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Zu der Zeit, von der hier erzählt wird, war der alte pensionierte Oberbootsmann Olufsen in der Hjertensfrydgade einer der bekanntesten und geachtetsten Einwohner von Nyboder. Jeden Vormittag, wenn die Turmuhr der Sankt Paulskirche elf schlug, konnte man ihn – groß, hager und ein wenig gebeugt – aus der niedrigen Tür eines einstöckigen Hauses treten sehen, dessen obere Räume er bewohnte. Er blieb dann auf dem Bürgersteig einen Moment stehen, schaute auf Seemannsart zu den Wolken hinauf und ließ die Augen über die Dachfirste gleiten wie über die Takelage eines Schiffes. Er trug einen etwas verschossenen, aber äußerst sorgfältig gebürsteten Überrock, in dessen Knopfloch ein breites Danebrog-Band steckte. Auf seinem weißhaarigen Kopf saß ein grauer Zylinder, und die linke Hand, mit der er sich auf seinen Schirm stützte, stak in einem alten faltenreichen Lederhandschuh.
Den rechten Arm auf dem Rücken, tappte er dann langsam und bedächtig die unebene Fliesenreihe entlang. Zur gleichen Zeit sah man im Spion, der vor dem Fenster des oberen Stockwerks hing, seine Frau, die ihm mit den Augen folgte, bis er glücklich über den tiefen Rinnstein an der Ecke der Elsdyrsgade gekommen war. In ihrer großgeblümten Nachtjacke, vor jedem Ohr eine Papillote aus Zeitungspapier, stand sie da oben und genoß den Anblick seiner wohlgepflegten Person mit selbstzufriedenem Stolz, als sei er ganz ihr eigenes Werk.
Sobald der Oberbootsmann an die Wache von Nyboder mit ihrem hohen Gerüst, an dem die Alarmglocke hing, gekommen war, nahm er den Schirm in die rechte Hand, um mit der linken grüßen zu können, falls einer von den Wachtposten ihm militärische Ehren erweisen sollte. Darauf legte er großen Wert, und er merkte es sich stets ganz genau. Dann bog er in die Kamelgade ein und hielt auf den Amalienborg Plads zu, wo er sich täglich auf den Glockenschlag genau zur Wachtparade einfand. Hatte er der Musik eine Weile zugehört, ging er über die Store Kongensgade und durch die Borgergade weiter in die Stadt hinein.
Hier, außerhalb seines früheren Machtgebietes, wo ihn keiner als Oberbootsmann Olufsen kannte, der den Danebrog-Orden aus des Königs eigener Hand empfangen hatte, wo er lediglich ein ganz alltäglicher Spaziergänger war, den die Leute ungestraft mit den Ellenbogen stoßen konnten, hier sank er unwillkürlich etwas im Rücken und in den Knien zusammen. Auf seinen schmerzenden Füßen stakste er zwischen den eiligen Passanten recht ängstlich dahin. Weiter als bis zur Købmagergade dehnte er seine Spaziergänge nie aus. Was jenseits dieser Straße lag, war für ihn nicht das richtige Kopenhagen, eher eine Art Vorstadt, die so abgelegen war, daß er es nicht zu fassen vermochte, wie jemand dort wohnen konnte. In seinen Augen waren die Adel- und die Borgergade die Hauptadern der Stadt. Die Gegend um die Grøngade, Sværte- und Regnegade mit dem Zollhaus und dem Holmen bildete seine Welt. War er auf seinem Spaziergang bis zum letzten Bürstenbinder in der Antonistræde gekommen oder in Mamsell Jordans Leihbücherei in der Silkegade gewesen, wo er ein Buch für seine Frau umtauschen mußte, dann kehrte er um und ging nach Hause.
Meistens dauerte es aber noch ein paar Stunden, bis er wieder in der Hjertensfrydgade war. Er besaß nämlich die Angewohnheit, an allen Straßenecken stehenzubleiben, um den Strom der Passanten und Wagen zu betrachten. Vor allem hatte er trotz seiner achtzig Jahre und seiner tränenden Augen einen wachen Blick für alle Dienstmädchen, und besonders für die mit nackten Armen. Wenn eine von ihnen im Vorübergehen zufällig dicht an ihm vorbeistrich, dann flüsterte er ihr irgendeine Liebeserklärung zu und eilte dann mit gesenktem Kopf kichernd weiter.
Er konnte es auch nicht lassen, vor allen Schaufenstern stehenzubleiben, die ausgestellten Waren zu betrachten und sich die Preise einzuprägen, von der Unterkleidung des Trikotagenhändlers bis zum Diamantschmuck des Goldschmieds. Nicht daß er die Absicht gehabt hätte, gelegentlich etwas von diesen Dingen zu kaufen – daran war er schon allein dadurch gehindert, daß seine Frau, die seine Schwäche für das weibliche Geschlecht kannte, ihm niemals Geld anvertraute –, aber es war ihm doch eine Genugtuung, mit leeren Taschen in die Läden zu gehen und die Höflichkeit der Geschäftsleute zu genießen. Er ließ sich die verschiedenen Waren vorlegen, fragte nach dem Preis der kostbarsten Stücke und humpelte dann mit dem Bescheid weiter, er werde noch »von sich hören lassen«.
Den Nachmittag verbrachte der Oberbootsmann zu Hause in seiner Wohnstube – »dem Saal«, wie es im Dialekt von Nyboder hieß. Das war ein kajütenähnlicher niedriger Raum mit einer Reihe kleiner Fenster zur Straße hin. Hier saß er an einem Fenster, hemdsärmelig, ein randloses Käppchen auf dem Kopf, und beobachtete stundenlang die zahmen Krähen, die aus den Anlagen kamen, auf dem Dachfirst der Häuser gegenüber krächzten oder sich unten an den Mülltonnen balgten, die zu dieser Tageszeit noch vor allen Türen der stillen, leeren Straßen standen. Hin und wieder schob sich jedoch eine Art Häutchen über seine altersschwachen Augen. Der Kopf sank ihm langsam auf die Brust, und sein Mund rundete sich.
»Nun sitzt du wieder da und kochst Erbsen, Vadder!« sagte dann seine Frau und spielte auf das eigenartige Brummen an, das der Oberbootsmann von sich gab, wenn der Schlaf ihn zu übermannen drohte. Sie hatte am Nachmittag ihren festen Platz auf einem niedrigen Stuhl am Ofen, wo sie strickte und gleichzeitig in einem abgegriffenen Roman las, den sie vor sich auf den Knien liegen hatte und dessen Seiten sie mit dem Ellenbogen umwendete, um ihre Strickarbeit nicht zu unterbrechen. Im Hinterzimmer, zu dem die Tür offenstand, saß oft ein junges blondes Mädchen, die Pflegetochter Trine, und nähte. Dort stand im Fenster ein Käfig mit einem Kanarienvogel, der auf seiner Stange hin und her hüpfte.
Madam Olufsen war fast so groß wie ihr Mann und hatte dazu eine Figur wie ein Kavallerist, ja sie besaß sogar die Andeutung eines grauen Schnurrbarts auf der Oberlippe. Vormittags war sie nicht gerade anziehend in ihrer großgeblümten Nachtjacke und mit ihren Papilloten aus Zeitungspapier. Hatte sie aber nach dem Mittagessen ein Korsett und ihr schwarzes Merinokleid angezogen und ihr dünnes Haar unter einer bebänderten Haube verborgen, aus der nun an den Schläfen sorgfältig gekämmte Löckchen hervorquollen und sich fast kokett von ihren noch nicht ganz verblühten Wangen abhoben, dann konnte man sehr gut verstehen, was sich die Einwohner von Nyboder über ihre einstige Schönheit erzählten.
Sie und der Oberbootsmann waren ein schönes Paar gewesen. Und auch ein glückliches Paar! Wenn es der Oberbootsmann auch mit der Treue nicht immer ganz genau genommen hatte, so war die Madam doch dafür um so treuer gewesen, obgleich es ihr in jungen Jahren an Versuchern nicht gefehlt hatte. Wenn man dem Gerücht glauben konnte, so hatte sogar ein Prinz, der stets den jungen Frauen von Nyboder nachstellte, deren Männer sich auf großer Fahrt befanden, ihr eines Abends an der Ecke der Haregade aufgelauert und ihr, nachdem er sich zu erkennen gegeben, ein galantes Abenteuer vorgeschlagen. Sie hatte tief geknickst, die Augen niedergeschlagen und war ihm dann schweigend in eine der dunklen stillen Alleen hinter dem Wall gefolgt. Doch hier in dieser abgelegenen Gegend hatte sie plötzlich die schmächtige ältliche Hoheit übers Knie gelegt und ihr aus Leibeskräften eine Tracht Prügel verabfolgt. Wohl war das nicht die erste Züchtigung, die der Prinz von einer gekränkten Frau Nyboders hatte hinnehmen müssen, aber sicher die nachdrücklichste.
Das Ansehen, das dieses betagte Ehepaar genoß, war also alten Datums. Ihr Haus war noch immer ein beliebter Sammelplatz für bestimmte Standespersonen des Viertels. In wenigen Häusern Nyboders gab es solch eine Geselligkeit wie bei den beiden Alten in der Hjertensfrydgade. Neben den üblichen Kirchenfesten und sogenannten Buß-und-Bet-Tagen, die überall mit gutem Essen und warmem Punsch festlich begangen werden, feierten sie eine lange Reihe von Familienereignissen und alljährlich wiederkehrenden Gedenktagen, die ganz privater Natur waren. Da gab es beispielsweise den Jahrestag, an dem der Kanarienvogel Peter in die Familie aufgenommen worden war, da war das Erinnerungsfest für die große Zehe des Oberbootsmanns, die man ihm einmal vor vielen Jahren wegen Knochenfraßes abgenommen hatte. Vor allem war da aber Madam Olufsens Schröpftag, der mit dem Frühling nahte, wenn Wärme in die Luft kam, und der eingeleitet wurde mit einem Schokoladenfrühstück für den Barbier, der die Operation ausführte.
Bei diesen Gelegenheiten bestand die Gesellschaft stets aus denselben sieben bis acht bewährten Freunden des Hauses, die nun seit mehr als vierzig Jahren wichtige Familienfeste miteinander gefeiert hatten: dem pensionierten »Oberzimmermann« Bendtz aus der Tulipangade, dem pensionierten Quartiermeister Morup aus der Delfingade, dem Oberkanonier Jensen und dem Bolzenschläger Fuss aus der Krokodillegade, alle mit ihren Frauen. Auch der Verlauf der Feste hatte sich seit einem Menschenalter kaum wesentlich geändert. Wenn die Gäste im Hinterzimmer versammelt waren, öffnete der Oberbootsmann die Tür zum »Saal«, wo bereits gedeckt war, und lud die Gesellschaft immer mit demselben Witz zu Tisch, es sei jetzt Zeit, sich »etwas ins Gesicht zu schieben«. Hatte man dann Platz genommen und die Wirtin die dampfende Gans oder den Schinken auf den Tisch gebracht, dann rief Bolzenschläger Fuss ebenso regelmäßig aus, wobei er sich mit erheuchelter Überraschung an die Stuhllehne zurückwarf: »Na, Madam Olufsen, da haben Sie aber ein ordentliches Ei gelegt!« Worauf die Madam ihn einen »alten Dröhnkopp« nannte und die Gäste aufforderte, sich wie zu Hause zu fühlen.
Zu diesem Zeitpunkt konnte es geschehen, daß die Tür aufging und ein kraushaariger junger Mann eintrat, der allgemein mit Freudenrufen begrüßt wurde. Die alten Leutchen standen alle ehrerbietig auf und reichten ihm die Hand. Trine – die Pflegetochter – errötete plötzlich und holte eilfertig einen Stuhl aus dem Nebenzimmer, legte ein frisches Gedeck auf und brachte einen vorgewärmten Teller aus der Küche.
Der Fremde, ein einundzwanzigjähriger Student am Polytechnikum, war Olufsens Mieter Sidenius. Er bewohnte seit ein paar Jahren im Erdgeschoß zwei winzige Zimmer, die zum Haus des Oberbootsmanns gehörten, und war hier der Liebling aller.
Allmählich, je leerer die Schüsseln und Schnapsflaschen wurden, stieg auch die Stimmung. Nur eine blieb immer schweigsam und still: die kleine Trine, die sich um alles kümmerte. Sie füllte die Gläser, reichte Brot herum, wechselte die Teller, putzte die Kerzen, wußte, wo die Salzfässer standen, hob verlorene Taschentücher auf, brachte Wasser für die Damen, wenn einer von ihnen schlecht wurde oder sie Schluckauf bekam – alles so ruhig und lautlos, daß niemand ihre Anwesenheit bemerkte. Es war, als bediene ein unsichtbarer Geist. Nun war sie auch leicht zu übersehen, denn trotz ihrer neunzehn Jahre war sie klein und unentwickelt. Die alten Leute betrachteten sie noch als ein Kind, obendrein als ein sehr beschränktes. Tatsächlich mangelte es ihr ein wenig an Verstand. Sie war eine arme Waise, die der Oberbootsmann und seine Frau zu sich genommen hatten und deren Herkunft keiner kannte. Eine Schönheit war sie wahrhaftig nicht, und sogar für den jungen Herrn Sidenius war sie nichts weiter als ein unauffälliges dienstbares Etwas, das seine Schuhe putzte und seine Sachen zur Wäscherin brachte.
Wenn dann die Punschbowle und der gezuckerte Apfelkuchen auf dem Tisch standen, belustigte man sich eine Zeitlang mit dem Gesang geselliger oder vaterländischer Lieder. Hierbei zeichnete sich vor allem Madam Fuss durch einen – mehr seiner Lautstärke als seiner Schönheit wegen – bewunderten Diskant aus.
Während des Gesanges verschwand Trine plötzlich, jedoch nicht ohne sich vorher vergewissert zu haben, daß auf dem Tisch nichts fehlte und alle Gäste versorgt waren. In der Küche zündete sie an der Glut auf dem offenen Herd eine Kerze an und stieg dann die schmale, steile Treppe des Hauses – eine Art Schiffsstiege – hinunter, um Herrn Sidenius' Zimmer für die Nacht herzurichten. Die beiden Stuben waren klein, dunkel und feucht. Ihre armselige Ausstattung bestand aus einem schmalen Wachstuchsofa und einem Klapptisch, auf dem Bücher, Zeichengeräte und große Papierrollen mit Abdrücken von Tintenfingern bunt durcheinanderlagen.
Trine stellte das Licht auf den Tisch, öffnete ein Fenster und stand einen Augenblick träumend da. Sie hatte die Hand auf den Fensterrahmen gestützt und sah in den winzigen, von ein paar Zaunplanken und einem Bedürfnishäuschen begrenzten Garten hinaus, über den romantisch der Vollmond schien. Dann fuhr sie plötzlich zusammen, gleichsam aufgeschreckt von ihren eigenen Gedanken. Und nun ging sie mit Eifer und Geduld daran, Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Sie sammelte die Kleidungsstücke auf, die ringsum auf den Stühlen lagen, und hängte sie hinter einen Eckvorhang im Schlafzimmer. Auch die Bücher auf dem Tisch ordnete sie und legte die vielen kleinen Zeichengeräte in die jeweils genau angepaßten Vertiefungen der Etuis. Obwohl ihr junger Herr sich nie bemüßigt gefühlt hatte, ihr darin eine Anleitung zu geben, wußte sie doch ganz genau, wo alles seinen Platz hatte und wo er es zu finden erwartete – ja forderte. Mit dem Instinkt, den die Liebe auch bei einfältigen Menschen weckt, hatte sie sich das alles selbst angeeignet, hatte seine Gewohnheiten ausfindig gemacht, seine Wünsche erraten und stets den Weg durch das Labyrinth der Launen und unberechenbaren Einfälle gefunden, die zum wirklichen, echten Wesen eines jungen Mannes führen. Ein für allemal hatte er sie wissen lassen – und bei dieser Gelegenheit mit schreckeneinflößender Grimasse den Finger erhoben –, sie müsse es als ihre Lebensaufgabe betrachten, ihn zu bedienen. Für die gewissenhafte Erfüllung dieser Pflicht werde Gott sie einst beim Jüngsten Gericht zur Verantwortung ziehen.
In dem aufrichtigen Glauben, einer heiligen Berufung zu folgen, war sie denn auch jetzt in den beiden Kämmerchen damit beschäftigt, seine Habseligkeiten zu ordnen. Mit besonderer Ergriffenheit verweilte sie in dem kleinen Schlafraum. Sie machte sein Bett, stellte die Hausschuhe bequem zurecht, daß die Spitzen nach innen zeigten, und legte die Streichholzschachtel auf die dem Bett zugekehrte Seite des Leuchters. Als sie schließlich das Kopfkissen in die Hände nahm, um die Federn aufzuschütteln, preßte sie es für einen Augenblick an ihr Herz und schloß selig die Augen.
Oben im »Saal« waren die Alten unterdessen immer ausgelassener geworden. Bolzenschläger Fuss hatte seine Gitarre hervorgeholt und trotz der Proteste der Frauen angefangen, den berüchtigten Gassenhauer zu singen: »Eine vollgefressene Alte saß einst am alten Strand . . .«
Die Männer jubelten. Auch der junge Sidenius lachte, und in dem vierundachtzigjährigen Oberzimmermann Bendtz gluckste es wie in einer Flasche. Die Frauen aber standen beleidigt auf und zogen sich in das hintere Zimmer zurück, wo nun der Kaffee mit den dazugehörenden Zuckerkandis und Likör aus schwarzen Johannisbeeren aufgetragen wurden.
Erst gegen Morgen brach die Gesellschaft auf, und die einzelnen Ehepaare schaukelten versöhnt und so glückselig heimwärts, daß sie sich zu Küssen und Liebkosungen und zärtlichen Umarmungen mitten auf offener Straße hinreißen ließen.
Bei diesen lebensfrohen bejahrten Leuten, die noch in ihrem hohen Alter den Becher des Genusses ohne Anfechtungen bis zur Neige leerten, hatte Peter Andreas sein erstes Asyl gefunden, eine vorläufige Freistatt auf seinem Weg in das Land des Glücks, das er erträumte. Hier waren Wohlwollen und Verständnis gerade dem Teil seines Wesens entgegengebracht worden, den man daheim im Pfarrhaus stets als ein Werk des Todes und des Teufels hatte unterdrücken und brandmarken wollen. Besonders in seinen ersten einsamen Kopenhagener Jahren war er für dieses Heim und das fröhliche idyllische Nyboder dankbar gewesen, das wie ein vergessenes Stück Provinz mitten in der Hauptstadt lag. Später, als sich sein Bekanntenkreis allmählich erweiterte, war sein Verhältnis zu den beiden Alten und ihrem kleinen Freundeskreis allerdings recht flüchtig geworden. Doch abgebrochen wurde es nie. Die Alten fuhren fort, ihn zu vergöttern und sich um sein Wohlergehen zu sorgen, als sei er einer der Ihren. Es hatte nicht lange gedauert, da hatten sie seine Armut entdeckt, obwohl er alles tat, um sie zu verbergen. So manches Mal wäre er mit leerem Magen zu Bett gegangen, wenn ihn Madam Olufsen nicht zart und rücksichtsvoll eingeladen hätte, einen frischen Käse zu »probieren« oder ihr »seine Ansicht« über ihren frisch gekochten Schinken mitzuteilen.
Einen richtigen Einblick in seine Verhältnisse konnten sie jedoch trotzdem nicht gewinnen. So lebhaft und redselig er mitunter auch sein konnte, über sich und seine Ziele sprach er nie oder aber nur im Scherz. Wenn sie in ihn drangen, antwortete er in der Regel, er »werde wohl noch mal Minister«. Auch über sein Elternhaus und sein Verhältnis zu seiner Familie schwieg er hartnäckig, obwohl besonders Madam Olufsen nie müde wurde, ihn darüber auszufragen. Er hatte sich vorgenommen, das Vergangene als etwas Vergessenes, Totes zu betrachten, das nicht einmal als Erinnerung in seinem Leben herumspuken sollte. Er hatte sich bemüht, all die bitteren und demütigenden Erinnerungen in seiner Seele auszulöschen, damit sie wieder wie eine unbeschriebene Marmortafel werde für die funkelnde Goldschrift seines Glücks und Sieges. Darum gab es weder auf seinem Tisch noch an den Wänden ein Bild, das ihn an sein Zuhause erinnern oder anderen davon berichten konnte. Sein Elternhaus hatte er verlassen und wollte es nicht wiedersehen, bis er kommen konnte, um Rechenschaft zu fordern und Gericht zu halten. Wäre er plötzlich gestorben, hätte man in seinen verborgensten Fächern auch nicht einen Brief, nicht eine Aufzeichnung gefunden, die darüber Auskunft gab, wer er war und woher er stammte. Sogar seinen Namen hatte er soweit wie möglich geändert, um jede Erinnerung an die Vergangenheit zu tilgen. Er schrieb sich nicht mehr Peter Andreas, sondern schlicht Per. Es bereitete ihm Kummer, daß er sich nicht auch einen anderen Familiennamen zulegen konnte.
Sein Kontakt zum Elternhaus hatte sich allmählich auf kurze Briefe beschränkt, in denen er vierteljährlich lediglich die Geldsendung bestätigte, die er noch immer von dort erhielt. Sie war aber völlig unzureichend, denn sein Studium erforderte große Ausgaben für Vorlesungen, Bücher, Zeichen- und Malutensilien und so weiter. Um überhaupt leben zu können, gab er seit seinem achtzehnten Lebensjahr Rechenstunden in einer Knabenschule und kopierte Arbeitszeichnungen für einen Handwerksmeister.
Zeitweise war er sehr mißmutig. Er fühlte sich entwürdigt durch seine Armut und vor allem durch den Unterricht an der Knabenschule, den er nie erwähnte. Doch noch mehr bedrückte es ihn, daß er an seinem Studium und an den zukünftigen Möglichkeiten zu zweifeln begann, die es ihm verschaffen sollte.
Als er sich vor vier, fünf Jahren zum erstenmal der polytechnischen Lehranstalt genähert hatte, war dies mit fast andächtiger Erwartung geschehen. Er hatte sie sich als eine Art Tempel vorgestellt, als eine erhabene Werkstatt der Gedanken, wo das künftige Glück und Wohl der befreiten Menschheit unter dem Blitz und Donner des Geistes geschmiedet wurde – und er fand ein häßliches, unansehnliches Bauwerk im Schatten eines alten Bischofssitzes. Darin gab es viele dunkle, trübselige Räume, in denen es nach Tabak und Butterbroten roch und viele junge Burschen über kleine papierbeklebte Pulte gebeugt standen, während andere mit langen Pfeifen dasaßen, in ihren Kollegheften lasen oder heimlich Karten spielten. Seine Lehrer hatte er sich als leidenschaftliche Verkünder des heiligen Evangeliums der Naturwissenschaft vorgestellt, und nun traf er in den Vorlesungssälen ein paar alte langweilige Schulmeister, die sich nicht sonderlich von denen daheim unterschieden. Einer von ihnen, eine wandelnde Mumie, dessen Stimme während der Vorlesung jeden Moment versagte und dann mit einem Schluck Medizin wieder aufgefrischt werden mußte, unterrichtete noch auf der Grundlage von Erinnerungen aus den Zeiten Hans Christian Ørsteds. Ein anderer – Professor Sandrup, Lehrer für das eigentliche Ingenieurwesen – trug stets einen weißen Schlips und sah fast aus wie ein Kandidat der Theologie oder wie ein Pastor. Er stand in dem Ruf großen theoretischen Wissens, doch er war ein Pedant, der mit pädagogischer Genauigkeit endlose wissenschaftlich formulierte Beschreibungen selbst der einfachsten Geräte wie Axt und Schubkarre ausgearbeitet hatte und verlangte, daß man diese beim Examen Wort für Wort wiederkäute.
Überall wurde Per darüber belehrt, daß ein brauchbarer Ingenieur schon lange nicht mehr ein stolzer, durch die Welt streifender Märchenheld sei, wie er es sich vorgegaukelt hatte, sondern ein ganz gewöhnlicher Büroangestellter, eine gewissenhafte Rechenmaschine, eine an ein Zeichenbrett gekettete lebende Tabellensammlung. Weitaus die meisten seiner Kommilitonen – gerade diejenigen, die von Lehrern wie von Schülern für die begabtesten gehalten wurden – träumten denn auch nur davon, einst irgendeine feste, gesicherte, wenn auch noch so untergeordnete Stellung als Beamter zu finden, die ihnen gestattete, sich als Familienväter mit bescheidenen Ansprüchen in einem Häuschen mit Gärtchen einzurichten, um dereinst nach vierzigjährigem treuem Dienst mit einer kleinen Pension und einer kleinen Auszeichnung oder einem Justizratstitel ihren Abschied zu erhalten.
Doch für Per hatten solche Aussichten nichts Verlockendes. Für Alltagsleben und billiges Glück fühlte er sich nicht geschaffen. Er spürte Herrscherblut in seinen Adern und forderte am Tisch des Lebens einen Ehrenplatz unter den freien und unabhängigen Männern der Erde.
Schon seit langer Zeit hatte er sogar das Mittel ausersehen, durch das er die ersehnte stolze Unabhängigkeit zu erlangen hoffte. Während er seine Vorlesungen und Übungen einigermaßen regelmäßig besuchte und auch die demütigenden Nebenbeschäftigungen nicht vernachlässigte, durch die er sich seinen Lebensunterhalt sicherte, hatte er insgeheim begonnen, einen Entwurf für ein großes Wasserbauprojekt, für eine Fjordregulierung, auszuarbeiten. Diesen Plan hatte er bereits in seinem ersten Kopenhagener Studienjahr gefaßt. Die Idee hierzu lag sogar noch weiter zurück. Sie reichte bis in seine Kindheit hinein. Damals war viel die Rede davon gewesen, die aussterbende Schiffahrt auf dem Fjord durch eine Vertiefung und Regulierung des Fahrwassers und durch den Ausbau des Hafens wiederzubeleben – ein Unternehmen, über das sich sein Vater sehr geringschätzig geäußert hatte, weil es beträchtliches Aufsehen in der Stadt erregte, und das dann schließlich aufgegeben worden war. Schon damals hatte Per davon geträumt, den großen Plan zu vollenden und die frischen Meeresströmungen und die goldenen Fluten des Welthandels in den armseligen Apfelschutenhafen zu lenken. Und der Traum, der Wohltäter jener Stadt zu werden, die Zeuge seiner Erniedrigung gewesen war, hatte ihn eigentlich seitdem nie mehr ganz losgelassen. Besonders nach dem letzten mißglückten Weihnachtsbesuch beherrschte ihn diese Vorstellung immer stärker. Sie ließ ihm in seiner Einsamkeit keine Ruhe mehr, wurde zur fixen Idee, die zu verwirklichen er schließlich in einer Art religiöser Überzeugung als die ihm vom Schicksal bestimmte Aufgabe und als das vorläufige Ziel seines Lebens betrachtete.
Seit drei Jahren, seitdem er gelernt hatte, ein Kanalprofil nach den Höhenangaben einer Generalstabskarte aufzustellen, hatte er an diesem Werk gearbeitet. Tagaus, tagein hatte er Stunden seines Nachtschlafs dafür verwendet, Bodenflächen und Strömungsgeschwindigkeiten zu berechnen, Faschinen, Glacis, Brückenköpfe und Dalben zu zeichnen. Er erweiterte seinen Plan Jahr für Jahr, fügte Neues hinzu, entwarf ihn in immer größeren Dimensionen. Angeregt von einigen bekannten deutschen Fachzeitschriften, die er sich zugelegt hatte, war er so auf den Gedanken gekommen, das vertiefte Fahrwasser hinter der Stadt als Kanal oder als ein Kanalsystem nach holländischem Muster weiterzuführen. Was ihm als das letzte, höchste Ziel vorschwebte, war ein Netz von breiten Wasseradern, das alle größeren Flüsse, Seen und Fjorde Mitteljütlands miteinander verband und die aufgeforstete Heide mit den darin erblühenden neuen Städten sowohl mit der Ost- als auch mit der Nordsee in Verbindung brachte.
Aber sooft sich seine Gedanken zu hohem Flug erhoben, überfiel ihn Mißmut. Die zottigen Kobolde der Ohnmacht lagerten sich um den Arbeitstisch und lachten höhnisch über seine kühnen Träume. Du bist verrückt! schrien sie. Ehe du nicht alt und grau bist, brauchst du dir keine Hoffnungen zu machen, daß man dir hierzulande irgend etwas gestattet. Hier gilt es als Vermessenheit, wenn ein junger Mann noch einen anderen Ehrgeiz hat, als sich auf einem Bürostuhl krumm und bucklig zu sitzen. Ein Ingenieur, der sich die Achtung seiner Mitbürger und das Vertrauen seiner Vorgesetzten bewahren will, darf allerhöchstens darauf hoffen, eine Stellung als Königlicher Straßenmeister zu erhalten. Hast du etwa vergessen, was dein ehrwürdiger Lehrer, der gottesfürchtige Professor Sandrup, dir damals mit soviel väterlichem Ernst ans Herz legte, als du bei einer Prüfung all das Neue vortrugst, das du dir durch deine – von keinem vorgeschriebene – Lektüre moderner deutscher Schriften angeeignet hattest: »Bemühen Sie sich, junger Mann, Ihr gänzlich unpassendes Bedürfnis nach Selbständigkeit zu bekämpfen!« Nicht wahr? Lehrreiche Worte! Verheißungsvolle Worte!
Doch nur selten gestattete Per solchen bitteren Gedanken, ihn zu peinigen. Dazu war er zu jung, sein Sinn zu wechselhaft. Ein kurzer Spaziergang, der Blick eines schönen Mädchens, ein Festessen bei den beiden Alten oder ein Abend unter Freunden in einem Café – mehr gehörte im allgemeinen nicht dazu, um seine schlechte Laune wieder zu vertreiben. Besonders die Frauen waren wirksame Blitzableiter, wenn ein Stimmungsgewitter aufzuziehen drohte. Er war jetzt einundzwanzig Jahre alt, und das andere Geschlecht übte immer mehr Anziehungskraft auf ihn aus, ergriff die Herrschaft über seine Phantasie und gab ihr einen neuen Horizont.
Eines Abends ging Per mit einem Bekannten in ein altertümliches Schweizer Café, das ein beliebter Treffpunkt für die künstlerische und literarische Halbwelt der Stadt war. Während sein Begleiter ihm interessiert einige der bekanntesten Künstler und Schriftsteller unter den Gästen zeigte, richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf ein junges Mädchen, das hinter der Theke stand – eine hochgewachsene schlanke Gestalt mit prachtvollem goldrotem Haar.
»Das ist die rote Lisbeth«, erklärte der andere. »Die hat zu Iversens ›Venus‹ und zu Petersens ›Susanne‹ Modell gestanden. Die ist nicht übel, was? Dieser Teint!«
Von diesem Tag an war Per häufig Gast im Café, besonders zu der Zeit, wenn es weniger besucht war. Er hatte sich in das junge Mädchen verliebt, und weil es sich zeigte, daß die Sympathie gegenseitig war, kam es bald zu einem vertrauten Verhältnis.
Mit den Jahren war Per in seinem Äußeren ziemlich eitel geworden. Er war breit und kräftig, hatte eine gerade Stirn, dunkles krauses Haar und große blaue Augen unter zusammengewachsenen Brauen. Über seinem vollen Mund zeichnete sich ein Schnurrbart ab. Da Madam Olufsen ihn mit mütterlicher Fürsorge umhegte, war er fast noch ebenso wohlgenährt wie in seiner Jugendzeit. Auch seine Wangen hatten ihre ländliche Ziegelsteinfarbe nicht verloren. Wenn er unter Menschen war, lächelte er meistens, ohne es selbst zu wissen. Dieses stete, ein wenig leere Lächeln täuschte leicht diejenigen, die ihn nicht kannten, so daß sie ihn für eine kindliche Natur in schönster Harmonie mit dem Dasein hielten. Überhaupt war es ihm nicht ganz gelungen, den Provinzler abzuschütteln. Doch wenn er seinen besten Anzug anhatte, machte er eine recht stattliche Figur. Er hielt sich gerade und bewegte sich mit viel Anstand. Obwohl er häufig unter Geldmangel litt, vernachlässigte er seine Kleidung nie. Wenn er sich auf der Straße zeigte, war er stets adrett und peinlich sauber angezogen. Er hatte schon genug Welterfahrung, um zu wissen, daß in bestimmten Augenblicken eine weiße Hemdbrust und ein tadellos sitzender Anzug größere Bedeutung für die Zukunft eines jungen Mannes haben konnten als jahrelanger entsagungsvoller Fleiß, daß noch nichts verloren war, solange man den Schein wahrte. Zu Hause hingegen ging er nachlässig gekleidet. Er fand sogar eine gewisse Behaglichkeit und Befriedigung darin, seine alten Sachen abzutragen.
Das Café, in dem er nun Stammgast geworden war und in dem er viel Zeit und noch mehr Geld vergeudete, als er sich selbst eingestehen wollte, war das sogenannte »Gryde«, die Stammkneipe einer oppositionellen Gruppe von Künstlern, die sich die »Unabhängigen« nannten. Es war ein Kreis jüngerer und einzelner älterer Schöngeister, wirklicher Begabungen, die jedoch alle mehr oder weniger irgendwie stehengeblieben waren. Entweder waren sie noch nicht ganz erwachsen oder aber zu früh alt geworden. Da saß am Abend bei einem schäumenden Krug Bier, breitschultrig und hünenhaft, in kurzer Seemannsjacke und mit krausem Haupt- und Barthaar der sehr umstrittene Marinemaler Fritjof Jensen – ein genialer, phantasievoller Künstler, ein sympathischer Bruder Lustig, doch haltlos und unzuverlässig wie ein Bursche im Übergangsalter. Jeden Vormittag saß dort der kranke Dichter Enevoldsen in schwermütiger Einsamkeit und putzte seine Lorgnette, strich zärtlich über seine Hände oder verlor sich im Genuß einer Zigarre. So hatte er schon seit Jahren dort gesessen und bei allerlei kleinen Beschäftigungen seine farbensprühenden Verse ziseliert, kleine Meisterwerke, die einen ganz neuen Ton in der dänischen Dichtkunst anschlugen. Da fand man auch den jungen naturalistischen Figurenmaler Jørgen Hallager mit dem Bullenbeißergesicht – den Aufwiegler und Anarchisten, der den Staat stürzen, die Kunst reformieren, die Akademiker abschaffen und alle Professoren aufhängen wollte, sich aber rechtschaffen als Retuscheur bei einem Photographen ernährte. Und da war der alte Spottvogel, der Journalist und Lustspieldichter Reeballe, ein krummbeiniger, perücketragender Zwerg mit einem blank schimmernden und einem trüben Auge, dessen langer gelblichweißer Bocksbart über seine stets angeschmutzte Hemdbrust herabhing – das ewige Opfer aller Karikaturisten in den Witzblättern der Stadt. Einen zerkauten Zigarrenstummel im Mundwinkel, eine Hand oder auch beide hinter den Hosenbund geschoben, trieb er sich oft ziemlich betrunken zwischen den Tischen umher, setzte sich bald hier, bald dort nieder, zuweilen zu völlig fremden Leuten, und mischte sich sinnlos schwatzend in ihre Gespräche. Auch er wollte die Welt reformieren, jedoch in klassischem Geist. Sein Ideal war Sokrates, sein Standpunkt die klare, nüchterne Erkenntnis. In Augenblicken, da seine Sinne völlig umnebelt waren, schlug er sich gern an die Brust und nannte sich den »letzten Griechen«.
Obwohl Per sehr viel jünger war als diese Männer und sich ihnen nicht genähert hatte, wurde ihm die Ehre zuteil, in ihren Kreis aufgenommen zu werden, einesteils wegen seiner »malerisch roten Wangen« – wie Fritjof Jensen es einmal ausdrückte –, vor allem aber wegen seines Verhältnisses zu Lisbeth, die der Liebling aller Stammgäste war. Ihrem schönen seidenen Haar und ihrer zarten Haut verdankten einige von ihnen die Hälfte ihres Ruhmes. Als Entgelt dafür erwiesen sie ihr die Aufmerksamkeit, stets ihren gerade bevorzugten Verehrer anzuerkennen, selbst wenn der Betreffende nicht der begnadeten Künstlerzunft angehörte.
Dennoch fühlte sich Per in der Gesellschaft dieser Menschen stets fremd, und es war nicht lediglich Bescheidenheit, wenn er sich nur selten in ihre Gespräche einmischte. Er hatte weder Sinn für Malerei noch für Poesie. Seine Phantasie fand in seinem Studium reichlich Nahrung. Die Einbildungskaft wurde völlig von seinem großen Zukunftswerk beansprucht, daß für die Kunst nichts mehr übrigblieb.
Trotzdem war er kein uninteressierter Zuschauer. Heimlich amüsierte er sich über diese wunderlichen Menschen, die wegen einer Farbzusammensetzung in Harnisch geraten und sich wegen vier gereimter Zeilen in Ekstase reden konnten, als hinge das Wohl der Menschheit von deren richtigem Verständnis ab. Per genoß solche Szenen wie ein komisches Schauspiel. Im stillen mußte er lachen, als er bemerkte, daß auch Lisbeth von dieser Tollheit angesteckt war. In ihrem Stolz auf die Bedeutung ihres Körpers für die Kunst wollte sie ihr Leben aufgefaßt wissen als begeisterte Hingabe zur Verherrlichung des Schönen.
Unter all diesen Menschen war einer, der sich ganz besonders um Per bemühte, ein Mann, der ebenfalls nicht in diesen Kreis gehörte und hier nicht einmal gern gesehen war. Es war ein gewisser Ivan Salomon, ein junger Jude, der Sohn eines der reichsten Männer der Stadt – ein kleiner behender Bursche, stets lächelnd, stets diensteifrig und sehr beglückt, unter so vielen berühmten Künstlern verweilen zu dürfen. Sein ehrgeiziger Traum war, einmal ein Genie zu entdecken und zu fördern. Beständig war er auf der Jagd nach irgendeinem verborgenen oder verkannten Talent, dessen Beschützer er werden konnte. In jeder auffälligen Besonderheit – tiefliegenden Augen, kräftig geformter Stirn oder auch nur ungeschnittenem Haar – sah er sofort ein Zeichen von seltenen Fähigkeiten. Es gab manch lustige Geschichte darüber, welche Enttäuschungen er hierbei schon erlebt hatte.
Offenbar hatte er nun seine Hoffnung auf Per gesetzt, der sich jedoch durch seine Aufmerksamkeiten sehr belästigt fühlte. Besonders seine Schmeicheleien waren ihm gründlich zuwider. Es war Per unangenehm, wenn Salomon, wobei er recht unverblümt auf seine schnellen Erfolge bei Lisbeth anspielte, ihm lächelnd erzählte, er sei ein ausgeprägter Aladdin-Typ, ein Glückskind, auf dessen Cäsarenstirn mit dem Finger Gottes geschrieben stehe: Ich komme, ich sehe, ich siege! Diese Worte wirkten auf Per dennoch angenehm und ließen ihn in seinem innersten, verborgensten Wesen erbeben. Es schien ihm nur peinlich und demütigend, daß er diese Prophezeiung zum erstenmal aus dem Mund eines albernen kleinen Juden hören mußte.
Eines Abends kam Per gegen Mitternacht ins »Gryde« und geriet mitten in ein stürmisches Bacchanal. Der große Fritjof Jensen – Fritjof, wie er kurz von allen genannt wurde – feierte den Verkauf seines vier Ellen großen Gemäldes »Orkan in der Nordsee« an einen Buttergroßhändler und hielt alle frei. In einem Zimmer, das durch einen Gang von den übrigen des Cafés getrennt war, hatte man einige kleine Tische in eine Reihe gestellt. Hier saßen an die zwanzig Gäste bei zwei weinlaubbekränzten Bowlen mit Champagnerpunsch.
Am oberen Tischende, von Tabakswolken umgeben, thronte Fritjof wie ein olympischer Gott. Vor ihm stand sein mächtiger Stammpokal, genannt der »Bodenlose«. Man konnte es an seinen getrübten Augen sehen und an seiner heiseren Stimme hören, daß er nicht mehr nüchtern war. Seit mehr als vierundzwanzig Stunden war er ruh- und rastlos unterwegs gewesen, hatte die Nacht und den Tag in Austernkellern, bei leichten Mädchen, draußen im Wald und in Weinstuben zugebracht und dabei aufgegriffen, was er an Freunden und Bekannten von Freunden traf.
Es wurden auch Reden gehalten. Ein blasser junger Mann mit mephistophelischen Zügen sprang auf seinen Stuhl und ließ einen Abwesenden, einen gewissen Dr. Nathan, mit schreiender Stimme hochleben. Per hatte bereits häufig von diesem Mann gehört, über den man stets mit großer Begeisterung sprach. Er war ein Literaturkritiker und beliebter Philosoph, der als der geistige Führer gewisser jüngerer Akademiker galt und der sich, unzufrieden mit den Verhältnissen in der Heimat, in Berlin niedergelassen hatte. Mehr wußte Per nicht von ihm, obwohl man kaum eine Zeitung oder eine satirische Zeitschrift in die Hand nehmen konnte, ohne auf seinen Namen zu stoßen. Dr. Satan, so nannte man ihn unweigerlich in den Witzblättern. Die Tatsache, daß er Jude war, hatte dazu beigetragen, daß Per nie das Bedürfnis verspürte, Näheres über ihn zu erfahren. Er liebte nun einmal diesen Volksstamm nicht und hatte außerdem für Literaten nichts übrig. Jener Doktor hatte sogar Vorlesungen an der Universität gehalten, an dieser theologisch besudelten Brutstätte akademischer Spießbürgerlichkeit, die in Pers Augen das eigentliche Unglück des Landes war.
Der blasse junge Redner, der da auf dem Stuhl stand und begeistert mit den Armen focht, war der Dichter Poul Berger. Unter Zustimmung aller Zechbrüder nannte er Dr. Nathan zuerst seinen Helden, darauf seinen Gott. Als er schließlich sein Glas geleert hatte, zerdrückte er es seinem Idol zu Ehren in der Hand, daß ihm das Blut über die Finger lief.
Per saß mit offenem Mund dabei. Er hatte das Gefühl, in einem Irrenhaus zu sein.
Im Laufe der Nacht erhielt die Gesellschaft ständig neuen Zuwachs. Um mehr Plätze zu schaffen, mußte man zuletzt noch ein paar kleine Tische hereinbringen. Aus praktischen Gründen wurden sie nicht mehr in die Reihe gestellt, sondern an die Seiten, so daß die ganze Gesellschaft ein Kreuz bildete.
Da hörte man plötzlich ein Gebrüll und einen krachenden Schlag auf den Tisch. Es war Fritjof, der schrie: »Wir wollen hier nicht unter diesem verdammten Galiläerzeichen sitzen! Mir wird kotzübel von so viel Frömmigkeit! Bilden wir lieber ein Hufeisen! Wir wollen uns dem Teufel verschreiben, indem wir seine Fußbekleidung ehren! Macht Platz, Freunde!«
Als man ihm den Gefallen getan hatte und alle nach der Störung wieder an den Tischen saßen, erhob er seinen gefüllten Pokal. »Ich grüße dich, Luzifer! Du heiliger Empörer! Du Schutzgeist der Freiheit und der Freude! Du Gott aller jungen Teufel! Gib mir noch manchen fetten Buttergroßhändler, und ich will dir einen Altar aus Austernschalen und leeren Champagnerflaschen errichten! He, Wirt! Gripomenus! Mehr Wein her! Ein Meer von Wein! Ein Taufbad in Wein, meine Freunde! He, hört denn niemand!«
Der Wirt, ein kleiner untersetzter Schweizer in kurzer Jacke, tauchte an der Tür des Cafés auf, das schon längst geschlossen und dunkel war. Er zog bedauernd die Schultern hoch und bat mit beklagenden Gebärden die Herren um Entschuldigung, doch er dürfe heute abend nichts mehr servieren. Es sei schon nach zwei Uhr, und der wohlwollende Nachtwächter habe schon einmal warnend an sein Fenster geklopft.
»Die Uhr? Die Uhr!« ereiferte sich Fritjof. »Wir sind Götter, Gripomenus! Die Uhr ist für Schuster und Schneider!«
»Ja, und für Cafébesitzer – leider Gottes!« antwortete der gedrungene Wirt und faltete mit zur Seite geneigtem Kopf die Hände vor der Brust. Als er merkte, daß sein Witz Anklang gefunden hatte, fügte er mit einem Lächeln hinzu, er freue sich darauf, die Herren am nächsten Tag wiederzusehen. Sie könnten so früh kommen, wie sie wollten. »Wir haben schon um sieben Uhr geöffnet.«
Nun aber warf sich Fritjof in den Stuhl zurück und griff tief in seine rechte Hosentasche. »Ich sage, Wein will ich haben!« schrie er, und dabei streute er eine Handvoll Goldstücke über den Tisch, daß sie klirrend nach allen Seiten hinunterrollten. »Hier, das ist Butter! Wollt ihr noch mehr haben? Sauft, Freunde! Laßt den Dreck liegen! Wir sind keine Spießbürger!«
Doch diese Großzügigkeit war den anderen ein wenig zu olympisch. Sie wurden plötzlich recht nüchtern und machten sich eilig daran, das Geld vom Fußboden aufzuheben, während Fritjof weiterbrüllte: »Wein – Wein und Weiber wollen wir haben! Wein, sage ich!«
Allmählich löste sich das Trinkgelage dennoch auf. Der Wirt zog höflich jeden einzeln beiseite und bat ihn eindringlich, doch »wegen der Polizei« das Lokal zu verlassen, worauf er sie einen nach dem anderen zur Hintertür hinausließ. Nur Fritjof war unerbittlich und lärmte immer weiter.
Zuletzt war niemand mehr da außer Per. Doch als auch er gehen wollte, hielt ihn Fritjof am Ärmel zurück und drohte, bettelte, ja flehte ihn fast mit tränenerstickter Stimme an, noch zu bleiben.
Schließlich ließ sich Per überreden. Er konnte es nicht verantworten, den Maler in dieser überspannten Gemütsverfassung allein zu lassen. Unter der Bedingung, daß sie sich ruhig verhielten, brachte Gripomenus ihnen Kaffee und Kognak, worauf er kopfschüttelnd in sein Gelaß zurückschlurfte.
Fritjof pflanzte beide Ellbogen auf die Tischplatte und stützte sein bärtiges Gesicht in die Hände. Er war auf einmal schweigsam geworden, hatte die Augen halb geschlossen und starrte vor sich hin.
Per saß ihm am Tisch gegenüber und zündete sich eine frische Zigarre an. Genau über ihren Köpfen brannte die einzige, halb heruntergeschraubte Gasflamme. Der übrige Teil des großen Raumes war durch den grauen Schleier von aufgewirbeltem Staub und Tabaksqualm kaum noch zu erkennen. Ringsum standen Stühle und Tische wirr durcheinander, wie die Gäste sie verlassen hatten. Zigarrenasche, Champagnerkorken und zerbrochene Gläser lagen auf den Tischen. Aber jetzt war alles still – so auffallend still nach dem wüsten Lärm, daß man meinte, jeder Laut müsse ein gespenstisches Echo in allen Ecken hervorrufen.
Weil Fritjof noch immer stumm blieb, glaubte Per schließlich, er sei eingeschlafen. Mit seinem Glas stieß er gegen Fritjofs und sagte: »Prost!«
Doch statt ihm Bescheid zu tun, begann Fritjof melancholisch über den Tod zu reden. Unsicher blickte er mit seinen wie blind wirkenden Augen zu Per hinüber und fragte ihn, ob ihm nicht bisweilen unheimlich zumute sei, wenn er »an das da« denke – »was es auch sein mag – da jenseits des Grabes«.
Per, der solche Anwandlungen nicht kannte und noch viel zu erfüllt war von der Gegenwart, als daß er sich über das mögliche Zukünftige hätte Gedanken machen können, glaubte zuerst, der andere triebe Spaß, und begann zu lachen.
Doch da ergriff Fritjof seinen Arm und sagte halb ängstlich, halb befehlend: »Still doch, Menschenskind! Wollen bloß nichts berufen! Ihre jungen Grünschnäbel habt gut lachen. Aber wartet ab, bis sich die ersten grauen Haare an euren Schläfen zeigen. Da fühlt ihr dann ein sonderbares Kribbeln im Leib, wenn ihr daran denkt, daß eure wohlgepflegte Person einmal das Festessen für ein paar hundert hungrige Maden sein wird. Nur ein bißchen überflüssiges Fett in der Herzgegend – fertig. Ein Kissen mit Hobelspänen unter den Kopf, acht Schrauben in den Sargdeckel bitte schön –, und der Tisch ist gedeckt! Wollen bloß nichts berufen, sag ich! Vielleicht ist da doch mehr über den Sternen, als unsere modernen Judenpropheten sich träumen lassen. Und in dem Fall – was dann? Kommt dann nicht ein Tag, an dem wir alle Rechenschaft ablegen müssen? Jetzt bilden wir uns ein, wunder wie klug zu sein. Na schön! Aber glücklicher . . . Prost!«
Per riß die Augen auf. Er starrte diesen bärtigen rauhen Burschen an, diesen Hohenpriester der Lebensfreude und Schönheitsverehrung, der sich plötzlich als Geistesverwandter seines Vaters und seiner Mutter entpuppte, als ein Unterirdischer, dessen Seele im Schattenreich wandelte, dessen Gedanken um das Grab und um einen Richter im Jenseits kreisten – in Furcht vor den Mächten des Lichts, die er selbst noch vor einem Augenblick so übermütig heraufbeschworen hatte.
Es blieb nicht das einzige Mal, daß Per einen so überraschenden Einblick in das Innere dieser »Unabhängigen« erhielt und eine Kehrseite sah, eine Nachtseite, einen unüberwundenen Rest eines alten Ichs, das in schwachen Augenblicken unheimliche Narrenpossen mit dem neuen trieb. Sogar der »letzte Grieche«, Reeballe, hatte, wenn er ausnahmsweise einmal nüchtern war, ziemlich ernste Kämpfe mit seinem Gewissen zu bestehen; und Lisbeth holte regelmäßig ihr Konfirmationsgesangbuch aus der Kommodenschublade, wenn sie wieder ihre Lendenschmerzen hatte oder fürchtete, schwanger zu sein.
Allmählich gewann Per eine Vorstellung davon, was eigentlich die Kräfte der Menschen erlahmen ließ und die Welt zu einem großen Siechenhaus machte. Der eine suchte Trost bei der Flasche, der andere übertönte die »Stimme seines Innern« mit jugendlicher Großmäuligkeit und wilden Possen, der dritte kapselte sich in kunstvoller Selbsttäuschung ab wie eine Schnecke, die sich bei Gewitter in ihr Gehäuse zurückzieht, während sich der vierte nutzlosen Träumen von einer künftigen anarchistischen Bruderschaft zwischen den Menschen hingab. So kämpften überall in der Welt die Menschen mit Gespenstern, während das Leben rosig lächelnd rings um sie her zum Fest einlud. Per kannte das alles von zu Hause.
Da erfaßte ihn plötzlich das schwindelnde Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein, eine Ausnahme, ein Mensch, der schon als Kind durch einen glücklichen Zufall die Ketten gesprengt hatte, in denen selbst die freiesten Geister der Zeit noch seufzten. Die Worte Ivan Salomons von seinem Aladdin-Glück und von der Götterschrift auf seiner Stirn bekamen auf einmal eine neue, noch umfassendere Bedeutung. Es galt nur zu wollen, rücksichtslos und ohne Bedenken zu begehren – und alle Herrlichkeiten des Lebens würden ihm zuteil werden!
So war er denn doch ein Königssohn. Er trug schon die Herrscherkrone. Einen gab es bereits, der sie hatte schimmern sehen, der ihre Inschrift gelesen hatte: Ich komme, ich sehe, ich siege!