Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

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Zweites Kapitel

Der Heilige

In der graugrünen hohen Hallenkirche der Minnebrüder spielte sich die sonntägliche Hochmesse ab. Unter den vom Kalksinter gleichsam bemoosten Gewölben standen, aus silbernen Kübeln am Boden aufrauchend, Wolken von Weihrauch. Sänger und Musikinstrumente auf der rückwärtigen Orgelbühne sah man nicht, und so war es, als ob Schwärme unsichtbarer, da oben über den Wolken kreisender Engelschöre vielstimmig und unirdisch sängen zum Preise des ungeheuern Gottes. Wenigstens einer unter den tausend Andächtigen hatte vor seinen geistigen Augen dieses himmlische Gesicht.

Zu hinterst standen dichtgedrängt und aufrecht die Männer. Vor ihnen in geschnitzten Bänken hockten die Frauen, vor diesen knieten auf Schemeln die Kinder, und vor denen, ganz nahe dem goldenen Altare, lag ein Knabe ausgebreitet im Gebete. Jetzt stand er, jetzt kniete er nieder, jetzt neigte er das Haupt, jetzt beugte er den Rücken, jetzt warf er sich hin und berührte mit der Stirn die Erde. »Wenn doch mein Junge auch so fromm wäre!« dachte manch andächtige Frau in den Bänken; »freilich, ich würde seinen 79 Rock bei einem besseren Schneider machen lassen.« Unter den Männern dachte der ein' und andere: »Seht da den Pharisäer!«

Undeutlich im Kerzengeflimmer und fast schleppend an der Last seines Goldbrokates wandelte der amtierende Priester vor dem Altare. Jetzt stand er in der Mitte – und jedesmal, wenn in seinem Gebete der Name Jesus vorkam, ließ er sich auf ein Knie nieder; jetzt stand er auf einem der Flügel des Altares, und jedesmal, wenn in seinem Gebete der Name Jesus vorkam, neigte er das Haupt.

Der Knabe betete nicht wie viele der Männer aus einem Buche – »nichts dränge sich zwischen dich und mich, mein Jesus« – er neigte den Kopf – »sondern du seist ganz mein und ich sei dein!« Er ließ auch nicht die Perlen eines Rosenkranzes durch die Finger gleiten wie viele der Frauen – »du willst nichts Geistloses, sondern das Beste von mir wie ich von dir, mein Jesus« – er neigte den Kopf. »Ich gebe mich dir hin, mach' aus mir, was du willst, nur nichts Kleines und Erbärmliches, nichts vom Alltage und nichts wie alle anderen Menschen, mein Jesus« – er neigte den Kopf. »Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe jetzt und in Ewigkeit!«

Die Hohe Messe war zu Ende. Das Volk entströmte dem Kirchentor gleich einem Brunnenmunde, verlief sich und versickerte wie Wasser in allen Straßen und Winkeln der Stadt. Auf der Kirchentreppe sagte eine Frau zur andern, indem sie den noch warmen Rosenkranz einsteckte: »Habt Ihr's auch schon gehört, Liebste, von unserer Nachbarin? Nein? Die tat immer so stolz mit ihrer saubern Tochter. Na, da will ich Euch mal erzählen . . .« Und 80 ein Mann sagte zum andern, indem er sein Gebetbuch, auf dem noch frische Fingerabdrücke sichtbar waren, in die Rocktasche schob: »Also wir machen das Geschäft, nicht wahr?« . . . Der Knabe stand, als er dies sah und hörte, wie erstarrt auf der Treppe. Er meinte, es zerschneide ihm das Herz, und es schien einem ihn beobachtenden Herrn, als wollte der Kleine kopfschüttelnd sagen: Diesen Weltsinn versteh' ich nicht!

Jetzt legte der Herr dem Knaben die Hand auf die Schulter und frug: »Wie heißt du, mein Junge?«

Der Knabe sah den fremden Herrn mit heißen und festen Blicken an. Dann sagte er: »Philipp Emanuel Großjohann.«

»So, so!« sagte der Herr, »daher!« Und nach einer Weile: »Ich kenne deinen Vater. Ich bin ein Geschäftsfreund deines Vaters. Ich bin Bankdirektor Hagelstange.«

»Sind Sie auch einer von denen da, die noch den Namen Jesus auf der Zunge schon das Wort Geschäft auf den Lippen haben?« frug Philipp heiß und streng.

»Laß mich dir erst erzählen, mein Sohn. Komm, gehen wir unter den Pfalzlauben spazieren. Du gefielst mir, und ich beschloß, deine Bekanntschaft zu machen.« – »Aber bitte die Hand von meiner Schulter nehmen, das kann ich nicht ertragen«, sagte der Knabe. – »Schön, wie du willst! Du bist mit Zärtlichkeit nicht verwöhnt, scheint mir. Und so will ich dir denn zuerst sagen, was mir nicht an dir gefiel.« – »Bitte«, sagte Philipp Emanuel, und sein Herz krümmte sich in Demut.

»Im Morgenland . . .« – »Sie waren im Morgenland?« frug Philipp Emanuel heftig, und eine 81 Weihe nahm für ihn der Menschenkörper an, der schon soviel Raum überwunden hatte.

»Ja, und ich besuchte auch die heiligen Stätten, wo der Herr Jesus geweilt hat, und auch die heiligen Stätten der Mohammedaner. Da sah ich sie beten, die Türken und die Perser. Geradeso wie dich. Sie stehen da, sie beugen sich, sie knien nieder und werfen sich hin, und jedesmal, wenn sie den Namen Allah oder Mohammed aussprechen, neigen sie den Kopf. Aber so beten wir nicht. Wir Christen und besonders wir Deutsche beten mit dem Herzen. Wir sprechen mit Gott, der ins Verborgene schaut. Jesus sagte einmal: Das Himmelreich kommt nicht mit äußerlichen Gebärden, man wird auch nicht sagen: hier oder da ist es, denn wisset, das Himmelreich ist inwendig, in euch! Ich glaube ja, daß du mit dem Herrn Jesus im Verborgenen gesprochen hast. Aber das sollst du nicht zeigen. Der Mensch ist, was er ist, und nicht, was er scheint. Was er scheint, ist er meistens nicht. Es tat mir leid um dich, daß viele Leute gewißlich dachten: Seht da den Pharisäer! Ich glaube, daß du auch gebetet hast: Laß mich nicht sein wie die übrigen Menschen! Es tut mir leid um dich, denn du bist nicht wie die anderen Knaben. Kurz und gut: ich habe zwei Söhne, und ich möchte, daß du deren Freund würdest.«

»Ich werde sie mir ansehen«, sagte Philipp Emanuel.

Herr Hagelstange lächelte ein wenig. »Also gut, sieh sie dir an.«

 

Die »Freundschaft« Emanuels mit den beiden Hagelstanges war nun schon einige Zeit alt. Diese 82 fanden nichts Auffälliges dabei, daß der Vater, als er mit allen dreien am Sonntagmorgen spazieren ging, sich nur mit Emanuel beschäftigte, während sie beide stumm mitliefen. »Wenn er nur besseres Schuhzeug hätte!« dachte Fritz, denn am Sonntagmorgen war der Graben voller Leute.

Sie kamen auf den Platz, wo das prächtige Sandsteinhaus der Hagelstange lag, und traten ein. Frau Hagelstange hatte am Fenster gewartet, denn sie war stolz auf den Mann und noch mehr auf die Söhne. »Aber da schleppen sie ja einen Jungen mit, und meine Söhne laufen nebenher wie zwei Hunde!« Als die Männer den Teppichpfad der Marmortreppe heraufkamen – »meine Söhne natürlich hinterdrein!« dachte bitter Frau Hagelstange – kreuzte sie kurz vor ihnen auf dem Treppenabsatz den Weg und verschwand in ihrem Zimmer. Herr Hagelstange trat allein bei seiner Frau ein.

Die Knaben warteten in Herrn Hagelstanges Privatzimmer, das mit viel Holz und Leder ausgestattet war. Philipp Emanuel saß, die Hagelstanges standen, ihre langen Beine unbeholfen umeinander spielen lassend.

»Was habt ihr diese Woche getrieben?« frug Philipp Emanuel. – »No . . . wir haben unsere Aufgaben gemacht, und so . . .« sagte Fritz. – »So, so, ihr habt eure Aufgaben gemacht«, sagte Philipp. – »Und wir haben uns rasieren lassen!« rief Heinz. – »So, so, ihr habt euch rasieren lassen! So, so!« – »Du solltest dich auch rasieren lassen, Philipp!« – »So? Meinst du, Heinz?« – »Das ist köstlich, sich rasieren lassen,« rief Fritz, »das kribbelt so angenehm ums Kinn. Das solltest du auch tun lassen.« – »Ja, ist 83 denn überhaupt schon etwas bei mir da?« frug Philipp, nach seinem grauen Kinn schielend. Die beiden Brüder wurden rot, denn bei ihnen war so gut wie nichts dagewesen. Heinz aber sagte: »Ja, du hast genug dreckige Wolle da herum.« Fritz dachte: »Der Philipp ist kein rechter Junge, sonst hätte er sich schon längst rasieren lassen.«

 

»Aber sieh ihn dir doch einmal an, Mechtild,« sagte Herr Hagelstange drüben zu seiner Frau, indem er den Kopf der Weinenden in seine Hände nahm, »und sei nicht eifersüchtig wegen deiner Söhne! Das ist etwas Außerordentliches!« – »Ich will nichts Außerordentliches sehen,« sagte Frau Mechtild, »ich will, daß meine Söhne brave und glückliche Menschen werden.« – »Nun, dann schon aus Höflichkeit. Glaubst du, der Junge empfindet es nicht, daß du ihn schneidest?« – »Das glaube ich nicht. Diese Menschen haben keine Nerven«, rief sie. – »Es wäre besser für sie, wenn sie keine hätten, aber sie haben welche, glaub' mir das. Man sieht es ihnen nur nicht an. Denn sie sind das Unterdrücken der Gefühle und die Selbstbeherrschung gewohnt wie Fürsten.« – »Fürsten mit dem schlechten Schuhzeug!« rief Frau Mechtild.

»Aber Mechtild, ich kenne dich nicht wieder! Sonst die zärtlichste Frau und ein Engel in den Hütten und Dachkammern!« – »Genug, Maximilian! Wenn du es denn willst, sehe ich ihn mir an.« – »Ich will dir etwas sagen, Mechtild: dieser Knabe wird noch dein Stolz werden.« – »Nie! Nie!« rief sie. – »Abwarten!« sagte er.

84 »Was findest du denn überhaupt an ihm? Er mag ja klüger sein als die meinen . . .« sagte Frau Mechtild. – »Klüger ist zu wenig«, erwiderte Herr Hagelstange; »es ist eine höhere Art als wir, eine andere Rasse!« – »Meinetwegen! Meinetwegen! Aber jedenfalls sind meine besser gekleidet!« – »Mach' dich nicht lächerlich, Mechtild.« – »Ich kann ihn nun einmal nicht leiden!« rief sie, mit dem Fuße aufstampfend. – »Das ist kein schlechtes Zeichen für einen Menschen, wenn man bestimmt meint, daß man ihn nicht leiden kann. Vor den Lauen und Flauen weiß man das nicht von vornherein. Die Großjohanns, und seien sie auch noch so klein, sind schon Charaktere. Sie fordern es heraus, daß man sie liebe oder hasse. Sie wollen geliebt oder gehaßt werden, wie sie selbst nicht anders können als lieben und hassen.« – »Du bist nun mal in den Vater vernarrt und wirst es jetzt in den Sohn«, spottete sie. – »Ja, was gefällt mir eigentlich an den Großjohanns?« frug sich Herr Hagelstange selbst. – »Die überlegene Art! Die höhere Rasse!« höhnte sie. – »Die Weihe des Unglücks, Mechtild!«

Sie schwiegen.

»Laß uns Philipp Emanuel zu unserer Familie rechnen, Mechtild«, sagte Max Hagelstange, ihre Hand fassend; »unsere Söhne haben keinen Schaden davon. Denk', Engel Mechtild, Philipp ist eine mutterlose Waise.« – »Wieso? Er hat doch eine Mutter!« – »Er hat keine Mutter. Seine Mutter ist eine Löwin. Sie hat ihre Kinder mit gefährlicher Milch gesäugt. Sie wird sich jeden Augenblick für sie in Stücke reißen lassen, aber sie ist ihnen keine Mutter.«

»Ich werde ihn mir ansehen, Maximilian«, sagte 85 sie mit gesenktem Blicke. – »Ich danke dir, Mechtild.« Er küßte ihre Hand.

 

»Das ist Philipp Emanuel Großjohann, der Sohn des Bauherrn. Das ist meine Frau, Philipp.«

Philipp war aufgestanden. Er sah Frau Hagelstange steif an. Sie trug ein anschließendes Kleid aus dunkelrotem Samt. Philipp sah schweigend die stattliche Dame an, indem er mit dem Gekränktsein kämpfte, weil sie auf der Treppe an ihm vorbeigegangen war – und sie gefiel ihm. Frau Hagelstange sagte auch nichts. Sie sah schweigend und prüfend den Jungen an, indem sie mit Eifersucht und Abneigung kämpfte – und er gefiel ihr. Da ging Philipp auf sie zu, ergriff ihre Hand und sagte einfach: »Seien Sie gut zu mir.«

Er hatte das Herz der Frau erobert. Sie legte ihm die Hand auf den Kopf und sagte: »Ich bin gut zu dir, meine Junge.« Dann ging sie eilig hinaus, denn so etwas war ihr noch nicht vorgekommen.

Befriedigt setzte Herr Hagelstange sich hin, und mit den jungen Herren Zigaretten rauchend, begann er ein Gespräch über dies und jenes. Nur immer er redete und Philipp. Halb belustigt und halb voll Achtung hörte der Mann die oft gar unreifen und grünen, niemals aber platten und immer strengen Meinungen des Jungen an. Die Söhne sagten nichts. So mochte wohl eine Stunde vergangen sein, da schlug im Nebenzimmer ein Fenster.

»Ich will das Fenster schließen«, unterbrach leise Heinz, ging hinaus – und kam nicht wieder. Der Vater und der Gast redeten. »Da kommt der 86 Briefträger herüber,« unterbrach leise Fritz, »ich will sehen, ob er etwas hat«, ging hinaus – und kam nicht wieder.

Hagelstange saß im Klubsessel zurückgelehnt und sagte allerhand mit Hilfe der starken Zigarettenwolken, die er aus seinem Munde blies, während er Philipp Emanuel anschaute, ihn gleichsam mit seinen Blicken wog. Eine Spur von Mißtrauen war in seinem Blicke. Mit einem leichten Beben hielt Philipp den Blick aus, mit einem Grade von Furcht, gewogen und zu leicht befunden zu werden. Aber nein, er hatte keine Furcht, und das Mißtrauen, sagte er sich, ist die üble Krankheit aller Weltmänner, die weise zu sein wähnen, wenn sie die Menschen von vornherein für erbärmlich halten.

Jetzt sagte Herr Hagelstange, und sein Ton war ganz herzlich: »Wie alt bist du, Philipp?« – »16 Jahre.« – »Hm . . . frühreif . . . hm. Im Vertrauen, was willst du eigentlich werden, Philipp?« – »Ich will Geistlicher werden, Herr Hagelstange.«

»Ei sieh! Das dachte ich mir auch: er sollte Geistlicher werden.« – »Im Vertrauen – ich will etwas ganz anderes werden!«

»Etwas anderes werden? Du sagtest nicht die Wahrheit?« – »Nicht die Wahrheit und doch die Wahrheit. Geistlicher ist nur der nächste, aber durchaus nicht der einzige Weg zu meinem Berufe.« – »Was willst du denn werden, Philipp Emanuel?«

»Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, zu niemandem davon zu sprechen?« – »Mein Ehrenwort!« – »Zu niemandem?« – »Zu niemandem!«

»Ich will ein Heiliger werden!«

Herr Hagelstange sprang auf. Er stand vor 87 Philipp, als wollte er ihn packen, dann gab er sich daran, auf und ab zu gehen. Plötzlich sagte er, fast böse: »Du bist verrückt, Philipp!«

»Warum?«

Das klang so kühn und kühl und sicher, und ein so fanatisches Feuer glühte in Philipps Augen, daß Maximilian Hagelstange vor ihm stehenblieb. Auch Philipp stand auf.

»Im Ernst, mein Freund und Vater, warum sollte ich das nicht werden?«

»Ja – warum – solltest du das – schließlich – nicht werden?« wiederholte langsam Herr Hagelstange und sah entsetzt den Knaben an.

»Freund und Vater, wenn ich etwas will, ganz will, warum sollte ich das nicht erreichen?« – »Ja – warum solltest du das – nicht erreichen?«

»Also wenn nur Wollen dazu notwendig ist –? Sehen Sie, ich bin nicht vermessen. Man kann nicht alles in der Welt mit dem bloßen Wollen erreichen. Wenn ich sagte, ich will Künstler werden, so wäre das eine Torheit, verrückt, wie Sie sagen, denn dazu gehört vor allem Begabung. Oder Schauspieler. Dazu bedarf's körperlicher Wohlgestalt. Der Sänger braucht eine Stimme, der Offizier Geld, und Staatsmann kann man bei uns nicht werden ohne Verbindungen und vornehme Geburt. Aber Heiliger – ? Was braucht's dazu als den Willen, es zu werden? Und Wollen ist wohlfeil.«

»Ja, bei den Großjohanns!« rief Herr Hagelstange.

»Nochmals, ich bitte, halten Sie mich nicht für vermessen. Gott hat gewußt, wie er seine Gaben zumaß, und mir hat er die kleinste gegeben.«

88 Hagelstange legte dem Knaben die Hand auf die Schulter und sagte: »Schweig. Du weißt nicht, was du sagst« – »Im Ernst –« sagte Philipp. – »Ernst!« rief Herr Hagelstange, »bitterer Ernst! Großjohann heißt eine Welt außer der Welt. Weißt du denn nicht, kleiner Mann, daß es der Welt gerade an dem fehlt, was euch selbstverständlich ist?« – »Das glaube ich nicht.«

»Schweig! Du kennst die Welt nicht. Lerne sie nie kennen! Dich wird ekeln!«

»Also hab' ich unrecht?« frug Philipp. – »Nein, du hast recht! Ich bin vollkommen überzeugt. Und du wirst erreichen, was du willst, davon bin ich vollkommen überzeugt.«

»Sie sagen, ich sei weltfremd, mein Vater. Auch das ist nicht wahr. Ich habe es wohl bedacht. Es hat immer Heilige gegeben. Der eine hat gefastet. Was ist dabei? Der andere hat sich der Weiber enthalten. Was ist denn dabei? Wieder ein anderer hat sich vor seinen Versuchungen in Brennesseln und Dornen gewälzt. Einer hat immer in Einsamkeit in der Wüste gelebt, einer auf einer Säule, und noch einer, in einem Stadtkloster, hat vierzig Jahre lang nicht aus dem Fenster seiner Zelle auf die Straße geschaut.«

»Schrecklich! Schrecklich! Vierzig Jahre nicht aus dem Fenster auf die Straße schauen!« stöhnte Herr Hagelstange. Philipp aber rief mit glühenden Augen: »Ich frage, was ist denn dabei?«

»Nichts ist dabei! Nichts ist dabei! Nur ich und alle anderen könnten es nicht!«

»Und so etwas Weltfremdes will ich gar nicht. Ich will ein Heiliger aus dem Volke und im Volke sein. Es hat auch in neuer und jüngster Zeit Heilige 89 gegeben. Denken Sie an Franz von Sales, an Vinzenz Liguori, an Gerard Majella.« – »Und Philipp Emanuel Großjohann wird sich dieser Reihe anschließen?« frug der Bankdirektor und strich dem Knaben liebevoll über die Haare.

»Ja«, sagte fest Philipp Emanuel. Emanuel aber heißt: Gott sei mit uns!

»Meiner Frau darf ich sagen, daß du Geistlicher werden willst? Meine Frau ist fromm, mußt du wissen, das wird dich ihr empfehlen.« – »Meinetwegen, doch lieber nicht, die Weiber sind nicht reif dafür.« Hagelstange lächelte; er frug: »Weiß dein Vater, was du mir gesagt hast?« – »Um Gottes willen!« rief Philipp, »mein Vater darf das nicht wissen. Man darf nie vertraulich sein, am wenigsten mit seinen Blutsverwandten, auch mit sich selbst nicht. Man kramt sonst zu sehr in seinem Innern herum, und das ist immer schamlos.«

Frau Hagelstange kam herein. »Kommt ihr denn nicht zu Tische? Die Küche hat schon dreimal geläutet. Willst du mit uns essen, Philipp?« – »Gern«, sagte Philipp Emanuel herzlich, denn er hätte kein Mittel gewußt, sich aus der milden Luft, die um diese mütterliche Frau war, und aus dem Frieden und der Behaglichkeit des wohlgegründeten Hauses zu entfernen.

»Dann will ich deine Eltern benachrichtigen lassen, daß du bei uns issest«, sagte der Bankdirektor. – »Das ist nicht nötig. Wer nicht da ist, ist nicht da«, sagte Philipp.

»Entsetzlich, diese Familie!« dachte Frau Hagelstange, »wie in einem Gasthause!« 90

Der Wechsel

Es war am Tage der Halbjahrswende. Die Frühpost um 8 Uhr brachte einen Unglücksbrief. Um 9 Uhr klingelte es. Als Frau Franziska die Tür öffnete, stand draußen ein ernster, leicht ergrauter Mann, »ein besserer Mann aus dem Volke«, dachte Franziska, der am starken Riemen eine große wohlverschlossene schwarze Ledertasche trug. Dieser Mann wußte von vielen Schicksalen zu erzählen, wußte, daß er nirgendwo gern gesehen war, und drückte in seinem Ernst die Unerbittlichkeit des Geldgeschäftes und in seiner zuverlässigen Erscheinung aus, daß er sein Amt eines Kassenboten nur durch Sicherstellung von zehntausend Mark erhalten hatte. Obgleich er selbst ein ganz armer Mann war und erst den starken Leo zu bürgen vermocht hatte, so lag doch in seinem Wesen etwas vom Hochmut des Geldes und vom Machtgefühl der Bank. Er schien die Armen zu verachten. Er trug einen etwas schäbigen vieljährigen dunkeln Überzieher, eine schwarze Halsbinde, als wäre er stets in Trauer, und einen steifen schwarzen Hut, der röhrenförmig doch kein Zylinder war. In der Art seines Grußes drückte er aus, was er zu finden erwartete. Wenn er den Hut lüftete, so hieß es: hier wird wie immer bar bezahlt! Wenn er den Hut nicht berührte, das bedeutete: letzte Stunde! Aus! Nichts zu machen!

Er hatte sich im Laufe der Jahre angewöhnt, vor Großjohanns Tür den Hut, der röhrenförmig doch kein Zylinder war, in der Hand zu halten. Heute sah er in Frau Großjohanns bekümmertes Gesicht – »so 91 stehen hier die Sachen? Ah!« dachte er und setzte schnell den Hut auf. Mit trockener erzener Stimme sagte er: »Sie sind durch die Post benachrichtigt worden, daß der Bauunternehmer Kreutz den Ihnen für Ihre Forderung von ihm ausgestellten Wechsel auf 10 000 Mark gestern zurückgewiesen und seine augenblickliche Zahlungsunfähigkeit behauptet hat. Sie sind daher an seiner Stelle für die Einlösung haftbar. Der Wechsel verfällt in 24 Stunden. Darf die Bank auf reine Rechnung zählen?« frug er, obgleich seines Amtes nur war, den Wechsel vorzuzeigen. Er wollte damit seine Hochachtung vor der untadeligen Baufirma Hermann Großjohann ausdrücken. Was tut man nicht, wenn man jemanden ins Herz geschlossen hat! Franziska Großjohann, die sehr unwirscher Laune war, beantwortete die Frage mit einem kurzen Ja. »Sehr gut,« nickte der Bankbote und nahm seinen Hut wieder ab, »der Wechsel soll wohl jetzt gleich gegen die Summe ausgehändigt werden, oder –« – »Er wird morgen vor 9 Uhr eingelöst werden«, sagte Frau Großjohann. – »Gut,« sagte der Bote und setzte den Hut wieder auf, »also morgen, Gebäude der Westdeutschen Bank, Schalter 7.« Er schloß das Papier in die schwarze gediegene Ledertasche zurück, deren silbernes Schloß kräftig einsprang. Da war Franziska Großjohann so unvorsichtig, sich einen Augenblick gehen zu lassen und zu flüstern: »Ich hoffe . . .« Erstaunt sah der Bankbote sie an. »So, so, sie hofft nur!« dachte er, bereute seine Weichherzigkeit und verabschiedete sich mit dem Gruße, den er bereit hatte für die kleinen Geschäftsleute, bei denen man von Wechsel zu Wechsel nie wußte wie und wo: er legte den Zeigefinger an den 92 Rand des Hutes, der röhrenförmig doch kein Zylinder war.

Gabriel, der nicht wußte, warum heute früh die Eltern plötzlich so niedergeschlagen waren, denn sie sprachen nicht zu den Kindern, nahm entschlossen den auf dem Tische liegenden Geschäftsbrief in die Hand. Zu seinem Erstaunen verbot der Vater es nicht. Gabriel las: »Heute ist mir der Wechsel über 10 000 Mark auf Westdeutsche Bank vorgezeigt worden, den Sie vor drei Monaten als Zahlung der für mich an meinem Neubau Eginhardstraße ausgeführten Maurerarbeiten von mir erhalten haben. Ich bedaure, nicht in der Lage zu sein, ihn morgen einzulösen, und erwarte, daß Ihre Firma es tut. Für Anfragen usw. bin ich nicht zuhause, da ich heute zur Jagd ins Gebirge fahre. Hochachtend usf. Kreutz.«

Wie der Vater in Gabriel einen Mitwisser seines Leides sah, war es, als ob ein Deckel von seinem überhitzten Herzen spränge. »Diese Unverschämtheit!« rief er aus; »daß er nicht zahlen kann, ist nicht das Schlimme, das kann dem Besten von uns zustoßen. Aber daß er mir das erst heute mitteilt, was er selbst lange gewußt hat, als ob man 10 000 lose in der Westentasche trüge, mitteilt in so formloser dreister Art! Wenn ich nun den Wechsel nicht einlöse, ist er zugrunde gerichtet! Und dann fährt er auf die Jagd! Solch ein Zwerg, der von der Gnade von uns großen Unternehmern lebt, hält sich eine Jagd! Woran ich, Großjohann, nicht einmal zu denken wagte, denn es ist unanständig, wenn sich unsereins als großen Herrn aufspielt.« Hermann Großjohann war tief erschüttert.

Auch die Kinder waren erschüttert. Brigitta saß 93 still in einer Ecke. Da frug Gabriel: »Vater, haben Sie denn das Geld nicht?« – »Da liegen die 10 000,« antwortete der Vater, auf den Schrank weisend, »aber sie sind heute fällig als Zinsen für die Hypotheken des starken Leo. Jetzt muß ich zu dem hingehen und betteln, sich zu vertrösten.« – »Also ist es doch nicht hoffnungslos, Vater,« sagte Gabriel – fast hätte er gesagt: lieber Vater, doch ein anderesmal! – »ich habe gehört, der starke Leo ist ein menschenfreundlicher Mann.« – »Ich zweifle nicht, daß er sich getröstet« – fast hätte der Vater gesagt: daß er sich getröstet, Gabriel! – »aber daß ich ihn bitten muß . . . !«

»Ich muß zur Schule,« sagte Gabriel, »aber gehen Sie nur hin, Vater, es wird schon gut werden.« Jetzt wurde es Gabriel ganz leicht, Vater und Mutter die Hand zu geben, und im Fortgehen wünschte er sich wohl noch mehr solcher Unglückstage, an denen Zärtlichkeiten so leicht waren.

 

»Aha,« sagte der starke Leo, »Herr Großjohann! Das ist mir eine Ehre, wenn mich Herr Großjohann besucht!« Leo war alt und grau, stand schwach auf den Beinen, zitterte mit den Händen und dem Unterkiefer und trug eine Brille, hinter der seine glanzlosen Augen unnatürlich groß erschienen. Weil er schwerhörig war, schrie er: »Solcher Geschäftsleute müßten wir mehr haben! Wie? Sagten Sie was? Aufrecht, zuverlässig, kühn, doch nicht verwegen, ja, solcher Geschäftsleute müßten wir mehr haben. Dann gäbe es nicht diese Schwindler . . .« – »Gerade ein solcher Schwindler hat mich zu Ihnen geführt . . .« nahm Großjohann auf. – ». . . dann wäre das 94 Geschäft noch eine Freude, während es heute ein Kreuz ist . . .« fuhr Leo fort. – »Ja, dieser Kreutz,« suchte Großjohann einzuspringen, »eben den meine ich . . .« – ». . . ein Kreuz,« rief der andere, »das einem die Lust und Liebe zur Sache nehmen könnte. Ich weiß, daß ich im Rufe stehe, ein schlechter Geschäftsmann zu sein . . .« – »Oh, oh«, warf Großjohann ein. – ». . . weil ich Geschäfte nicht nur mit dem Kopfe, auch mit dem Herzen mache!« schrie der starke Leo; »so ist heute die Welt. Solche Leute verachtet man.« – »Keine Ursache wahrlich . . .« wehrte Großjohann ab.

Der junge Leo kam herein. Er begrüßte Großjohann freundlich. »Ach, Herr Großjohann! Pünktlich mit den Zinsen!« – »Heute ist der Erste . . .« sagte Großjohann, »ja, das heißt . . .« Aber der alte Leo schrie wieder: »So ist heute die Welt! Ich helfe gern jungen aufstrebenden Talenten und sehe bei der Zinszahlung am Ersten mal durch die Finger, der Welt zum Ärger und meinem Herrn Sohne, haha! Aber ich hab' natürlich doch lieber, wenn die jungen aufstrebenden Talente, schon um ihrer selbst willen, damit sie nicht verludern, pünktlich am Ersten mit den Zinsen erscheinen, wie wir es von Herrn Großjohann gewohnt sind. Ja, ich sag' immer wieder, wenn wir mehr solcher Geschäftsleute hätten . . .« So redeten Großjohann und Leo eine Viertelstunde aneinander vorbei.

»Vater, du siehst doch, daß Großjohann heute nicht zahlen kann«, sagte der Sohn.

Stille.

Der Alte faßte die Enden seines Brillengestelles mit Daumen und Zeigefinger einer jeden Hand und rückte die Brille zurecht, als müßte er genauer 95 zuschauen. Dann sagte er: »Wie . . . was . . . Herr Großjohann sagte doch, er käme, die Zinsen zu zahlen? Heute am Halbjahrsersten?« – »Das eben nicht, hörst du doch«, rief ihm der Sohn ins Ohr; »du solltest nicht soviel schwatzen, Alter, sondern mehr zuhören. Der Großjohann kann nicht zahlen.« – »Oh, das macht nichts!« schrie der Alte mit bebender Stimme den Sohn an, »das macht nichts, hörst du! Noch bin ich der Herr im Hause! Noch habe ich zu verfügen! Verstanden!« Der Sohn zuckte kurz mit seinen Schultern und saß da mit gekniffenen Lippen.

»Das macht nichts, Herr Großjohann, wenn Sie augenblicklich nicht zahlen können. Im Gegenteil!« rief der Alte und sah giftig seinen Sohn an, »es ist mir eine Ehre, eine Freude, ein Vergnügen, Ihnen einmal dienen zu können, Herr Großjohann. Wenn wir mehr solcher Geschäftsleute hätten . . . !« – »Was war das mit dem Kreutz, Großjohann, sprechen Sie«, sagte kurz und scharf der junge Leo.

Großjohann erzählte, daß die 10 000 für die Zinszahlung bereit lägen, ja, er habe sie in der Tasche. Er sei nur in die Verlegenheit gekommen durch diesen Kreutz, diesen Schwindler, der eben heute den Wechsel einzulösen abgelehnt habe. Wenn er sich auch nur 8 Tage darauf hätte vorbereiten können, wäre natürlich alles in Ordnung gewesen. – »Hm, ja, das versteht man,« brummte der Sohn. »das kann ja vorkommen, das ist ja wohl möglich. Wir können Ihnen die Zinsen einen Monat stunden und Sie verzinsen mit 8 v. H.« Der Sohn hatte leise gesprochen, aber der Vater hatte sich horchend so angestrengt, daß er alles verstanden hatte, und schrie: »Was, 8 v. H.? Nichts vom Hundert! Was, einen Monat 96 stunden? Ich stunde sie ihm ein Jahr, ich schenke sie ihm . . .« Er zitterte; Großjohann fürchtete, es könnte ihm etwas zustoßen.

»Davon ist ja keine Rede,« sagte Großjohann, »von Schenken! Wenn Sie mir nur einen Monat stunden wollen. Ich bin auch zu einem mäßigen Zinsfuße für die Stundung bereit. Nach einem Monat ist alles in Ordnung.« – »Aber gewiß! Aber sicher!« rief der alte Leo, »machen Sie sich keine Sorge! Schlafen Sie ruhig! Und nichts von Erhöhung der Zinsen! Und wenn Sie nach einem Monat nicht können, kommen Sie nach zwei, und wenn dann nicht, nach einem halben Jahre. Es soll mir eine Ehre sein! Wie war es doch auch mit dem Kreutz – ?«

Großjohann erzählte noch einmal die Geschichte des Wechsels. Der Alte verstand und sagte: »Der Unverschämte! So kann ja der Ehrlichste und Reichste an den Bettelstab gebracht werden! Wer hat 10 000 Mark in der Schublade liegen? Aber, Herr Großjohann, vor dem Kreutz habe ich Sie schon gewarnt. Sie sehen, daß ich recht gehabt habe. Lassen Sie sich nicht mehr mit dem ein!« riet er. – »Nein, jetzt sicherlich nicht mehr,« sagte Großjohann, »und Sie haben auch recht gehabt.« Und er dachte: »Wenn du jemand 10 000 Mark schuldig bist, mußt du mindestens gute Lehren von ihm anhören.« Er verabschiedete sich. Der alte Leo entließ ihn mit großer herzlicher Freundlichkeit, der junge Leo sagte nicht mal ein Wort.

Vor der Tür trocknete Großjohann den Schweiß von der Stirn. 97

In Gottesruh

Vor der Stadt gegen das Gebirge zu lag in einem anmutigen herbstbunten Tale das Kloster Gottesruh, weiß und grün. Grün waren die Gewände der Fenster und Türen, die flachen Pilaster und die Simse unter der Traufe. Das Dach war mit roten, aber bemoosten Schindeln gedeckt und überragt von dem gefälligen Zwiebelturme der Kirche. In dem Kloster war eine berühmte höhere Schule, die alle guten Familien der Stadt und darum noch mehr die werdenden neuen Familien der Bauunternehmer mit ihren Söhnen beschickten.

Vor der weißen Langseite des Baues stand ein Wäldchen schöner Edelkastanien, eine einzige Kuppel herbstroten Laubes auf sieben schwarzen Baumsäulen. Sie spiegelte sich in dem mächtigen Rund eines Wasserbeckens von fast römischen Maßen. Das Spiegelbild aber wurde beständig zerbrochen von dem Rückfall eines starken Wasserstrahles, der aus der Mitte des Brunnenbeckens bis zur Gesimshöhe des Gebäudes aufbrauste. Ein riesiger grüner Plei umrahmte das Wasserspiel. Der grüne Rasen war sehr abgenutzt, als ob er als Spielplatz diente.

Eine Glocke läutete drinnen kurz und laut, und noch war ihr letzter Ton nicht verhallt, da stürzten aus einem vergitterten Bogen unter der Freitreppe lärmend die Schüler auf den Plei, während die Lehrer, die schwarzen Benediktiner, die Freitreppe aus körniger Nagelfluh langsam herabkamen. »Uns läßt man gleich Gladiatoren durch ein vomitorium aus dem Keller in die arena hinaus, während Zeus und die übrigen himmlischen Götter und Halbgötter die 98 Treppe herabwallen«, sagte Philipp Emanuel zu Fritz und Heinz Hagelstange. Die Hagelstanges fanden sich mit der Ordnung ab in der Art reicher Kinder, die auch das Unbequeme der Welt als ein gottgewolltes Schicksal gleich dem Wohlstande ihrer Eltern zu betrachten gewohnt sind. Die Armen sind mit nichts zufrieden. – »Dann stürme gleich einem Gladiator in die arena hinaus und prügle dich mit uns,« sagte Heinz, die Arme erhebend, »wollen mal sehen, wer da«– das ›da‹ betonte er – »der Stärkere ist!« – »Bah!« sagte Philipp Emanuel und verließ sie.

Bald sah man auf dem Rasenplei nur verschränkte Arme und fliegende Beine und hörte Kreischen und Schreien. Auch das Reißen eines Rockes – und es war auffällig, daß allemal, wenn ein Rock zerrissen wurde, es ein guter Rock war. Unter der weißen Gartenmauer her gingen andere Knaben, das waren die Gesetzteren, die Klügeren, die Reifen, diejenigen, die eine Zukunft vor sich hatten und auch in der Spielstunde sie mit heißen Sinnen erstrebten. Sie wandelten mit den würdigen Schritten der Lehrer, und diese Knaben waren bescheiden gekleidet. Einige lasen auch aus umgebrochenen Büchern. Alle Knaben aber staken in Halbschuhen, schwarzen Strümpfen und engen Kniehosen, und bei allen stieg der Kragen über den Rock, auch über den gutgeschneiderten, hinaus; bei den meisten war auch das Kragenknöpfchen hinten im Nacken sichtbar, doch das nur über bescheidenen Röcken. Die bescheidenen Röcke hatten jetzt im Schreiten innegehalten und standen in einer Gruppe vor der Mauer. Da wurde man an junge Tiere, an Hunde, Pferde, Kälber, Kamele erinnert. 99 Wie Fohlen über ihre eigenen langen Beine stolpern und junge Hunde nach ihren Pfoten springen, so schlugen die Jungens mit ihren Beinen nach hinten aus und nestelten und bastelten mit ihren Fingern an den Knöpfen der Jacke des Nachbarn herum. Indem sagte einer: »Dem Großjohann seine Mutter ist eine Viehhirtin gewesen.« – »Eine Viehhirtin«, wiederholten die anderen und sahen höhnisch Philipp Großjohann an. – »Ja, sie hat das Vieh gehütet im Gebirge, müßt ihr wissen. Der Kreutz sagt es, und der hat es von seinem Onkel Endenich gehört.« – »Das Vieh gehütet! Das Vieh gehütet!« schrien die anderen.

»Was sagst du da?« frug Philipp Emanuel, und der dreiste Erzähler wich schnell hinter den Rücken des Nachbarn zurück. – »Ehe der Hahn dreimal kräht, verleugnet Großjohann seine Mutter«, sagte einer. – »Kikeriki! Kikeriki!« krähte die Gesellschaft.

»Was sagst du da?« frug wieder und noch wilder Philipp. – »Ja, der Kreutz sagt,« rief der Erzähler hinter dem Rücken des Nebenmannes hervor, »daß dem Großjohann seine Mutter das Vieh hütete und einen Wolf getötet hat«

»Einen Wolf getötet! Einen Wolf getötet!« kicherten nun alle und schlugen mit den Beinen nach hinten aus, einem Rudel Pferde gleichend, die von Wölfen bedrängt die Köpfe zusammenstecken und nach hinten ausschlagen. »Ist das wahr, Großjohann?« frug einer.

Philipp Emanuel wurde rot und verlegen, denn er wußte nicht – er hatte nichts dergleichen gehört – aber da hatte er sich schon gefunden! »Ja, das hat sie auch«, rief er zornig aus; »sie hat die Herden 100 gehütet, und als ein Wolf in die Herde fiel, hat sie ihn getötet.« – »So, so? Hat sie ihn getötet? Wie hat sie das denn getan?« riefen sie. – »Nicht etwa mit einer Kugel aus dem Hinterhalte . . .« – »Sondern – ?« drängten sie. – »Sondern sie hat ihn am Halse gepackt, so –« Jetzt hatte Philipp den kleinen Schmäher, blitzschnell um den Nachbarn herumbiegend, am Halse gepackt, zerrte ihn hervor und würgte ihn, daß dem im Nu die Backen blau wurden und die Augen hervorquollen. Die anderen warfen sich dazwischen – »und hat ihn gewürgt!« rief Philipp, »sie hat sich mit ihm am Boden gewälzt und ihn langsam erwürgt.«

»Der Großjohann ist nämlich dabeigewesen«, flüsterte einer höhnisch. Aber – »Halt's Maul, du Affe!« riefen ihm die anderen zu, denn die Kraftäußerung Großjohanns hatte sie überzeugt, daß da nichts zum Lachen war. »Erzähl', Großjohann, erzähl'!«

»Nun,« sagte dieser, die Lage jetzt völlig beherrschend, »was denn weiter, sie hat ihn eben erwürgt. Und eure Mütter, was haben denn die getan, he? Sie haben vielleicht einmal Fliegen an der Fensterscheibe gefangen und haben ihnen die Flügel ausgerissen? Fragt sie doch einmal! Oder sie haben einmal mit Speck eine Maus in einer Falle gefangen und haben sich nicht entschließen können, das arme kleine Biest in einem Eimer Wasser zu ertränken. Es ist ja so niedlich, das Mäuschen, so niedlich . . . !« ahmte Philipp Emanuel höhnisch Mädchenstimmen nach. »Oder war es vielleicht eine Ratte? Und als die Ratte sich durch den Drahtkorb durchgebissen hatte, da sind sie kreischend auf die Tische und 101 Schränke gestiegen! He? Was haben also eure Mütter getan?«

»Er hat recht! Der Großjohann hat recht! So sind die Mädchen!« stimmten alle bei. »Willst du, daß wir dem Silberzahn sein Maul stopfen? Willst du, daß wir ihn durchwalken, Philipp?« Voller Bewunderung standen sie alle um Philipp. – »Laßt den Wicht, er ist mir zu erbärmlich!« sagte stolz Großjohann.

»Hihihi! Kikeriki!« krähten sie nun und lachten alle, »das ist richtig! Dem Großjohann seine Mutter! Bravo! Und die Mäuse! Und die Ratten! Wie sie auf die Stühle stiegen und schrien, und schrien: Mama! Mama! Das ist gut! So ist es! So schreien die Gänse von Mädchen!« So lachten sie und krähten, indem sie noch lebhafter als vorher mit den Beinen nach hinten schlugen, und sahen in höchster Achtung Großjohann an. Und jeder von ihnen suchte in seine Nähe zu kommen, sodaß ein Gedränge um ihn entstand wie um den Herrn Lehrer, wenn man einen Ausflug machte.

 

Die jungen Hagelstanges beschlossen, Philipp Emanuel zu ärgern, machten sich an die »Großen«, die demnächst die Schule verlassen würden, heran und luden Gabriel Großjohann, der bereits unter den Großen war, ein, ins Haus Hagelstange zu kommen. Gabriel dachte: »Warum soll ich mir nicht einmal Philipps Stiefheimat ansehen?«

Eines Tages gingen er und Philipp gleichzeitig aus, ohne daß einer dem andern sagte wohin. Sie gingen nebeneinander ohne zu sprechen, und Philipp dachte: »Jetzt gleich muß er abbiegen.« Gabriel 102 aber bog nicht ab, ihr Weg blieb derselbe. Schweigend gingen die Brüder, ein wenig getrennt voneinander, nebeneinander her, und Philipp dachte: »Am Frankenplatz spätestens muß er für Merlins zum Seilergraben abbiegen.« Gabriel aber schlug nicht den alten Stadtmauerzug der Gräben ein, sondern betrat neben Philipp in der Sachsenstraße die Altstadt. »Er macht einen Umweg«, dachte Philipp. Und als der Schritt seines Bruders noch immer neben ihm schallte, frug Philipp plötzlich über die Breite des Gehsteigs weg: »Wohin gehst du denn?«

Philipp war Gabrielen durchaus zuwider, und ob Gabriel zu allen Gliedern der Familie ein freundliches Verhältnis suchte, Philipp gegenüber konnte er es nicht. »Du wirst es ja sehen, Flipp!« sagte Gabriel kurz.

Jetzt standen sie vor dem Hause der Hagelstange und hoben beide den Fuß, um die Schwelle zu betreten. »Was hast du denn hier zu suchen?« fuhr Philipp Gabriel an. – »Warum soll ich nicht zum Bankdirektor gehen?« gab dieser zurück. – »Du könntest dir doch daran genug sein lassen, daß du zu Herrn Merlin gehst!« – »Warum soll ich nicht auch zum Bankdirektor gehen?« sagte Gabriel.

Philipp wußte nichts zu sagen. Kurz drehte er sich ab und ging fort. »Sollten die Hagelstanges Gabriel eingeladen haben?« dachte er. Dann würde er, Philipp, sie strafen, indem er ihnen für einige Zeit seine Gesellschaft entzog.

Das war ein feines Haus, nicht so vornehm und still wie das Merlinsche, doch voll Leben und Luxus. Die Diener trugen weiße Handschuhe, und auf den Tischen lagen die Karten der Besucher mit Titeln und 103 Kronen. Auch zum Abendessen blieb Gabriel da. Der Bankdirektor litt ihn wohl, wenngleich Gabriel ihm still und nicht so strebsam wie Philipp erschien. »Gabriel ist kein rechter Großjohann«, sagte er zu seiner Frau, als sich die Kinder nach dem Essen zu Spiel und Gesang in die Nachbarzimmer verstreut hatten. – »Er ist ungläubig, sagt Philipp,« entgegnete Frau Hagelstange, »der Unglaube macht unfroh, ich mag ihn nicht.« – »Ja, Philipp ist nun mal dein Liebling!« sagte lächelnd Herr Hagelstange. – »Ja, ich habe Philipp Emanuel gern«, sagte träumerisch Frau Hagelstange; »warum mag er heute nicht kommen?«

Um 10 Uhr abends kamen die Kinder, die beiden Söhne und die jüngeren Geschwister, zu Vater und Mutter zurück, und Gabriel schickte sich an zu gehen. Die Kinder küßten der Reihe nach Vater und Mutter obenhin auf die Stirn oder neben das Ohr. Eine steinalte eisgraue Tante im falben rauschenden Seidenkleide saß da, mit der niemand redete, die aber alle küßten. Sie sprach nur plattdeutsch und französisch und sagte zu dem küssenden Knaben, indem sie tiefsinnig zu Boden schaute und mit dem Zeigefinger auf ihre Stirn wies: »Embrassez-moi là, paaß op, domme Jong.« Ein Mädchen war unartig gewesen und sollte schwer bestraft werden: Vater und Mutter hielten ihm nicht die Wange hin, sondern reichten ihm nur die Hand. Als Gabriel das Küssen sah, wurde er rot und wandte sich ab. Fritz aber war, schien es, sehr unartig gewesen, denn die Mutter sagte: »Fritz, du bekommst auch morgen früh keinen Kuß.« Also auch morgens küßten sie sich? Und wohl immer so obenhin, auf die Stirn oder neben das Ohr? »Nein,« sagte Gabriel zu sich, »dann ist es 104 schon besser, wie es bei uns ist.« Er verabschiedete sich höflich, und Herr Hagelstange wagte nicht, ihn wieder einzuladen. »Schade, ich hätte ihn gerne näher kennengelernt«, dachte er; »das ist ein anderer Großjohann, ein sonderbarer. Er kommt sicher nicht wieder.«

Gabriel kam nachhause und gab den Eltern wiederum die Hand. Aber der Vater, der in dieser Unglückswoche verärgert dasaß, erschrak über den plötzlich ihn anredenden Sohn und brummte: »Ach, laß mich in Ruh!« Da zog Gabriel die Hand zurück. »Den Eltern ist es lästig«, dachte er. Er gab fürder niemandem mehr die Hand. Er fühlte sich unglücklich und doch wie von einer Plage befreit.

Eulenspiegel

Eines Tages im vorigen Winter kam Eulenspiegel das Pappelland herauf in die Stadt und klopfte bei Großjohann an. »Was machst du hier, Eulenspiegel?« – »Ja, Großjohann, was mach' ich hier? Ich muß sie alle kennenlernen, die Leute, von denen man redet, um zu sehen, ob die Welt sich von ihnen keinen Staub in die Augen streuen läßt, denn die meisten Großen sind Blender. Wie ich hierher komme und alle Welt und die Kinder nur ›Großjohann‹ sagen höre, da denke ich bei mir: den Großjohann mußt du kennenlernen. Großjohann, ich warne dich vor mir! An den schwachen Tagen, wenn ich mich unten fühle, will ich mich an den Großen erbauen, und an den starken, wenn ich selbst obenauf bin, über sie spotten. Bald sehe ich sie durchs Vergrößerungs-, bald durchs Verkleinerungsglas!« – »Du scheinst noch immer der alte Wortkünstler und Schalk zu sein, 105 Eulenspiegel.« – »Unsere Haut ist ein Hemd, das wir nicht ausziehen können,« entgegnete der, »und wir brauchen's auch nicht, denn es bleibt immer rein. Du siehst, ich glaube an das unzerstörbar Gute im Menschen. Wenn wir aber nicht an uns selbst glauben, wer soll denn an uns glauben?« – »Du gibst zu denken, Eulenspiegel. Du kannst, wenn du willst, bei mir bleiben.«

»Das tu' ich gern, Großjohann. Mich hat noch kein Großer landaus, landein vom Hofe gewiesen, kein Bischof, Graf oder Herr. Kein Kluger ist so klug, daß nicht ein Dummer hin und wieder noch klüger sein könnte. Wir lernen alle voneinander, und in dieser Lebensschule lernt man nie aus.«

»Wielange willst du bei mir bleiben?« – »Solange ich was lernen kann.« – »Wielange meinst du wird das sein, Eulenspiegel?« – »Sagen wir zwei, drei Wochen, Großjohann.« – »Alle Wetter, du machst kurze Semester! Und für welches Fach willst du dich entscheiden?« frug Großjohann. – »Nun, für die Baukunst, natürlich!« sagte Eulenspiegel. – »Und die denkst du in sagen wir zwei, drei Wochen zu lernen, Eulenspiegel?« – »Was man so lernen nennt! Ich hoffe, du wirst mich verstehen. Den Witz einer Sache hat man nämlich schnell begriffen, die Sache selbst braucht man nicht in allen ihren Weiten und Seiten zu durchforschen. Da kommt nur neuer Stoff, aber kein neuer Geist zutage.« – Großjohann nickte. »Du meinst studieren nach der Tiefen, nicht nach der Breitenlinie«, sagte er. – »Ganz richtig!« rief Eulenspiegel, »und das ist ein kurzes Studium. Wir sind ungeheuer in die Breite gegangen, aber wenig in die Tiefe. Es ist 106 unglaublich, was alles an früher öden und wilden Strecken angebaut wurde, ein so alter Landläufer wie ich kann das sagen, aber wir bauen eben immer noch die gleichen guten Früchte und denselben alten Kohl.« – »Hm . . .« brummte nachdenklich Großjohann. – »Hm, sagte auch der Pfarrer auf der Kanzel, da wußte er nichts anderes«, lachte Eulenspiegel; »und noch etwas, Großjohann. Ich bin ein Menschenfresser! Du schaust aus, wie ich das wohl meine? Die Sachen sind ja nun langweilig. Wenn nun wenigstens die Menschen kurzweilig wären! Aber auch die sind langweilig. Deren verspeise ich alle Tage ein paar von der Durchschnittssorte und alle Wochen einen bedeutenden. Vielleicht werde ich an dir sogar sagen wir zwei, drei Wochen verdauen.« – »Aha, du hattest mich vor dir gewarnt!« erinnerte sich Großjohann. – »Siehst du, daß ich recht hatte?« rief Eulenspiegel;»du kannst in den zwei, drei Wochen noch viel mit mir ausstehen.«

»Also gut, Eulenspiegel! Du scheinst mir durchnäßt und durchkältet zu sein. Jetzt im Winter werden die Bauten ausgetrocknet. Melde dich bei meinem Bruder, dem Werkmeister, du kannst die Koksfeuer unterhalten. Ich habe auch ein paar gar nicht dumme Söhne. Die kannst du ein bißchen in die Schule nehmen, es schadet ihnen nichts. Ich habe dazu keine Zeit.« – »Also Prinzenlehrer am Hofe Großjohann? Hoffentlich sind deine Söhne nicht zu dumm für meine Torheit. Ich kann nichts dafür, daß die Frösche keine Schwänze haben, sagen die Westfälinger.«

 

»Sind deine Kartoffeln gar, Gabriel?«

107 Gabriel griff in die Asche, grub hinein und quetschte prüfend die knisternden Kartoffeln. »Noch nicht ganz«, sagte er. – »Hunger hab' ich, ich kann's nicht sagen,« rief Eulenspiegel, »aber Geduld, Geduld, sagt Meister Schult, da lebte er noch.« – »Du weißt immer so drollige Sprüche, Eulenspiegel.« – »Wenn das Maul spricht, schweigt der Bauch. Merk' dir das, Gabriel, wenn du einmal hungrig bist. Bist du schon mal hungrig gewesen?« – »Ja, ich denke doch«, sagte Gabriel. – »Hungrig, mein' ich!« rief der andere, »richtig hungrig! So, daß du erst Kopfschmerzen und nachher Schwindel fühlst?« – »Nein, so noch nicht«, gestand Gabriel. – »Dann warst du auch noch nicht hungrig. Wer ist heutzutage noch hungrig außer einem armen Landläufer? Niemand mehr. Schade drum. Die Menschen vergessen dadurch, wie nah sie dem Tiere sind. Hunger schützt vor Einbildung. Die Menschen von heute verwechseln Hunger mit Appetit und sagen, sie haben Hunger, wenn der Bauch sagt, daß noch was drauf geht. Jetzt sind die Kartoffeln aber gar!« rief er, grub sie aus der Asche, brach sie auf, bestreute die dampfende Innenseite mit Salz und aß. Auch Gabriel aß die seinen.

»Selber essen schmeckt am besten, sagen die Preußen«, meinte Eulenspiegel. Und als er einen Haufen verzehrt hatte, rief er, sich in die Asche streckend: »So, nun ist das Leben wieder schön und die Welt wieder die beste! Ist der Bauch voll, dann ist der Kopf klug. Es ist lecker warm, was? Ich schwitze. Man muß abrücken.« Er tat es, auch Gabriel rutschte einen Fuß weit vom Feuer weg.

Der Gitterofen strahlte Glut aus. Eulenspiegel stand auf und deckte eine neue Lage Koks in den 108 Gitterkorb. Die Kohlen sackten langsam nach unten. Gelbe und blaue Flämmchen züngelten auf, und hier und da zersprang eine Kohle, einen Funkenregen versprühend. Sie hörten es von den Decken des Baues tropfen, und Eulenspiegel sagte, einen auf seine Stirn gefallenen Tropfen wegwischend: »Muß ich ein guter Christ sein! Ich bin in diesen Tagen der Trocknerei schon ein halbes Hundert Male getauft worden.« Sie sahen die Mauern schwitzen und Bächlein die frischgekalkten Wände herablaufen. Der Widerschein des offenen Ofens malte das Wasser rot. Es war in der frühen Mitternacht und dunkel.

»Es riecht ganz sauer von dem Kalk,« meinte Gabriel, »und benimmt einem den Kopf.« – »Aber es riecht nicht schlecht«, sagte Eulenspiegel; »ich hätte nicht gedacht, daß die Baukunst so gut riechen könnte. Man muß sich nur daran gewöhnen, denn man gewöhnt sich an alles, sagte die Köchin zum Aal, als sie ihm die Haut abzog.«

»Wie alt bist du eigentlich, Eulenspiegel?« frug Gabriel, in dem Gesichte mit der pergamentenen, aber glatten Haut forschend und das Haar studierend, von dem es fraglich war, ob es schon weiß oder nur falb war. – »So alt wie mein großer Zeh, das heißt etwas älter, denn er ist zuletzt aus der Mutter gekommen.« – »Du bist ein Schalk, Eulenspiegel.«

»Und du ein altkluger Bursche. Altklug lebt nicht lange, merk' dir das, mein Junge, und du wirst früh graue Haare haben, Gabriel. Nach dem Fressen gehen die Löwen an die Tränke, darum reich' mir mal den Wasserkrug. Schade um den schönen Durst, sagte der Handwerksbursche, als er Wasser trinken mußte.« Gabriel lachte drauf.

109 »Nun lach' mal ordentlich los, Junge!« rief Eulenspiegel, »du lachst wie der Bauer, dem's Haus abbrennt. Du mußt lachen, daß dir der Bauch wehtut. Das ist gesund. Andere Jungens in deinem Alter können das. Aber bei euch zuhause scheint das Lachen chinesisch zu sein. Ihr macht immer Gesichter, als ob euch die Backzähne wachsen.« Gabriel lachte wieder.

»Lache! Mal immer zu! Wag' es nur! Versaufen sie, so versaufen sie, sagte der Bauer, als er die jungen Enten aufs Wasser ließ.« Gabriel lachte laut auf.

»Nur nicht die gute Laune verlieren!« rief Eulenspiegel; »wie sagte doch die Hexe: Heute gibt's einen heißen Tag – da wurde sie verbrannt. Aber der Mann – ich bin auf die Weiber nicht gut zu sprechen, du wirst da auch noch deine Erfahrungen machen – der Mann war natürlich noch einen Grad feiner. Ich seh es kommen, daß ich vor Lachen sterbe, sagte jener kitzlige Strolch, als ihm der Scharfrichter den Strick um den Hals legte.«

Gabriel platzte aus. Sein Lachen schallte durch den nächtlichen Bau. »Oho!« rief Eulenspiegel, »Gabriel, du lachst ja, als hättest du hier allein zu lachen! Mach' dich mal nicht so wichtig! Mach' dich mal nicht so wichtig, sagte auch der Dieb zum Henker, der ihn hängen sollte, die Hauptperson bin ich!«

»Nimmst du es auch immer genau mit dem, was du erzählst, Eulenspiegel? Ich glaube, du lügst gern.« – »Ein bißchen Lügen ziert die Rede, mein Junge. Das wirst du auch noch lernen. Genau! Genau! Nur nicht bange sein! Genau ist die Schlinge, die dir der Henker um den Hals wirft. Man muß reden, wie's einem ums Herz ist. Was vom Herzen kommt, das 110 geht auch zum Herzen, wenn es auch nicht ›genau‹ ist. Von der Lunge auf die Zunge! Was ist das?« – »Ja, was soll das sein, Eulenspiegel – ?« – »Wer kann lügen, daß es wie Wahrheit und mehr als Wahrheit die Herzen ergreift, Gabriel?«

»Der Dichter!«

»Richtig! Siehst du, du bist nicht so dumm und trüb, wie du ausstehst.« – »Deine Zunge hat auch Borsten«, sagte Gabriel. – »Grobheiten sind das Salz der Schmeichelei,« belehrte Eulenspiegel, »ohne die wird sie fad. Ich habe dir schon zuviel Liebenswürdigkeiten gesagt, denn du bist, das muß man sagen, ein begabter Junge. Ich wäre ein schlechter Prinzenerzieher und dein königlicher Vater Johann der Große würde mir den Laufpaß geben, wenn ich seinen Kronprinzen verzärtelte. Mit Zärtelei kommt man nicht durch die Welt. Die Welt ist ein steiniges Feld, sag' ich dir. Ich bin ein Landläufer! Hans Landauf-Landab weiß das. Er versteht das Hungern und Frieren und hat gelernt, auf Schelte und Püffe zu blasen. Gleichmut in allen Lebenslagen, das ist, was ich dich lehren kann. Das hätte schlimm werden können, sagte der Bauer, als ihm der wütende Stier den Bauch aufschlitzte. Hollah, bei dieser guten Gelegenheit! Was willst du eigentlich werden, Gabriel? Baumeister, wie dein Vater?« – »Bist du schon mal einem Sohne begegnet, der werden wollte, was der Vater war, Eulenspiegel?« – »Selten, auf allen meinen Läufen selten«, bestätigte der Lehrer. – »Kein Ding verträgt es, daß man es zu nah ansieht«, erklärte der Schüler. – »Ganz gescheit! Oder doch: läßt sich hören. Das klingt sogar viel zu gut für einen grünen Jungen.« – »Also, Eulenspiegel, ich 111 will Musiker werden.« – »Die Trompete blasen auf den Märkten?« frug der; »nicht schlecht, du erlebst was. Aber ob das deinem Vater nicht zu wenig ist?«

»Tondichter!«

»Hm, also nicht die Trompete blasen und dein Brot verdienen? Hm, ich versteh'. Was willst du werden, frug man den andern Jungen, und er sagte: Ich will mich ins Fenster legen und die lange Pfeife rauchen.« – Gabriel lachte laut auf. – »Na, bis dahin wird ja noch viel Wasser den Rhein hinabgehen«, meinte Eulenspiegel.

»Jetzt hast du mich genug gekitzelt, Eulenspiegel, jetzt will ich nachhause und schlafen gehen.« Er stand auf. – »Ich will mich auch hinstrecken,« sagte Eulenspiegel, noch eine Schaufel Kohlen auf die Glut legend und eine Decke auf die Asche breitend, »die Asche ist ein warmes Bett.« – »Ich muß sagen, das tut ordentlich wohl, mal richtig zu lachen«, sagte Gabriel, sich die Asche aus den Kleidern klopfend. – »Tüchtig lachen, Gabriel. Du wirst alt davon. Über alles lachen, das macht gescheit. Da lach' ich drüber! sagt man, und das ist der beste Spruch.«

»Soll das eine Abschiedsrede sein, Eulenspiegel? Du willst doch nicht . . . ?«– »Das weiß ich jetzt noch nicht, mein Sohn. Das weiß ich erst morgen früh. Ich bin nun schon vier Wochen hier. Solange hab' ich es noch nirgendwo ausgehalten. Man muß sich vom Geiste führen lassen. Alles Gute sind Einfälle. Du kannst dir zwar Hühner anschaffen und sie füttern, aber nicht sie zwingen, Eier zu legen. Na, schlaf gut, mein Junge, du verdienst es.« – »Schlaf gut, Eulenspiegel.«

Am nächsten Morgen war Eulenspiegel fort. 112

 


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