösung der Verlobung Jakobe tief kränken und schmerzen würde, begriff er gut. Doch er konnte sich nicht verpflichtet fühlen, wegen einer einzigen Unbesonnenheit sein Leben zu zerstören. Außerdem – hier ging es doch wahrhaftig um mehr als ein paar Frauentränen! Bei einer Lebensaufgabe wie der seinen hatte er nicht das Recht, Verzicht zu leisten auf den Ansporn, der für einen Mann stets darin bestand, Macht über Menschen und vor allem über Frauen ausüben zu können. Er beabsichtigte überhaupt nicht mehr, sich wieder binden zu lassen. Bislang war es ja gerade sein Fehler gewesen, daß er nicht skrupellos genug die Kraftquellen seines Wesens ausgenutzt hatte. Daher war er auf seiner Märchenfahrt auch noch nicht weiter als bis hierher gekommen.

Doch nun sollten alle Segel gesetzt werden! Von Ivan hatte er soeben einen neuen Eilbrief erhalten mit der dringenden Aufforderung, nach Hause zu kommen, um persönlich an den Verhandlungen über sein Projekt teilzunehmen. Wie gewöhnlich hatte er den Brief einige Tage unbeantwortet gelassen. Nun teilte er telegrafisch seine Rückkunft mit. Die Verheißung in Nannys Augen zog ihn an. Und außerdem sah er ein, daß die Zeit des Handelns nun gekommen war.

Vorher wollte er Jakobe so schonend wie möglich auf den unumgänglichen Bruch vorbereiten. Er wollte versuchen, sie davon zu überzeugen, daß es auch für sie – so wie sein Wesen nun einmal war – das beste wäre, wenn ihre Verbindung beizeiten gelöst würde.

Es würde auch ihm gar nicht so leicht werden, dieses Lebewohl zu sagen. Er schuldete ihr unendlich viel; doch seine Freiheit konnte er ihr nicht opfern, seine Zukunft durfte er nicht aufs Spiel setzen. Nun mußte er zeigen, daß er nicht vergeblich zu Füßen der Cäsaren gesessen, sondern gelernt hatte, den geraden Weg des Mannesmuts zu gehen über den trüben Rubikon des Zweifels mit einem willensstarken: Jacta est alea!


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