Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

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Sechstes Kapitel

Beweise!

Vater, ich mußte es dir sagen. Ich bin nicht gewohnt, mich allein zu grämen. Vater – wenn du mein Vater bist . . . !« – »Der Teufel ist in die Großjohanns gefahren, er soll sie sich holen!« rief Herr Merlin, wider seine Art aufbrausend und aufspringend, indem er Gertrud, die am Boden zwischen seinen Knien saß, zurückstieß; »ich werde diesem Gabriel den Schlüssel abnehmen! Ich werde ihm mein Haus verbieten! Ich . . . !« – »Mach' das Übel nicht noch schlimmer, Vater! Strafe mich nicht auch, wo das Schicksal mich schon straft! Vater! Ich nenne dich noch so! Immer so! Vater!« – »Was richtet dieser Unglücksmensch von Gabriel denn nur an?« rief Herr Merlin. – »Er hat es doch von seiner Mutter gehört, er muß doch sagen, was wahr ist!« – »Wahr? Wahr? Hat er denn Beweise? Hat seine Mutter denn Beweise, daß du jenes Mannes Kind bist?« – »Hast du denn Beweise, daß sie dein Kind ist, Vater?« frug Gabriel eintretend.

Da war es still im Zimmer. Herr Merlin ließ sich in einen Sessel fallen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Gabriel setzte sich zu der am Boden 186 hockenden Gertrud nieder. Sie sagte leise zu ihm: »Deine Schwester war am Nachmittag hier. Sie ist weggegangen, und ich fürchte, es gibt da ein Unglück mit ihr.« – »Sind wir nicht des Unglücks voll?« rief in Verzweiflung Gabriel.

»Hört mich an, Kinder! Ich kenne doch deine Mutter, Trude, ganz genau, ich habe doch ihren Brief gefunden und euch vorgelesen, ich . . . ich . . . ich bin felsenfest überzeugt: es kann nicht sein!« – »Vater,« sagte Gabriel, Herrn Merlins Hand ergreifend, »du bist mir in dem, was du sagst, Eid und Evangelium, aber meine Mutter ist mir auch Eid und Evangelium. Mein Vater wäre es mir nicht. Mein Vater träumt bisweilen und verwechselt Traum und Wirklichkeit. Wenn mein Vater es sagte, würde ich vielleicht zweifeln. Aber was meine Mutter sagt, ist lauteres Gold. Vater, dein Wort ist mir nicht ein Gramm weniger, wenn ich es auf die Wage lege, aber das meiner Mutter auch nicht.« Tränen füllten seine Augen. »Beweise! Beweise!« rief er.

»Man kann nicht alles beweisen, was man glaubt«, sagte Herr Merlin; »man muß oft glauben, einfach glauben, wo jeder Beweis unmöglich ist. Vieles glauben, was trotzdem nicht weniger zuverlässig ist, was man so aus der vollen Kenntnis des Lebens und der Menschen glaubt, daß, wenn es nicht zuverlässig wäre, das ganze Leben ein Trug und alle Menschen Betrüger wären. So bin ich von Gertruds Mutter überzeugt.« – »Ja, ähnlich sicher würde meine Mutter auch reden, wenn sie überhaupt so zu reden verstände«, sagte Gabriel.

»Sprich du aus deiner Herzenserfahrung, Trude, fühlst du denn nicht, wer dein Vater ist?« –»Nein, 187 Vater, das fühle ich nicht. Ich habe ja auch Gabriels Vater noch nie gesehen. Wenn ich mich nicht selbst täuschen und meine Liebe zu dir einfach für die Wahrheit halten will.« – »Das war recht gesprochen«, sagte Gabriel; »Beweise! Beweise!«

»Sieh, Vater, ich werde dich immer lieben, auch wenn ich nicht dein Fleisch und Blut bin. Du bist so gut zu mir. Du hast mir die schönste Kindheit bereitet, die ein Mensch haben kann. Deine Gesellschaft bin ich so gewohnt. Wenn du nicht mein Vater wärst, so bist du es geworden. Das sage ich, wenn du mich aufs Gefühl fragst. Aber beweisen kann man daraus nichts.« – »Beweise! Beweise!« rief Gabriel.

»Und . . . und Gabriel? Du, und Gabriel?« rief Herr Merlin und errötete. Traudchen erglühte in Scham und bedeckte ihr Gesicht. Gabriel aber erglühte in Zorn und rief: »Beweise!«

»Man kann nichts beweisen«, sagte Herr Merlin sich erhebend; »wir müssen nun glauben, daß es ist, wie wir wünschen, daß es sei. Und im übrigen im Zweifel leben bleiben. Ein Gott, der auf unser Leben herabsieht, und einer, der gleich Gott in das Gefüge unseres Lebens sieht, kann wissen. Selbst Gabriels Vater, wenn er getan hätte, was Gabriels Mutter ihm vorwirft, und bekennen wollte, wenn es etwas zu bekennen gibt, könnte nichts Bestimmtes wissen. Die einzige, die etwas Bestimmtes wissen könnte – immer vorausgesetzt, daß es dergleichen zu wissen gibt – ist tot. So laßt uns im Zweifel fröhlich leben. Es ist ein alter Satz im römischen Recht: mater certa est, pater nunquam, der Mutter kann man sicher sein, des Vaters niemals.« Damit ging er hinaus, die Kinder im Zwielicht des Abends zurücklassend. 188

Keine Spur!

Mit Windeseile verbreitete sich die Kunde, daß der junge Leo durch die Hand der Tochter Großjohanns gefallen war. Als ein stumpfer Schlag wirkte sie im Hause Großjohann. Kaum sprach man miteinander darüber. Jeder suchte einen einsamen Winkel wie ein krankes Tier, seinen Schmerz zu verwinden.

Nicht so sehr davon litt man, daß Tochter und Schwester eine Mörderin war, sondern davon, daß man nicht wußte, warum sie es war. Da man im Hause Großjohann nicht über Schmerzen und Sorgen sprach, die man trug, auch nicht über die guten und großen Taten, die man füreinander tat, so blieben die Gründe für Brigittas Tun unbegreiflich. Niemand dachte daran, daß es mit der Geldangelegenheit zusammenhangen könnte, denn der junge Leo hatte ja kaum noch etwas von Großjohannschen Grundstücksschulden besessen.

Hermann Großjohann, in seinem Winkel sitzend, stieß den Kopf wider die Wand und rief: »Warum kann sie das wohl getan haben? O ich unglücklicher Vater! Ich bin zu gut gewesen! Das ist die Liebe, die ich von den Kindern erfahre! Ich hätte strenger sein müssen! Nur mit eiserner Zucht kann man Kinder halten.« – Die Mutter Franziska saß in einem dunklen Winkel der Küche, die Schürze über das Gesicht geschlagen und jammerte still für sich: »Die Engel sind aus diesem Hause gezogen, die Teufel sind eingekehrt! Der Himmel ist verbannt, die Hölle ist da! Wäre ich doch bei meinen Herden geblieben im Gebirge! Der Mann ein Ehebrecher und Trinker, die Tochter eine Mörderin. So fängt es an. Was 189 werden die anderen nun tun? Gabriel, was wirst du nun tun? Voran, du bist dran! Was zögerst du noch? Blutschande! Das kann ja dein Beruf sein. Fränzchen? Willst du nicht das Stehlen lernen? Schnell, es wird Zeit! Philipp, wenn du Priester wirst, mußt du ja ein Ketzer werden, mußt abfallen von der Kirche und ein Weib nehmen wie Luther!« In dem Augenblick kam Philipp in die Küche, Franziska sprang aus ihrer Ecke auf, tat als ob ihr die Augen vom Herdfeuer tränten und sagte ruhig: »Heute gibt's Bohnensalat, Philipp.« Philipp aber sagte: »Ich gehe in die Heiligkreuzkapelle, Mutter, für das Seelenheil der armen Sünderin zu beten, daß sie sich selbst dem rächenden Richter stellt, damit sie ihre Strafe erhält und ihre Sünde getilgt wird. Oder doch wenigstens in den Beichtstuhl geht. Ich glaube, Brigitta ist lange nicht mehr zur Beichte gegangen. Sie war ein schlechtes Weib; beim Apostel steht . . .« – Gabriel lag auf dem Teppich am Boden in Traudchens Zimmer, den Kopf in ihrem Schoße. Sie streichelte sein Haar und sagte: »Tröste dich, Gabriel. Brigitta war eine Heldin. Ich habe sie geliebt. Ich will dir erzählen, soviel deine Schwester mir gesagt hat und soviel ich davon zu verstehen glaube.« – Fränzchen – o wie häßlich war Fränzchen! Fränzchen hatte eine gelbe Haut und glotzende Augen, seine Finger waren wie Spinnenbeine, und er schien auch etwas krumm zu sein, in seiner Seele war es auch nicht eben schön – Fränzchen, der gerade zuhause in der Stadt war, hatte sich in das Sparrenwerk des Daches verkrochen, wie die Katzen am Tage tun, und sagte zu sich: »Hier steige ich nicht mehr herunter! Ich will mich auf der Straße nicht mehr sehen lassen! Ich schäme mich dieser 190 erbärmlichen Familie. Warum bin ich nicht Onkel Franz Xavers Sohn? Hier bleibe ich sitzen, bis ich verhungere. Dann können sie denken, auch ich habe ein Verbrechen begangen, und mich vergebens suchen. Bis sie mich finden, bin ich ein Gerippe. Ich schäme mich, ich rühre mich nicht, ich verhungere!« Als er eine Stunde dort gesessen hatte, dachte er: »Wollte die Mutter heute abend nicht Bohnensalat machen? Ich will doch mal hinuntergehen und sehen, ob ich mich nicht geirrt habe?« Die anderen Kinder waren zu klein, zu begreifen. Sie hatten auch schon gelernt, wie die Großen zu schweigen, ihre Leiden nicht an die Münsterglocke zu hängen, und wenn sie trübe Gesichter sahen, nicht zu fragen.

In der Welt der kleinen Bauleute wirkte der Tod des jungen Leo befreiend. Viele kannten den Blutsauger und freuten sich aufrichtig über seinen Tod, besonders darüber, daß er so schmählich geendet hatte. Sie freuten sich aber nur heimlich, denn sie waren doch Christen! Einer ging laut singend und frohlockend über die Straße, aber das war ein Jude. Die christlichen Bauleute wandten sich von ihm ab und sagten untereinander: »Das ist ein schlechter Mensch! Gott und die heilige Jungfrau gehaben die Seele des jungen Leo in Gnaden, aber ich freue mich herzlich, daß das Aas verreckt ist!«

Bei Großjohann meldeten sich in den nächsten Tagen die Gläubiger. Der Name Großjohann wurde so oft in der Öffentlichkeit genannt, Steckbriefe standen in den Blättern, das rote Plakat des Staatsanwalts hing an den Anschlagsäulen, es kamen so merkwürdige Dinge über das Leben der Familie an den Tag, daß sich plötzlich, obgleich von Großjohanns 191 Geld und Geschäft nicht die Rede war, das Gerücht verbreitete: Großjohann macht Bankerott! Zwar waren es nur die kleinen Leute, die ihre Rechnungen an Großjohanns Tür vorzeigten, Bäcker und Schuster, Fuhrleute und Dachziegler, aber dieser allgemeine Zulauf zu Großjohanns Hause erschütterte das Ansehen und erschöpfte die Tageskasse. Von Brigitta keine Spur.

 

Von Brigitta keine Spur auch nach Monaten nicht. Das öffentliche Gerede erstarb wie ein ungenährtes Feuer, die roten Plakate wurden überklebt, und der Staatsanwalt schloß vorläufig seine Akten über den Fall. »Das Dunkel ist das Furchtbare«, sagte Gabriel zu Traudchen und Vater Merlin; »wo mag sie nur sein? Schon als Kind pflegte sie tagelang zu verschwinden, als hätte die Erde sie verschluckt. Das Dunkel ängstigt. Man wähnt Feinde in allen Ecken, unter dem Boden, in der Luft! Traudchen hat uns ja sehr viel aufgeklärt, und wir drei wissen nun, daß Brigitta keine gemeine Mörderin ist.« – »Du mußt es auch deinen Eltern sagen, Gabriel«, meinte Herr Merlin. – »Ich kann nicht, Vater! Ich kann nicht! Wenn da nicht dieses Weibsopfer des Mädchens wäre, könnte ich es. Bei den Großjohanns ist alles, was mit dem Leibe und der Erde zu tun hat, verschwiegen und verpönt. Die Großjohanns, müßt ihr wissen, stammen nicht von der gemeinen Erde ab! Die werden nicht vom Manne erzeugt und vom Weibe geboren! Die sind sozusagen ein höheres Geschlecht! Die hat ein erhabener Geist erzeugt, wenn es auch der Teufel war!« So höhnend brach er über den Schoß Traudchens geneigt in Schluchzen aus, das 192 seinen ganzen Körper erschütterte. – »Weine nicht, Geliebter«, flüsterte Traudchen.

»Du darfst über deine Eltern nicht so bitter reden, Gabriel«, sagte Herr Merlin; »deine Eltern mit ihren Kindern leben, wie sie's verstehen.«

»Aber wir leben doch nicht,« schrie Gabriel außer sich, »wir leben nicht, wir sterben immerzu! Unser Leben ist ein verzweifeltes qualvolles Sterben. Wir trampeln die Erde wie die Giganten und können doch nicht auf ihr Fuß fassen. Wir töten Wölfe und Männer, und können uns selbst nicht das bißchen Ruhe erraffen, das zum guten und schönen Leben nötig ist. Wir haben kein Gleichgewicht in uns und können darum nicht leben. Wir zischen und sausen regellos wie Meteore dahin durch den Raum . . .« Schluchzen zerbrach ihm die Rede.

Dann war es ganz still in Traudchens Zimmer. Die Standuhr tickte schwer.

»Wenn man nun einem dieser gleichgewichtslosen Dinge«, sagte Traudchen nach einer Weile, »ein anderes Stück anbindet – mich, so wird es, so wirst du das schöne Gleichgewicht finden, Gabriel.« – »Willst du es wagen, Trude?« frug Herr Merlin ängstlich. – »Ja!« sagte Gertrud, »dieser Großjohann wenigstens soll ein einfacher schöner glücklicher Mensch werden, der seines Daseins froh sein kann.« – »Ja, tu' es, Trude«, sagte Herr Merlin.

»Nein, tu's nicht, Gertrud!« rief Gabriel. – »Nicht?« frug sie. – »Warum denn nicht?« frug leise Herr Merlin.

»Ich wag' es nicht. Ich wag's nicht mehr. Ich habe den Mut nicht mehr, dein Leben an meines zu 193 binden. Wer weiß, eines Tages bricht auch bei mir der Wahnsinn aus, dieser versteckte Wahnsinn meines Vaters.« – »Wie du es willst«, flüsterte Gertrud, sich über den Kopf Gabriels, den sie umfaßt hielt, senkend. Ihre Tränen fielen in sein Haupthaar.

»Wanken! Dunkel! Zweifel!« flüsterte Gabriel in das trauervolle Schweigen der Stube.

»Im Zweifel fröhlich leben!« flüsterte Herr Merlin. »Kinder, ich kann's nicht«, lächelte er. Das war nicht mehr sein altes Lächeln der heitern Seele. »Ich kann's nicht, Kinder. Ich bin bis zur Sicherheit von tausend Eiden überzeugt, daß deine Mutter, Gertrud, nicht gelogen hat. Ich habe eine unerschütterte Sicherheit, aber es ist doch nicht die, daß das Anderssein wider alle Vernunft und Natur wäre. Vielleicht . . . wer weiß, vielleicht bin ich mein Leben lang blind gewesen, und die Welt ist doch anders, als ich geglaubt habe. Aber ich kann nicht mehr umlernen. Und plötzlich erheben auch andere Zweifel ihr Haupt, wenn ich den einen zulasse, die an der Schönheit und der Kunst, von denen ich lebte, die an dem rechten Weg und der Zukunft des Volkes, unter dem ich lebe. Ich kann nicht mehr fröhlich leben. Ich bin zu alt, Kinder. Ich kann nicht anders leben. Meine Zeit hat's auch nicht gekonnt. Sie bedurfte immer noch der Gewißheit, und wenn sie sie nicht hatte, so täuschte sie sich durch Glauben. Aber ich denke, eine neue Zeit wird auch im Schaukeln der Zweifel leben können. Wir haben noch immer um Ziele gelebt, vielleicht wird man in Zukunft um des reinen Lebens willen leben. Warum soll man darum nicht leben können? Man darf nur nicht seekrank werden auf dem Schaukelmeere aller Begriffe. Ich bin alt, aber ihr seid jung, 194 Kinder. Ich kann's nicht, darum müßt ihr es können. Lebt glücklich, denn ich werde bald sterben.« Er stand auf und ging langsam zur stillen Stube hinaus.

Herr Silberzahn

»Ich weiß keinen andern Ausweg mehr,« sagte Hermann Großjohann, »als daß ich noch viel mehr baue. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber das Geld fängt an zu fehlen. Ich muß aufs neue bauen und hätte es so gern eingeschränkt.« – »Also baue!« sagte Franziska kurz.

»Ich habe den Makler bestellt. Wenn er kommt, mach' ihm ein freundliches Gesicht. Saure Mienen sind der größte Luxus, den sich auf der Welt nur die ganz Reichen erlauben können. Es ist doch eigentlich sonderbar,« lachte Hermann grimmig in sich hinein, »daß ich aus Geldnot baue. Richtig aus Geldnot baue! Man sollte meinen, man baut, weil man Geld hat? Aber ich baue, weil ich keins habe!« – »Also baue!« antwortete kurz das Echo Franziskas. Hermann fuhr erschrocken herum, denn er hatte geglaubt, Franziska sei hinausgegangen. »Dummes Tier!« brummte er, »was verstehst du? Du meinst, es sei genug, sich tot zu arbeiten!« Doch sprach er nicht so laut, daß Franziska ihn verstanden hätte. Es klingelte, und Franziska ging hinaus.

Der Makler kam. Er trug eine weiße Weste und hatte schmutzige Fingernägel. Er legte seine mit einem silbernen Schlosse besetzte lederne Aktentasche auf den Tisch. Sie war abgegriffen und die Farbe vom ätzenden Handschweiß angefressen. Er setzte sich, kurz und trocken wie ein Schaf hustend, auf den Stuhl nieder, 195 der krachte, und wischte seinen heißen kahlen Kopf ab, über dem gegen das Fenster gesehen ein Dampfwölkchen rauchte. Dann sah er Großjohann mit einem kalten Blicke seiner wimperlosen rotgeränderten Augen an, und seine glattrasierten Lippen sagten: »Sie haben mich rufen lassen.« – »Ja, ich dachte ein Geschäft mit Ihnen zu machen«, warf Großjohann leicht hin.

»Sie haben mich rufen lassen«, sagte der Makler. »Sie wissen, daß Sie vor Jahren auf Ihrem ersten Bau in der Siegesstraße mich haben stehen lassen. Damals, als ich kam, weil ich mit Ihnen ein Geschäft machen wollte.« – »Nun, jetzt will ich das Geschäft machen«, sagte Großjohann.

». . . als ich kam, weil ich mit Ihnen ein Geschäft machen wollte. Jetzt wollen Sie mit mir ein Geschäft machen. Hm. Wir werden ja sehen. Wa . . . was soll es denn sein – ?«

»Sie kennen meine Neubauten an der Pariser Straße, Herr Silberzahn.« – »Jaja, die da draußen vor den Toren«, nickte der. – »Sie wissen, die sind nun bald hoch, und da . . .« – »Hoch ja, und weit. Man hat geglaubt, Sie haben da draußen eine Stadt gründen wollen, Herr Großjohann. Johannopolis, sagen die Leute, soll die neue Stadt heißen«, höhnten die dünnen Lippen des Maklers, und er ließ, vom Lachen erregt, wieder seinen trockenen Schafshusten hören. – »Nun, das ist doch Baugrund des Grafen Wetter . . .« meinte Großjohann. – »Ja, der auf seine Äcker Kohl pflanzt und Gold – durch Sie – ernten will«, fügte der Makler hinzu. – »Guter Baugrund, sage ich Ihnen, das Gelände hat eine Zukunft«, rief Großjohann. – »Sie werden es doch 196 sicher nicht schlecht machen«, lächelte Silberzahn. – »Also ich möchte bald daran denken, mir eine erste Hypothek zu sichern«, fuhr Großjohann fort. »Es hatte ja freilich noch Zeit, aber Sie wissen, der Geldmarkt ist steif, alles Geld wird heute in Industriepapieren angelegt und für den Grundstücksmarkt bleibt wenig übrig. Es hätte ja gewiß noch Zeit, aber ich habe soviel zu tun, ich kann mich um die Beschaffung der Hypothek nicht kümmern.« – »Jaja, so ungefähr sagen die anderen auch. Keine Zeit. In der Tat aber heißt es: kein Geld!«

Großjohann stieg die Zornröte ins Gesicht. Er bezwang sich aber und sagte: »Wir trinken doch eine Flasche Wein mitsammen? Karitas!« rief er. Die alte Dienerin kam. »Bring' Wein, Karitas. Weißt du, von dem in der zweiten Lage.« – »Ich danke,« sagte Herr Silberzahn, »ich habe schon zuviel Wein heute getrunken.« – »Das ist doch nicht möglich, Herr Silberzahn, es ist ja noch Morgen, kaum elf Uhr!« – »Was glauben Sie, ich war schon bei vier Leuten, keinen schlechten Leuten, gewiß nicht, die auch alle keine Zeit haben, sich selbst um die Hypothek umzutun, und sie alle setzten mir Wein vor, aus der zweiten Lage.«

Großjohann hätte mit der Faust auf den Tisch schlagen und rufen mögen: Hinaus mit dir, du Dreckschwein! Geh nachhaus und putz' dir erst deine Fingernägel! Er sagte aber: »Es ist mir eine besondere Freude, mit Ihnen ein Geschäft zu machen, Herr Silberzahn. Zwischen den Geldleuten und den Bauunternehmern stehen die Makler. Das ist eine natürliche Ordnung, und in einer gesunden Gesellschaft müssen alle Glieder ihr Teil, ihre Beschäftigung und 197 ihren Vorteil haben.« – »Hätten Sie das nur früher bedacht!« sagte Herr Silberzahn. – »Ist es noch nicht genug mit deiner groben Rache, du schlechter Spieler?« dachte Großjohann. Er sagte aber, doch ein wenig unwillig: »Nun gut, ich bedenke es jetzt! Also!«

Silberzahn rückte näher und sah mit seinen nackten roten Augen Großjohann aus der Nähe an: »Sie haben Bauvorschuß genommen.«

»Woher wissen Sie das?« brauste Großjohann auf. – »Nun, man weiß so allerlei.« Silberzahn verzog die dünnen Lippen zu einem vielsagenden Lächeln. – »Das ist Geschäftsgeheimnis!« rief Großjohann, »wie können Sie das erfahren haben? Die Amtsstube des Notars soll doch sein wie ein Beichtstuhl!« – »Ist sie auch! Ist sie auch!« beeilte sich Silberzahn zu sagen, »besonders die des Notars, bei dem Sie den Vertrag mit dem Grafen Wetter gemacht haben. Aber – man erfährt's halt doch. Ohne Bruch des Amtsgeheimnisses. Es gibt so viele Wege, Herr Großjohann.«

»Als Geschäftsmann werden Sie doch sagen, daß dieser Gedanke des Bauvorschusses kein übler Gedanke ist. Bei den Wohlhabenden liegt noch immer Geld. Die Grundstücksbesitzer an der Stadtgrenze haben den berechtigten Wunsch, ihre Kohl- und Rübenfelder als Bauplätze zu verkaufen, die Stadt möchte sich auch immer noch vergrößern – also? Da ist es doch ein guter Gedanke des Grafen, den Kaufpreis als vorläufige Hypothek auf das Grundstück einzutragen und dann, wenn das Gebäude aufgeht, Vorschuß zu geben, beim ersten Stock so viel, beim zweiten so viel und so weiter, bis das Gebäude fix 198 und fertig ist. Dann wird eine regelrechte erste Hypothek genommen – die Sie jetzt besorgen sollen –, damit wird die kleine vorläufige und der ganze Vorschuß getilgt. So hat der Mann sein Geld, und auch dem Unternehmer ist geholfen. Er bezahlt seine Leute, Stadt und Staat bekommen ihre Steuern, und der Unternehmer mag auch noch eine Kleinigkeit verdienen. Wenigstens lebt er während der Zeit.« – »Man sollte meinen, nicht Großjohann reden zu hören«, lächelte spitzig der Makler. Großjohann überhörte es und sagte: »So schafft der Bauvorschuß ein gutes Verhältnis zwischen den Geldbesitzenden aber Untätigen und den Nichtbesitzenden aber gern Arbeitenden. Ich behaupte sogar, daß diesem Gedanken die Zukunft im Baugewerbe gehört.« – »Ja, wenn die Zukunft so schlecht wird, wie es den Anschein hat«, orakelte Silberzahn und hustete.

»Der Bauvorschuß ist ein gefährliches Mittel,« nahm nach einer Pause peinlichen Schweigens der Makler die Rede auf, »ein sehr gefährliches Mittel, Herr Großjohann! Das Unternehmertum ist ein Rädergetriebe, in dem viele Zähne ineinandergreifen. Solange das Getriebe unbeschädigt ist, arbeitet die Maschine. Wenn aber ein Zahn fehlt, Herr Großjohann –? Und ein Zahn fehlt eigentlich bei dem, der Bauvorschuß nimmt. Das geben Sie selbst zu, indem Sie so geheimhalten wollen, daß auch Sie letzthin Bauvorschuß genommen haben. Wer mit etwas Eigenem arbeitet, dessen Maschine hat einen inneren Antrieb. Das Eigene arbeitet, das Eigene mehrt sich. Auf eine mühe- und gefahrvolle Weise freilich, aber Städtebauen ist nun einmal nichts für Schwache und Zärtlinge. Plötzlich fällt durch irgendwelche Ursachen 199 dieses Eigene aus. Der Antrieb fehlt! Gut! Die Maschine braucht nicht gleich still zu stehen. Bewahre! Sie kommt durch ihre eigene Schwere über den toten Punkt hinweg. Wenn sie in gutem Schwung ist, wird sie vielleicht auch weiterlaufen, vielleicht ungestört weiterlaufen, aber –«

»Dann ruft man eben einen erfahrenen Sachverständigen der Geldmaschine,« nahm Großjohann nach dieser unheilschweren »Aber«pause auf, »der durch die richtigen Griffe über den toten Punkt hinweghilft. Ich meine also, der Geld für Hypotheken bei den Geldgebern loszumachen versteht«, schloß er kurz.

»Es wäre schon besser, wenn sich diese jungen Leute von früh auf einen erfahrenen Sachverständigen sicherten. Und nicht, wenn sich gar einer anbietet, ihn stehen lassen, mit einem flüchtigen Gruße vorbeigehen und mit dem Herrn Bankdirektor davonfahren.« Der Makler griff nach seiner Mappe. »Diese hoffnungsvollen Anfänger! Da kommen sie, treten auf, die Brust geschwellt und wirklich einigen Wind in den Segeln. Gott weiß, woher der Wind kommen mag. Aber sie fahren! Sie fahren! Sie lassen die anderen wirklich hinter sich zurück, andere, zum Beispiel ehrliche Makler, die auch die Wonne von Kalk und Stein verspüren, die auch wohl in die Lüfte bauen möchten . . .« – »Also gut –« wollte Großjohann abbrechen, da warf ihm der Makler zu: »Sie haben dem Schröder Geld geliehen?« – »Woher zum Teufel wissen Sie auch das?« rief Großjohann.

»Mein Gott,« flüsterte geheimnisvoll der Makler, »woher wird man das wissen? Von Schröder selbst doch wohl nicht, nicht wahr? Der hat keine 200 Veranlassung, seine Schulden an die Rathausglocke zu hängen. Aber ich kann Ihnen sagen, daß Sie das Geld in den Schornstein schreiben können. Mit dem geht es den Berg hinab! Ich könnte sie Ihnen alle mit Namen aufzählen, die innerhalb eines oder zweier Jahre wieder als Arbeiter Stellung suchen, die kleinen Meister und Unternehmer.«

»Also sehen Sie zu,« sagte Großjohann aufstehend und das Gespräch schließend, »ob Sie das Geld finden. Ich gebe Ihnen 1 v. H. der vermittelten Summe.« – »1 v. H.?« rief plötzlich freudig der Makler, »das läßt sich hören. Sonst bekomme ich ¾ v. H. Sonst bieten 1 v. H. nur die, welche schon ganz unten liegen. Wenn einer 1 v. H. bietet, weiß unsereins, daß keine Hoffnung mehr mit dem ist, und bemüht sich schon gar nicht. Aber bei Großjohann ist das doch was anderes. Das will ich meinen! Ja, der Großjohannsche großartige Sinn ist bekannt, und es wird bei mir an nichts fehlen. Leben und leben lassen! Die Hypothek ist Ihnen schon sicher, kann ich Ihnen sagen. Ich habe immer Fässer in meinem Keller bereit« – er hob seine Mappe hoch – »die ich nur anzuzapfen brauche. Alte reiche Jungfern, die von Geschäften nichts verstehen, oder verdrehte Kunstsammler und Bücherleser, die froh sind, wenn man ihnen einen fertigen Vorschlag bringt, und flugs unterschreiben sie, indem sie nur in ein so ehrliches Gesicht sehen – wie meines.« Sehr freundlich und sehr höflich entfernte sich der Makler. Großjohann führte ihn nicht bis zur Zimmertür; aber es tat nichts, der Makler machte sie schon selbst auf und zu.

Als die Tür zu war, schüttelte Großjohann sich. 201

Der Taschenspieler

Die Tür ging wieder auf. »Hinaus!« wollte Großjohann in Wut und Ekel schreien, denn er glaubte, der Makler käme zurück, aber ein großes Mädchen kam herein. »Entschuldigen Sie, Herr Großjohann, ich habe geklopft, Sie hörten es nicht.« – »Aha, du bist's, Margarete,« sagte Großjohann noch etwas zerstreut, »so komm nur herein.«

Margarete hatte goldgelbe krause Haarlöckchen über der Stirn und lange blonde Wimpern. Weil die Augen auch noch in tiefen Höhlen lagen und fast immer halb zugedrückt waren, hatten sie einen weichen berückenden Ausdruck.

»So komm doch herein und setz' dich, Margarete«, sagte Großjohann, allmählich aufgeräumt. Margarete setzte sich.

»Ich komme vom Vater. Sie müssen Geduld mit uns haben, Herr Großjohann. Wir tun, was wir können. Hier sind zwanzig Mark . . .«

Der kleine Herkules kam herein. Er ging auf Margarete zu und gab ihr strahlend die Hand. »Ich habe von Karitas gehört, daß Sie gekommen sind, Fräulein Schröder,« sagte Herkules, »und da muß ich Ihnen guten Tag sagen.« – »Ich danke schön, Georg«, sagte das Mädchen.

»Du nennst ihn, wie die Mutter ihn nennt,« sagte Großjohann, »aber ich möchte ihn lieber Herkules nennen. Er hat in der Wiege eine große Tat vollbracht. Ein bißchen ungewöhnlich ist der Name, ich geb' es zu, aber soll man in dieser platten Welt das Ungewöhnliche scheuen?« – »Sehen Sie, Fräulein Schröder, was für Muskeln ich habe!« sagte 202 Herkules. Er streifte seine Ärmel hoch und ließ lachend die Muskeln spielen. – »Erstaunlich in der Tat, was ein zwölfjähriger Knabe stark sein kann!« sagte Margarete Schröder. – »Ja, es ist ungewöhnlich«, sagte Großjohann; »jetzt geh, Georg Herkules oder wie du heißen sollst.« Der Knabe schickte sich an zu gehen und öffnete die Türe, ging aber nicht hinaus, sondern schloß sie wieder und drückte sich in eine dunkle Ecke, von wo er mit großen Augen Margarete ansah. Die Großen glaubten, er sei hinausgegangen. »Zwanzig Mark«, sagte Margarete leise, »ist alles, was wir zunächst erübrigen können. Wenn es nicht Herr Großjohann wäre, so wagten wir nicht, mit zwanzig Mark anzufangen, die fünftausend zurückzuzahlen, die Herr Großjohann meinem Vater geliehen hat.« – »Ach, was macht ihr euch Sorge, Margarete!« sagte Großjohann, seine Hand väterlich auf die des großen Mädchens legend, »entschuldige, daß ich dich noch Margarete und du nenne. Du bist ja jetzt ein großes und schönes Fräulein geworden. Wie die Jahre gehen! Sieh mal, wie mein Haar dünn wird! Weißt du noch vor fünfzehn Jahren, was für wilde Locken ich da hatte, wenn ich zu euch kam? Du warst so ein Kind von sechs oder acht Jahren und liefst immer im roten Röckchen. Sieh, deshalb nenn' ich dich auch noch immer du. Also nimm das nicht übel und grüße den Vater und die Mutter und sage, ich würde euch demnächst mal wieder besuchen, gemütlich besuchen, weißt du, wie früher. Wann ist der Vater zuhause? Er hat wohl auch soviel zu tun wie ich, den ganzen Tag im Geschäft, auf den Bauten, durch die Straßen . . . auch jetzt bin ich eilig, entschuldige darum, Margarete,« 203 sagte er aufstehend, »wenn du noch etwas verweilen willst, so rufe ich meine Frau, ich muß gehen . . .«

»Hier die zwanzig Mark . . . ich will Sie nicht aufhalten«, sagte Margarete. – »Ach, die zwanzig Mark!« sagte Großjohann sich hin und her wendend. – »Ich seh' es wohl, es ist Ihnen zu wenig, Sie haben ja auch Grund, ärgerlich zu sein«, flüsterte Margarete, und die Tränen füllten mit glänzender Feuchte die weichen Augen. – »O nein, ich bin nicht ärgerlich, Kind,« sagte schnell Großjohann und ergriff ihre Hand, »deswegen meinte ich das nicht. Ich habe nur so wenig Zeit. Leb' wohl«, sagte er zur Tür gehend.

»Aber die zwanzig Mark!« rief Margarete mit Schluchzen in der Stimme. »Sie sind zu gut, mich zu beschämen, Herr Großjohann. Sehen Sie, ich schäme mich, wenn ich Ihnen die lächerliche Zahl nachrufen muß.« – »Ach ja, die zwanzig Mark!« sagte Großjohann an der Tür stehend und sich die Haare krauend, »was machen wir mit den zwanzig Mark? Gib sie meiner Frau! Nein, gib sie lieber nicht meiner Frau. Sieh, Kind,« sagte er frischweg, »behalte du sie doch. Es soll sein, als ob du sie zurückgegeben hättest. Kauf' dir was Nettes dafür. Einen Ring oder ein Buch oder was Mädchen sonst gern haben. Ich müßte dir ja eigentlich noch etwas dazu geben, wo ich dich doch als kleines Mädchen im roten Röckchen gekannt habe, doch das kann ich auch nicht. Aber zwanzig Mark, was machen die in diesem Haufen? Sieh, du würdest mich wirklich in Verlegenheit bringen, ich wüßte gar nicht, wohin ich sie täte. Ins Geschäftsbuch zu schreiben, dafür ist die Summe zu klein, entschuldige, wo all die großen Zahlen mit den 204 schrecklichen Nullen stehen. In die Tasche kann ich das schöne Goldstück doch auch unaufgeschrieben eigentlich nicht stecken, das wäre wider die Geschäftsregel, und meine Frau würde wieder von Liederlichkeit sprechen, meine Frau soll sie auch nicht haben,« sagte er schnell und streng, »kurz, behalte du sie.« Er ergriff die Tür. – »Nein, ich kann sie doch nicht behalten . . .« rief Margarete ihm nach und reichte mit schamhafter Gebärde das Goldstück hinter ihm her. – »Ich bin eilig«, rief Großjohann noch, und verschwand.

Margarete sah sich verlassen im Zimmer. Dann sank sie auf einen Stuhl nieder und weinte.

Da zog ihr jemand die Hände vom Gesicht. »Weinen Sie nicht, Fräulein Margarete«, sagte Herkules. Er schaute sie mit seinen strahlenden Augen so fest und glücklich an, daß Margarete sich plötzlich beruhigte. »Wo kommst du her, Kleiner?« frug sie.

»Ich? Ach ich! Ich falle von der Decke, ich steige aus dem Boden, ich bin ein Tausendkünstler, sagt der Lehrer, ein Hexenmeister, müssen Sie wissen. Aber weinen Sie nicht. Ich kann es nicht sehen, wenn große Mädchen weinen.« – »O du Schlingel!« sagte Margarete und mußte unter Tränen lachen. Dann schwiegen sie beide und sahen eine Weile das Goldstück an, das auf dem Tische glänzte.

»Ich bin ein Schlingel,« sagte Herkules, »das sagt der Lehrer auch. Ich bin der Jüngste in der Klasse, aber der Stärkste, und auf dem Schulplei in Gottesruh haben alle Jungens vor mir Angst. Ich sage das nur, weil ich solch ein Schlingel bin. Ich kann auch schon hundert Pfund stemmen. Das ist wirklich wahr!« Und er machte inmitten des Zimmers die 205 Stemmbewegung, die Knie gebeugt, die linke Hand in die Hüfte gesetzt, und da er kein Hundertpfundgewicht zurhand hatte, ergriff er mit der Rechten einen Stuhl und hob ihn bis zur Wagerechten auf. Jetzt lachte Margarete, und ihre Tränen waren versiegt.

»Schauen Sie da das Goldstück an,« sagte der Knabe, »es gehört Ihnen . . .« – »Nein, deinem Vater!« – »So? Desto besser! Der Vater läßt immer Goldstücke herumliegen. Er könnte uns zu Dieben machen, wenn wir keine Großjohänse wären.« So schwatzte der Knabe, und es gelang ihm, Margarete Schröder von Herzen heiter zu machen. Dabei spielte er mit dem Goldstück. Jetzt hatte er es in der Hand. Jetzt nicht, ohne daß Margarete hätte sehen können, wo es verblieb. Der Knabe machte dabei große schauspielerische Bewegungen, die ihm gut anstanden. Mit Kindervergnügen folgte die harmlose Margarete dem Goldstück, das bald da, bald dort auftauchte. Jetzt war es für sie nicht mehr das durch ihre und der Mutter Bemühungen aus dem dürftigen Haushalt herausgesparte Geld, sondern eine kleine behexte glänzende Scheibe.

»Wie machst du das nur, Georg Herkules?« frug Margarete gespannt und alles Leids vergessen. – »Übungssache,« sagte Herkules, »passen Sie auf!« Er nahm das Goldstück in die rechte Hand, legte es in die linke, spielte mit der rechten Hand ein wenig in der Fläche der Linken (wobei er aber das Goldstück unbemerkt mit den einwärts gekrümmten Fingern wieder faßte) – fort war das Geld! Margaretes Augen blitzten, sie lachte und sagte: »Ich habe nichts bemerkt. Da du kleiner Kerl aber wohl noch 206 nicht mit dem Teufel im Bunde bist, so . . .« – Herkules lachte, daß er sich krümmte und durchs Zimmer kreisend den Leib hielt. »Wer weiß,« rief er, »ob ich nicht schon mit dem Teufel im Bunde bin? Einem Großjohann ist alles zuzutrauen, sagte der Lehrer, der ein Benediktinerpater ist, als er gestern von mir verlangte, ich sollte ihm seinen Bleistift wiedergeben, den ich gemaust hätte, und ich dagegen behauptete, er habe den meinen in seiner Tasche.« – »Hast du das dem Lehrer gesagt, Herkules?« flüsterte Margarete erschrocken. – »Warum nicht?« sagte Herkules, »Lehrer ist Lehrer und Pater ist Pater, ich fürchte mich nicht. Ja, wenn unser Lehrer klug wäre! Aber er ist dumm, denn er hält uns allesamt nur für dumme Jungens. Da mußte ich, ich konnte nicht anders, ihm den Streich spielen.«

»Wie war das denn?« frug Margarete in höchster Neugier. – »Sehen Sie das Goldstück –« – »Ah, da ist es ja wieder!« rief Margarete, die etwas in Angst um das Goldstück war, obgleich es ihr nicht mehr gehörte. (Herkules hatte es nämlich mittlerweile aus seinem Rockärmel, in den er es mit einem Stoße seiner einwärts gekrümmten Finger hinaufgetrieben hatte, in die hohle linke Hand zurücklaufen lassen und es unbeobachtet auf den Tisch gelegt.) – »Ja, da ist es wieder, und nun sehen Sie zu! Also! Eins, zwei . . . – Ja, es ist noch immer da,« sagte Herkules, als Margaretes Augen unruhig zu werden anfingen und das Goldstück ihnen von Zeit zu Zeit verschwand, wie ein Gegenstand, besonders ein glänzender, tut, wenn man ihn zu fest ins Auge nimmt, »eins, zwei, drei!« schoß er plötzlich heraus – und verschwunden war wieder das Goldstück.

207 Wieder lachte Herkules, daß er sich krümmte, als er Margaretes verdutzte Augen sah. »Ach nein,« sagte er plötzlich ernst, »ich selbst darf nicht lachen, das Publikum muß lachen, Sie müssen lachen . . .« – »Ich fürchte mich . . .« sagte Margarete leise. – »Ach was, fürchten?« rief der Knabe unwillig, »wer wird sich denn fürchten, wo alles mit natürlichen Dingen zugeht? Es geht überhaupt alles in der Welt mit natürlichen Dingen zu, alles andere ist Unsinn.« Margarete dachte: »Ob der Kleine sich schon das dabei denkt, was man sich dabei denken kann . . .?« – ». . . also fort ist das Goldstück, Fräulein Margarete,« sagte jetzt der Knabe, »und Sie haben es in der Tasche.« (Sie hatte es aber noch nicht in der Tasche.) – »Ich? Nein! Nicht möglich!« rief Margarete aufspringend, »das gehört mir ja nicht!« Sie griff in die Tasche und fand das Goldstück auch nicht darin. »Nein, es ist nicht drin«, sagte sie beruhigt. – »Doch, es ist drin!« behauptete Herkules. – »Aber gewiß nicht! Da! Ich kehre die Tasche um!« – »Sie suchen nur schlecht. Ich wette, daß es drin ist. Lassen Sie mich fühlen.« Er führte die Hand in Margaretes Tasche (ließ dabei das Goldstück aus seinem Ärmel in die Tasche gleiten) und sagte: »Da ist das Goldstück. Sie haben schlecht gesucht.« Margarete fuhr in die Tasche, faßte entsetzt das Goldstück, dann warf sie es hinaus auf den Tisch und war dem Weinen nahe. Sie zog ihr Taschentuch und führte es an die Augen. »Gutes ehrliches Geld sollte man nicht so leichtfertig wie etwas Böses von sich werfen«, tadelte scheinbar der Knabe; »so, jetzt ist's genug,« fügte er hinzu, indem er mit der flachen Hand das Goldstück auf den Tisch schlug, als wollte er es in die 208 Platte des Großjohannschen Tisches hineinhauen, »jetzt will ich das Fräulein mit dem dummen Zeug nicht weiter aufhalten.«

Margarete nahm Abschied von dem Stücke Gold und war doch glücklich, daß es endlich bei Großjohanns zurückblieb – als sie aber in einer zugigen Straße nach dem Schnupftuch griff, fand sie das Goldstück darin.

Ach, die Tränen saßen ihr so locker! Die Bächlein in den schimmernden Augen begannen wieder zu fließen, und ein heißes Gefühl für die Großjohanns, den großen und den kleinen, quoll in ihr auf. »Ich will das Geld einem armen Manne geben«, dachte sie.

»Ich will es einem armen Arbeiter meines Vaters geben«, dachte sie.

Nach einer Weile dachte sie: »Wer von den Arbeitern meines Vaters ist so arm wie mein Vater, ihr Meister? Sie bekommen Samstags ihren Lohn, wissen genau, was ihnen zukommt und wissen, wovon die Woche leben. Wir wissen das nicht. Wenn kein Geld im Hause ist, sind wir bettelarm und können kaum zu essen kaufen, und wenn Geld da ist, weiß man nicht, wem es gehört, uns oder irgendeinem fremden Manne, und man wagt auch nichts zu kaufen. Ich will es meinem armen Vater geben.«

Nach einer Weile dachte sie wieder: »Er würde es niemals nehmen. Geh zurück, woher du gekommen bist! würde er sagen. Rühr' das Geld nicht an! würde er befehlen. Das Geld soll nicht einen Augenblick mehr unter meinem Dache bleiben! würde er rufen. Wo soll es hingehen, wenn man sich nicht mehr bemüht, seine Schulden zu bezahlen? Er würde das 209 Geld eher auf die Straße werfen als es behalten, der Vater! Ach, wie sind die Männer! Jetzt hindert sie ein Wort, jetzt hindert sie die Ehre, jetzt hindert sie: wo würde das hingehen! Was sind wir Frauen doch gescheiter! Wir machen uns nichts aus dieser Ehre. Ich will es behalten, es dem Vater nicht und niemandem sagen, es höchstens der Mutter sagen und einen Monat lang etwas mehr Fett an die Speisen tun.« 210

 


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