Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

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Vierzehntes Kapitel

Schuld?

Könnte mal eben zuhaus 'reinspringen,« dachte Philipp Großjohann, während er den Deckel seiner goldenen Uhr einschnappen ließ, »zehn Minuten hab' ich Zeit. Mal zuhaus nach dem Rechten sehen, sonst geht's drunter und drüber.«

Als Philipp Emanuel sich der Glastüre näherte, hörte er von drinnen den widerlichen Lärm eines Streites – das Herz stand ihm still. Er stürzte hinein – da fuhren Menschen auseinander: der Vater, die Mutter und Gabriel.

Von Entsetzen starr stand Philipp da. Auch die drei waren peinlich überrascht. Niemand sagte etwas.

»Was geht hier vor?« schrie endlich Philipp voll Zorn. Niemand sagte etwas. Frau Franziska stand mit einem harten und starren Gesicht am Tische. »Was geht hier vor?« rief wieder Philipp Emanuel.

Schließlich sagte Gabriel: »Was geht's dich an!«

»Es soll mich nichts angehen,« rief Philipp in heiligem Zorn, »wenn zuhause Hexensabbat ist?« – »Halt's Maul!« schrie Gabriel, »was hast du Schönredner hier zu sagen? Willst du auch reden, 337 wenn morgen ein Wechsel verweigert werden muß und der Gerichtsvollzieher kommt und den Vogel anklebt? Wenn es Geld schaffen heißt, dann läßt du dich nicht sehen! Deine Worte sind billig wie Papierschnitzel. Wir brauchen Papier, auf dem Adler und Kronen sind. Schaff' die, dann kannst du reden!« Seine Augen blitzten vor Zorn.

»Sagen Sie, Mutter, was ist geschehen?«

»Ich bin der Herr im Hause!« rief Hermann Großjohann aus seinem Winkel. – »Aber wenn morgen die Wechsel zu bezahlen sind,« sagte Frau Franziska, »dann ist er nicht der Herr im Hause. Dann läßt er mich mit den Gläubigern und Wechselboten reden, mich und Gabriel.« – »Ich bringe das Geld nicht durch«, rief Großjohann mit einer Stimme, die dem Schluchzen nahe war. – »Aber er zahlt nicht, was er schuldig ist,« fuhr Frau Franziska unentwegt fort, »sondern läßt mich und Gabriel dafür sorgen.« – »Hinausgesetzt aus dem Geschäft haben sie mich, die Mutter und der Gabriel da. Ich soll nichts mehr zu sagen haben.« – »Weil er unfähig ist! Ich kenne den Mann nicht wieder!« sagte Frau Franziska kalt, »ohne mich und Gabriel wohnten wir längst auf der Straße.«

»Ist das wahr, Vater?« frug Philipp Emanuel mit der Stimme eines Richters.

»Ich bin der Herr im Hause! Ich zeichne die Firma! Niemand sonst!«

»Warum bezahlen Sie denn nicht die Wechsel, die wir schuldig sind, Vater?« frug Philipp. – »Ich bezahle sie, ich bezahle sie, wer hat gesagt, daß ich sie nicht bezahle?«

»Er bezahlt sie,« sagte ruhig und kalt Frau 338 Franziska, »er bezahlt sie, aber dann, wenn es ihm paßt. Wenn er Laune hat. Wenn er nicht gerade einen verrückten Einfall hat, etwas Lächerliches wie einen Turm zu bauen und Zeit für Gedanken an das Notwendige hat. Er schaut nach Holland, wenn's in Brabant brennt. Wenn Zinsen heute gezahlt werden müssen, zahlt er sie morgen oder nächste Woche, und die Kapitalisten kommen zu mir gelaufen und drohen, sie werden kündigen. Und ich muß ihnen süße Brötchen backen, damit sie sich gedulden. Das alles nur, weil er der Herr im Hause ist. Weil er sich an keine Ordnung gewöhnen kann. Ich sage nicht, daß er das Geld durchbringt. Das wäre auch noch schöner, ich würde ihn entmündigen lassen!« – »Oho! Entmündigen lassen!« rief Großjohann. – »In der letzten Zeit«, sagte die Mutter zu Philipp, »haben mir die Kapitalisten öfter gesagt: lassen Sie Ihren Mann doch entmündigen. Er ist nicht mehr fähig. Wenn Sie nicht wären, Frau Großjohann, wir wollten mit der Firma Großjohann nichts mehr zu tun haben.«

»Daß du umkommst!« rief Großjohann, und dicke Tränen rollten aus seinen Augen, »daß du unter die Räder kommst, schlechtes Weib!«

Frau Franziska aber mit einem Gesicht wie von Stein redete weiter: »An seinem Eigensinn können wir nicht zugrunde gehen. Nur um den Schein aufrecht zu erhalten, daß er der Herr im Hause ist, können wir nicht den Rest von Kredit verspielen. Ich habe mich nicht dazu gedrängt, der Herr zu sein. Ich gebe das Geschäft jeden Augenblick ab, aber nur dem, der Bürgschaft bietet, daß alles in Ordnung kommt. Er ist kein Geschäftsmann. Er hat den Kopf voller 339 Pläne, er kann tausenderlei Dinge anfangen, aber keins kann er durchführen. Die Bauleute haben ihn hinten und vorn betrogen. Er soll weiter Pläne machen und Grundrisse zeichnen, von tollen Türmen meinetwegen, aber das Rechnen soll er einem andern überlassen.« – »Das weiß sie natürlich alles, sie sieht durch sieben Mauern!« rief Großjohann. – »Ich will nur,« sagte Frau Franziska zu Philipp, »daß meine Kinder nicht hungern. Er soll mich rechnen lassen! Es wird nun endlich Ordnung ins Haus kommen!«

»Man ist nie zu alt um zu lernen, sagte das alte Weib, da lernte es noch hexen!« höhnte Großjohann. – »Eine große Leuchte und wenig Licht!« gab Franziska zurück, doch waren ihre Worte nur an ihre Söhne gerichtet.

»Hänneschen wollt ihr mit mir spielen,« rief in wildem Zorne Großjohann, »aber es wird anders kommen! Es wird der Tag kommen, da ihr nach dem Vater seufzt, den ihr unter die Füße getreten habt! Stank für Dank habt ihr ihm geboten, aber er kommt nicht wieder, und wenn ihr ihn mit den Fingernägeln ausgraben wolltet. Wieviel Väter erleiden das wie ich, und es muß vielleicht so sein! Aber du Weib sollst zum Gespötte werden! Die Steine sollen dich nicht mehr und die Hunde nur mit dem Schwanze besehen wollen! Das wünsche ich dir!« – »Was mach' ich mir aus deinem Fluche? Es ist Wind ohne Regen!« sagte Franziska ruhig.

»Nun hört auf mit euren Gotteslästerungen! Ich kann's nicht mehr mit anhören!« rief Gabriel, sich die Ohren zuhaltend.

Da war es plötzlich still, und tiefe Erschütterung 340 beherrschte sie. Sie fühlten sich erschöpft. Die Nerven schmerzten. Nur die Franziskas nicht.

Philipp Emanuel stand noch immer rat- und tatlos in der Mitte der Stube. Eine Stimmung von Mitleid und Spott kam über Gabriel, als er den armen Tropf dastehen sah, und er sagte: »Philipp, deine Zeit ist beschränkt, du wirst sicher noch etwas Wichtiges zu tun haben.«

»Nein, hier ist mein Platz!« rief Philipp Emanuel. – »So? Aha? Geht dir die Erkenntnis auch einmal auf?« frug erstaunt Gabriel. – »Ihr seid alle verklettet und verfilzt in Schuld!« rief Philipp, »einer fängt es vom andern. Ich habe mich reingehalten, und ich werde mich auch noch darin verfangen müssen.«

Jetzt richtete sich der Vater in seiner dunkeln Ecke gerade auf. »Schuld, sagtest du, Philipp? Schuld?« – »Ja, Schuld! Schuld!« rief Philipp und erhob die Hand wie ein gerechter Richter.

Der Vater ging ans Fenster, die Hände auf dem Rücken, und sagte: »Schuld, sagtest du, Philipp? Habe ich recht gehört?«

»Ja, Schuld!« predigte Philipp, »die der Stammvater in die Welt gebracht hat und für die ihr euch vor dem gerechten Richter einmal verantworten müßt.«

»Schuld, sagtest du, Philipp?« frug wieder der Vater und sah, die Hände auf dem Rücken, ins Freie hinaus, »hör' auf mit deinem angelesenen Zeug. Ich dachte, du verständest etwas vom Leben, da du allerorten deine Hand hineinmischst. Nein, Philipp, wer von Schuld spricht, der hat noch nichts vom Leben begriffen.«

341 Wahre Worte, im rechten Augenblick gesagt, leuchten unmittelbar ein. Und es sind die Samenkörner, die auf gute Erde und nicht unter die Dornen fallen. In Großjohann selbst, da er sprach, gingen die Worte gleich zu üppiger Blüte auf. »Auch das Weib hat keine Schuld,« dachte er in männlichem Verstehen, »wenn man von Schuld reden soll. Auch die Kinder haben keine Schuld, wenn man von ihnen auch nur Stank und keinen Dank hat. Auch Philipp nicht, er ist nur ein armer Tor. Auch ich nicht!«

Wenn Stille in einer erregten Gesellschaft eintritt, so bedeutet es, daß das Samenkorn des letzten Wortes in gutes Erdreich gefallen ist. Gabriel dachte dem Worte des Vaters mit dem tiefen Behagen des Verstehens nach.

Bei Frau Franziska aber war das Samenkorn in harte Erde gefallen, hart von großen Grundsätzen. Sie schwieg nur aus Gewohnheit. In ihrem kurzen Weiberverstande dachte sie: »Er allein hat die Schuld.« Bei Philipp war es unter das Dorngestrüpp der angelernten Vorurteile gefallen. Er schwieg nur aus der Selbstbeherrschung des Studierten und Gelehrten, und er dachte: »Was für einen Zweck hat es, gegen den neuen Irrwahn anzukämpfen, den Gabriel dem Vater beigebracht hat? Die beiden haben das volle Maß der Schuld.«

Aber jeder, selbst Philipp, fühlte, daß es hinter dem Worte des Vaters nichts mehr zu sagen gab. So suchte denn Philipp Emanuel nach einem schicklichen Grunde, abzutreten und fand ihn in seiner Uhr, die stets die richtige Zeit wies, wenn es für ihn etwas Wichtiges, Seelsorgerisches zu tun gab. Der goldene Deckel knipste auf und knipste zu, und Philipp 342 Emanuel verschwand. Seinen Abschiedsgruß, ein Nicken, beantwortete nur die Mutter mit einem knappen Kopfnicken. Emanuel aber heißt: Gott sei mit uns!

Mit wehenden Rockschößen sah ihn der Vater vom Fenster aus gleich einem großen Vogel mit schwarzen Schwingen den Torweg hinaus auf die Straße flügeln. »Nicht geraten und nicht mißraten,« dachte der Vater ihm nach, »aber ein überflüssiger Esser in der Welt, ein entgleister Geist, ein verirrter Wille, ein edler Hanswurst, das ist mein Philipp Emanuel, und Gott sei mit ihm.«

In der Stube war es so still, daß man die Bohrwürmer im Holze der alten Schränke klopfen hörte. Gabriel saß in der Sofaecke. Großjohann stand, die Hände auf dem Rücken, am Fenster. Franziska war nicht mehr da. Durch eine Lücke zwischen den Häusern und Giebeln der Neustadt sah man dort unten, wo die Stadt mit einzelnen Häusern in der Landschaft gleichsam versickerte, zwei große Teiche wie kalte fühllose Augen im grünen Gesichte des Landes leuchten. Großjohann brütete: »Was habe ich noch Gutes zu hoffen? Was Böses zu erwarten? Das eigene Blut hat sich wider mich empört! So mußte es kommen. Es ist genug . . . Ein Ende . . .«

Da fühlte er eine Hand auf seiner Schulter, er wandte den Kopf – »Geh mir aus den Augen!« rief er, »ich will euch nicht mehr sehen! Ich mag nichts von einem von euch hören! Ihr habt mich unter die Füße getreten! Ihr seid mir verhaßt wie falsches Geld!«

Als der Vater ihm das Gesicht zuwandte, sah Gabriel, daß er geweint hatte. »Was überlegten Sie zu tun, Vater?« frug er mit wankender Stimme.

343 Dieser, seine Absicht erkannt sehend, errötete, denn noch immer schämte sich ein Großjohann vor dem andern, er lehnte seine Stirn an den Messingknopf des Fenstergriffes und bedeckte die Augen.

»Dazu ist es noch immer Zeit genug, Vater«, sagte Gabriel leise. »Wer weiß, ob uns nicht noch Schwereres auferlegt wird, dem wir nur durch den Gang zu den Teichen entweichen, denn ich gehöre nun zu Ihnen.« – »Geh fort! Ein Wolf verliert seinen alten Pelz, aber nicht seine alte Tücke.« – »Wir sind ja alles arme Sünder, Vater. Aber wir zwei Männer wollen doch wenigstens zusammenhalten.« – »Nein, ich will hier bei euch nicht mehr an der Wand abgemalt sein!« rief Großjohann. – »Wir gehen hier aus dem Hause, Vater. Wir gehen ins ›Himmelreich‹. Draußen wird es Abend und kühl. Der Nebel kommt von den Teichen herauf, und hier ist es unfreundlich und kalt. Wir trinken eine Flasche Wein und wollen heute noch einmal leben. Morgen kann uns dann alles recht sein.« Er faßte den Vater unter den Arm, drehte ihn herum und führte den leicht Widerstrebenden zum Hause hinaus. »Du kannst eine Nonne aus dem Kloster schwätzen«, brummte der Alte.

Auch andere vielgeplagte Männer rüsteten sich um diese Stunde zur Reise ins »Himmelreich«. Aber die Freuden dieser Erde sind mager und wollen noch erkämpft sein. So focht denn der eine oder andere wieder mit seiner Hausfrau.

»Abfall vom Unrat!« rief diese, »willst du wieder ins Saufhaus?« – »Das ›Himmelreich‹ ist ein anständiges und sozusagen feines Haus«, war die ruhige Entgegnung. – »Wo Hecken sind, da sind 344 auch Spatzen!« – »Nun weiß ich nichts mehr zu sagen, nun rede du allein, Kornelia, ich bin ja sowieso bald mit dem Anziehen fertig.«

»Kannst du denn diese schlechte Gesellschaft nicht lassen, Mann?« rief die Frau und fing an zu weinen; »ich hege und pflege dich und tu' dir alles zuliebe.« – »Die Weiber verstehen die Männer nicht«, sagte der Unternehmer Bertholet. »Im ›Himmelreich‹ verkehrt keine schlechte Gesellschaft, und jeder ist sozusagen allein.« – »Schweig mir davon! Fett schwimmt oben, aber Schaum noch darüber.« – »Deine Sprüche sind ja schön, aber ein Mann muß wissen, was er will, sonst ist er ein Unterrock. Ich bin fertig. Also auf Wiedersehen, Kornelia. Ich komme nicht spät. Und stell' mir etwas Kaltes zurecht«, sagte Bertholet und ging feierabendvergnügt von dannen, während Kornelia sich die Augen rot weinte.

 

Als sie um Mitternacht durch die stillen Straßen nachhause gingen, blieb Großjohann vor einem dunkeln Schaukasten stehen, dessen Inhalt eine Straßenlaterne von außen genügend erleuchtete. Darin stand ein Kölner Dom aus Papier, einen Meter hoch, nach Vorlagen ausgeschnitten, mit Leim zusammengeklebt und auf einem Brette befestigt. Deutlich erschien der fünfschiffige Bau, die Streben ragten kunstgerecht auf, und die Schwibbögen sprangen leicht über die Dächer der Nebenschiffe zum Hauptschiffe hinauf, den Gewölbedruck aufzufangen. Der gallische Umgang strich ehrfürchtig um das Hohe Chor, die Fialen wuchsen zierlich in die Höhe, und das Schleierwerk der Helme auf den Türmen war sauber und 345 geduldig ausgeschnitten. Ein Pappschild verkündete: Vorlagen nach allen Bauwerken der Welt.

»So etwas tät' mir auch Freude machen«, sagte Großjohann, und die Männer schritten heim.

Am nächsten Tage kaufte Gabriel einen Stoß Bogen, Schnittvorlagen nach dem Kölner Dome, Notre Dame, dem Straßburger Münster und der Peterskirche, und schenkte sie dem Vater. 346

 


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