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Ist etwas geeigneter, einen unbewußten glimmenden Wunsch zu grellbewußtem Begehren aufflammen zu lassen, als der Befehl, ihn zu ersticken? Ruft nicht die grobe Gewalt der sittlichen Ordnung den Trotz dessen wach, der dem leichten Zwange der guten Sitte sich willig beugte? Ist nicht der Augenblick der Gefahr zu verlieren der günstigste, kräftig Besitz zu ergreifen? – Waren die Arme Gertruds nicht gerade jetzt mehr denn je der einzige Hafen, in den sich Gabriel retten konnte? Ja, war denn Gertrud auch wirklich seine Halbschwester –? Wer beweist das denn? Und wenn, war es denn so ganz unnatürlich, sie zu lieben? Hatte er sie nicht bis jetzt geliebt? Warum hatte die Natur denn bisheran nicht gesprochen, wenn sie so mächtig sein sollte? Mußte einen das nicht neugierig machen? Ja, ist nicht auch ein Verbrechen denkbar – aus Neugierde? Damit man erfahre, ob es wirklich eines sei –?
Franziska schwankte lange, durch wen sie die Botschaft an den Vater wollte gelangen lassen. Brigitten, einer Tochter, konnte sie es zwar leichter sagen, aber 169 die Tochter konnte es schwerer dem Vater sagen. Einem Sohne konnte sie es zwar schwerer sagen, aber dieser konnte es leichter dem Vater sagen. Daß diese Wahl das Schwerere für sie enthielt, war für sie ein Grund, sie für die richtige zu halten. Und im übrigen: Ein Sohn ist doch etwas ganz anderes als eine Tochter! Eine Tochter kann im Augenblick stärker sein, kann ihr Glück, ihr Leben für einen oder etwas hingeben, ein Sohn aber hat den weiteren Blick. Ein Sohn versteht so etwas viel einfacher zu behandeln. Ein Mann hat doch immer etwas Königliches, ein Mädchen hat immer etwas von einer Magd! So dachte Franziska.
»Wem von den Jungens soll ich es nun sagen?« dachte sie. »Soll ich es Gabriel sagen? Gabriel denkt am weitesten, aber er ist nicht fromm. Philipp ist fromm, aber – nein, er ist nicht der rechte. Fränzchen? Fränzchen ist fromm und ist dumm, er ist uns auch schon fast ein Fremder geworden, und ich weiß nicht, es kommt mir vor, als ob er nur ein halber Mann wäre. Obgleich ich mich vor einem halben Manne ja weniger zu schämen brauchte . . . ich weiß nicht, ich glaube, ich könnte es ihm doch nicht sagen. Ich glaube, ich würde mich vor einem Nichtwissenden mehr schämen als vor einem Wissenden. Die anderen sind noch zu klein, bleibt also doch nur Gabriel. Ja, Gabriel! Es ist auch wahr! Er ist der Beste dazu. Ich gehe zu Gabriel!« So dachte Franziska.
Als sie gedacht hatte: ich gehe zu Gabriel! stand sie auch sofort schon auf, Gabriel zu suchen.
Gabriel saß vor dem Klavier, das der Vater nun auch angeschafft hatte, als er sich über die 170 Einmischung des Herrn Merlin in seine Angelegenheiten geärgert hatte, aber er spielte nicht. Er konnte heute durchaus nicht spielen. Die Gedanken, die Gedanken dieser letzten Tage und Nächte! Er erstaunte, als die Mutter ihn besuchen kam, und fürchtete, sie könnte noch eine dieser schrecklichen Enthüllungen haben. Obgleich er es ja nicht verstanden hätte, wenn die Mutter mit spannenden und aufregenden Neuigkeiten sozusagen hausieren gegangen wäre. Aber er dachte im Augenblick doch: »Man kann bei einer Frau niemals sicher sagen, was sie tun wird. Und besonders in dem Alter, in dem die Mutter jetzt wohl sein wird.« Darum sah er die Mutter mißtrauisch am
»Gabriel,« sagte die Mutter, die Augen am Boden, »sage gelegentlich deinem Vater, daß er sich ein Schlafzimmer für sich macht. Ich will von jetzt an in Brigittas Zimmer schlafen.«
Gabriel sah mit tiefem Mitgefühl die Mutter an. »Ja, Mutter, das will ich tun. Gelegentlich, nicht wahr?« – »Ja, Gabriel.« – »Ja, Mutter.«
Als Franziska die Tür geschlossen hatte, wogte ihre Brust, und sie blieb stehen. »Wie leicht das doch ging!« dachte sie aufatmend; »ja, Gabriel! Er ist merkwürdig verständig!«
Jetzt spielte Gabriel, sehr breit und sehr laut, wie sie es an seinem Spielen nicht gewohnt war. Sie verstand zwar nichts von seinem Spielen. Was er sonst spielte, hörte sie anderswo niemals, aber sie hörte doch, daß Gabriel derb und mit grober Kraft spielte. »Er will mir über das Peinliche hinweghelfen, er will mir sagen, daß er schon vergessen hat. Es ist gut von ihm!« 171
Es war fast acht Tage her, seit Brigitta den jungen Leo bestimmt hatte, nichts Böses gegen ihren Vater zu unternehmen. Heute war zwar erst Mittwoch, aber sie hielt es nicht mehr aus, sie mußte zu Traudchen Merlin gehen.
»Fräulein Großjohann?« rief Traudchen, »heute? Ich freue mich, daß Sie heute schon kommen, aber ich hoffe, daß nichts geschehen ist, daß . . .« – »Ich mußte heute zu Ihnen kommen, Fräulein Merlin, ich muß Ihnen sagen, daß . . .« – »Ist Gabriel krank?« frug unwillkürlich Traudchen – es war die erste Erwähnung Gabriels unter den Mädchen – »er war gestern noch hier.« – »Ich bin krank.«
»Krank? Sie? Aber Sie sehen so gesund aus!« – »Eine solche Krankheit meine ich nicht. Sagen Sie mir, Fräulein Merlin . . .« Sie konnte nicht mehr sprechen. Sie weinte laut.
»Brigitta«, sagte Traudchen, Du, wollte sie sagen, Schwester, wollte sie sagen, aber sie getraute sich vor Brigitta nicht. Sollte sie von Gabriel sprechen? Sollte sie eingestehen, daß sie ihn liebe? »Fräulein Merlin,« sagte Brigitta, »ist es Sünde, wenn ein Mädchen . . . ? Wenn ein Mädchen . . . ?«
Traudchen wurde über und über rot. »Woher weiß sie das –?« dachte sie – »woher wissen Sie das?« rief sie aus; »ich liebe ihn! Es ist keine Sünde!«
Nun wurde Brigitta über und über rot. Darüber, daß ihr Bruder das Liebesglück eines Weibes, dieses Weibes da, genossen hatte. Dann sagte sie: »Das wollte ich nicht erfahren, sondern . . .«
172 »Sondern?« frug Traudchen, denn sie konnte doch nicht denken, daß Brigitta . . . – »Ich hab's getan!« rief Brigitta.
»Sie, Brigitta?« – »Ja, ich! Dem Vater zuliebe!«
»Dem Vater zuliebe –? Wie versteh' ich das? Hat« – unser, wollte sie sagen – »hat Ihr Vater sich . . .? Hat er« – auch, wollte sie sagen, doch sie unterdrückte es – »das auf dem Gewissen –?«
»Was denken Sie von meinem Vater!« rief Brigitta zornig. Entrüstet schwieg sie. – »Verzeihen Sie, Brigitta, reden Sie!« sagte Traudchen, »hören Sie nicht auf mich. Ich habe in den letzten Tagen soviel Schreckliches erlebt und soviel Unerhörtes gehört! Vergessen Sie mein törichtes Gerede.«
Nun erzählte Brigitta, was geschehen war. Sie hatte ja erwartet, daß Fräulein Merlin betroffen sein würde, aber so betroffen –? Gertrud saß mit verzerrtem Gesicht da.
»Es sind noch nicht acht Tage her,« erzählte Brigitta, »ich ging zum erstenmal am Freitag zu ihm, und schon dreimal habe ich zu ihm gehen müssen. Er ist rasend vor Leidenschaft. Er will mich heiraten. Aber ich will dieses Scheusal nicht heiraten! Ich will frei von ihm werden! Wenn ich ihn heirate, geschieht eines Tages ein Unglück, das weiß ich. Ich hatte gedacht, was ich einmal tat, würde genügen, der Vater wäre gerettet, und das Wie würde vergessen. So, Fräulein Merlin, jetzt stehen Sie auf und weisen mich aus Ihrem Hause hinaus. Aber ich hatte das Bedürfnis, einem zu beichten, Ihnen zu beichten, da ich an den Priester nicht glaube und schon im Voraus weiß, was er sagen wird. Jetzt nennen Sie mich –«
»Einen Engel nenne ich Sie!« rief Traudchen, fiel 173 vor Brigittens Stuhl nieder und schlang die Arme um ihren Leib, »Engel! Ich bete Sie an! Ich wäre dessen nicht fähig gewesen.«
»Ich danke Ihnen«. sagte Brigitta leise und erstrahlte. Aber entsetzt sprang Traudchen auf. »Wann war es? Sagten Sie nicht Freitag? Wann Freitag, morgens oder abends? Schnell!« – »Es war Freitag abend, zuhause glaubten sie mich die Nacht wie oft bei Endenichs.« – »Wirklich Freitag?« rief Traudchen; »wissen Sie das ganz genau? Erforschen Sie Ihr Gedächtnis!« – »Am Freitag abend um neun Uhr ging ich hin«, sagte Brigitta.
»O weh! O weh! O arme Brigitta. Ich sollte Sie im Wahn lassen und kann es nicht!« – »Was ist? Was ist los?« rief Brigitta aufspringend und faßte die Hände Traudchens mit dem eisernen Griffe von Männerhänden. »Reden Sie!« rief sie streng. – »Nein, ich kann's nicht, ich darf's nicht, verzeihen Sie, daß ich mich hinreißen ließ . . .« – »Reden Sie!« rief Brigitta mit lauter Stimme und warf die Freundin in den Sessel nieder, stemmte ihr die von ihren Fäusten gehaltenen Hände auf die Brust, daß Traudchen der Atem zu vergehen drohte, »reden Sie! Bei allem, was Ihnen heilig ist! Was wissen Sie?«
Traudchen, mit Brigitta ringend, sah ein, daß es unnütz sei, dieses wütende Weib durch eine Lüge beruhigen zu wollen. So sagte sie leise: »Das Opfer war überflüssig. Der junge Leo besaß die Papiere am Abend gar nicht mehr. Mein Vater hat sie ihm am Nachmittag abgekauft.«
Brigitta stieß einen gurgelnden Schrei aus. Er war wie der eines angeschossenen Tieres. Bald aber beruhigte sie sich, setzte ihren Hut auf und suchte ihre 174 Sachen zusammen. Traudchen fürchtete sich vor ihr, sie fürchtete sich, die Hände von den Augen zu nehmen. Jetzt fühlte sie, wie Brigitta ihre Hand ergriff, sie sah auf und sah Brigitta straßenfertig vor sich stehen. Sie war wunderschön. Ein leichtes Rot belebte ihr Gesicht, ihre Augen schienen noch klarer, die Nase und das Kinn noch fester gebildet zu sein.
Plötzlich fühlte sich Traudchen von den Armen der Freundin umschlungen – mein Gott, welchen Griff hatte das Mädchen! – fühlte einen Kuß auf ihre Lippen gedrückt und hörte Brigitta leise sagen: »Leb' wohl, Trude.«
So verabschiedete sich sonst wohl Gabriel von ihr. Brigitta hatte niemals Trude gesagt. Ehe Gertrud sich von ihrem Staunen erholt hatte, war Brigitta weggegangen. Gertrud hörte den festen Tritt im Hofe verhallen. Jetzt fiel das Tor ins Schloß.
Der junge Leo bewohnte nach dem Tode des starken Leo ein wunderbares altes Haus. Es war ein ehemaliges Ritterhaus und lag in den Templerbenden an den alten Stadtwällen. Noch stand ein Wappen im Giebel. Er hatte es mit dem vielen Gelde seines Vaters gekauft, der in einem häßlichen kalten Stadthause wohnen geblieben war. Das Templerlandhaus war einstöckig, weinrot, hatte weißgestrichene Türen und Vorhallen und lag in einem Park uralter Linden. Ein bürgerlicher Geschmack hatte spiegelnde Glaskugeln in die Blumenbeete der baumleeren nächsten Umgebung des Hauses gestellt. Der 175 Mond schien, und der junge Leo am Fenster seines ebenerdigen Schlafzimmers stehend überlegte eben, ob er die bäuerisch-barbarisch leuchtenden Spiegelkugeln nicht doch sollte entfernen lassen. Die Stille ging hörbar im Parke um. Auch im weitläufigen Hause war es still. Leo hatte ein Buch aus der Hand gelegt, in dem er noch ein wenig gelesen, ein Buch aus einer kleinen Lieblingsbücherei, die er auf einem Borde im Schlafzimmer immer zur Hand hatte. Da stand, was es an galantem Schrifttum auf der frohen genießenden Erde gab, von lüsternen Künstlerhänden mit Bildern geschmückt, welche einer schwachen Fantasie, die zu schnell zum Ziele kommt, auf reizende Umwege halfen. Die Bilder, klug ausgewählt und allmählich sich steigernd, dienten ihm dazu, die schlafende oder schüchterne Fantasie der Frauen zu entzünden. Auch Brigitten hatte er sie bei ihrem ersten Besuche vorgelegt – Brigitta! Aber sie war kalt geblieben. Sie schien sie nicht zu verstehen. Brigitta! Es tönte ihm im Ohre nach, was er eben in dem Buche gelesen hatte, das noch aufgeschlagen auf dem Tischchen lag: Deine Brüste sind wie junge Rehzwillinge, die unter Rosen weiden. Dein Leib ist wie ein Weizenhaufen, umsteckt mit Rosen. Brigitta! Brigitta!
Es war in der Nacht gegen Morgen. Er hatte auf dem Feste sehr gut gegessen und getrunken, und in seinem sandfarbenen Seidenhemde und in rosaseidenen Unterkleidern am offenen Fenster stehend strich er sich in unendlichem Behagen über den glatten Kopf und den dicken Hals bis auf den runden Leib hinab. Leicht stieß es ihm auf. Die Linden dufteten, und jetzt röhrte er wie ein brünstiger Hirsch in die laue 176 Nacht des dunklen Parks hinaus: »Brigitta! Brigitta! Jetzt sollte sie da sein! Warum kommt sie nicht? Sie hat doch die Schlüssel. Warum kommt meine Brigitta nicht, jetzt! Jetzt! –«
Da knackte hinter ihm ein Dielenbrett, er drehte sich um und sah Brigitta an der Zimmertür stehen. Leo stieß ein Freudengeheul aus und stürzte auf sie zu, er rief: »Engel! Weib! Hast du mein Glück, meine Seligkeit, meine Sehnsucht erraten –?«
Er fuhr zurück. Stand plötzlich steif da. Die Beine im Schreiten erstarrt. Den Mund halb geöffnet. Denn Brigitta hatte die rechte Hand aus der Tasche ihres engen Tuchkleides genommen, und in der Hand sah er etwas gleich einem Vögelchen, das den Kopf aus dem Kanal zwischen Daumen und Zeigefinger hervorstreckt – ein schwarzes Stahlröhrchen. »Schließ das Fenster«, sagte sie kurz.
Er vermochte nicht, sich zu rühren. Schweiß brach ihm aus und perlte an den Enden seiner dünnen Haare, Schweiß lief den fetten Nacken hinab. »Schließ das Fenster«, befahl sie wieder leise.
Jetzt bewegte er seine Glieder. Auch sein Geist erholte sich, und ihm kam der Gedanke: »– und springst dabei zum Fenster hinaus.« Aber sie sah den Gedanken auf seinem Gesichte und sagte kurz: »Geh rückwärts.« So schloß er denn rückwärts gehend und ohne sich zu wenden das Fenster. Dann stand er an die Fensterbank gelehnt wie ein zitternder Knabe.
Sie steckte das Eisen in die Tasche. Aber er dachte nur eins: »Sie tut's! Sie tut's! Sie droht nicht nur! Ich kenne sie! Sie tut, was sie droht!« Der Schweiß lief ihm in Bächen an den Gliedern hinab.
177 Sie sagte: »Wann hast du die Papiere meines Vaters verkauft? Am Freitag – aber zu welcher Stunde?«
Da fiel er auf die Knie und sagte, und rief, und jammerte: »Schone mich! Es war erbärmlich! Es war bübisch von mir! Aber du hattest mich berauscht mit deiner königlichen Gestalt, mit deinem ganzen jungfräulichen köstlichen Weibtum. So wie du war keine andere! Ich habe dich getäuscht, aber ich will dich auf den Händen tragen. Ich heirate dich, ich werde dich auf den Händen tragen, dich kleiden wie eine Fürstin, dich nicht anrühren, nicht kommen, bis du mich rufst. Ich werde dich mit vier und mit sechs Pferden fahren lassen, ich will dir dies Haus geben und selbst im Parkhäuschen wohnen. Ich werde dir Pferde halten und werde sie mit goldenen Hufen beschlagen lassen. Und deinen Vater will ich reich machen und ihm einen Dom zu bauen geben, deine Brüder mache ich zu Herren, und dich will ich zur ersten Frau dieser Stadt und dieses Landes machen. Oder ich will auch davongehen und büßen in welcher Gestalt du willst, ich will barfuß nach Rom wandern, denn ich bin ein Sünder und Verbrecher – nur schone mich! Nur töte mich nicht!«
»Wenn ich ein Verbrecher wäre, so würde ich es wenigstens mit Stolz sein!« sagte Brigitta mit zusammengebissenen Zähnen; »warum machst du dich gemein?«
»Was hilft es mir, stolz zu sein,« winselte Leo mit gefaltenen Händen und auf seinen Knien rutschend, »wenn du mich tötest?« – »Ich töte dich noch nicht«, sagte sie kalt; »hoffe nicht, daß du nur mit dem Tode davonkommst.« – »Das ist die Rettung!« dachte 178 Leo; »noch nicht, sagte sie, noch nicht – jetzt heißt's nur, koste es was es wolle, Zeit gewinnen.«
In Brigitta aber sprang schon das Feuer auf, ihre Nasenflügel zitterten. Leo sah es und rief voll Angst, und in der Angst voll Verschmitztheit: »Du hast recht, Brigitta, kühle deine Rache! Nimm dir Zeit! Martere mich langsam, langsam! Was hast du davon, mich schnell zu töten? Wenn ich an deiner Stelle wäre, ich würde einen solchen Leo, solch einen gemeinen Betrüger, solch einen niederträchtigen Hund kriechen und winseln lassen! Und ich würde diesen Menschen nicht einfach sterben lassen. Was ist sterben? O nein – ich würde ihn nicht einfach – zweifach, vielfach würde ich ihn sterben lassen! Ich würde ihn geistig töten, ihn moralisch töten und dann erst den erbärmlichen Rest hinrichten. Und vielleicht gar ließe ich ihn leben, denn wäre dem, der so vernichtet wäre, der Tod nicht eine Erlösung und das Leben eine Strafe? Ich würde . . . ich würde . . .« – er wußte nichts mehr. Schmerz und Angst erfüllten ihn und drohten ihm den Unterkiefer zu versteifen.
Brigitta aber lachte voll Hohn auf – (»Gut, daß sie lacht!« dachte Leo) – und frug: »Warum tust du das, Leo? Warum machst du dich vor mir zum Hanswurst?«
Sie ging tiefer ins Zimmer hinein. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen, und allmählich klarer sehend und zu Ruhe und Überlegung kommend glaubte er jetzt den Augenblick da, sich auf sie zu stürzen, ihr das schwarze Ding zu entwinden und dem Tode zu entgehen – da aber hatte sie sich schon umgedreht und sich hinter einigen eilig zusammengerafften Stühlen und Sesseln verbarrikadiert. »Bemühe dich nicht,« 179 sagte sie, jetzt tiefernst, »so klug wie du bin ich im Schlafe. Du hast mich klug gemacht. Ich war dumm und voll Vertrauen zu den Menschen, aber jetzt kenne ich sie durch dich und bin dir über Nacht in Menschenkenntnis zuvorgekommen. Wir sind zuhause weltfremd und blind, aber wenn wir sehen lernen, sehen wir durch Mauern. Darum täusche dich nicht!«
»Ich bin wahrhaftig kein Heiliger,« seufzte Leo auf seinen Knien, »aber ich bin doch nicht viel schlimmer als die anderen heutzutage. Ich bin ein Verbrecher, aber ich habe solche Angst zu sterben. Wenn du mich leben lassen könntest, damit ich mein Leben lang büße – was meinst du, Brigitta? Die Rache ist mein, spricht der Herr.« – »Nein, die Rache ist mein. Sie ist das Gegengewicht zur Tat und im tiefsten Grunde vernünftig. Ohne sie müßte ich wahnsinnig werden«, sagte Brigitta finster mehr zu sich als zu ihm; »ich weiß nicht, ob das bißchen Rache das Gleichgewicht in mir herstellt, damit ich selbst noch leben kann.«
»Zeit gewinnen! Zeit gewinnen!« sorgte sich Leo, »früh um sechs ist der Reitknecht mit den Pferden bestellt.« Und er fing an: »Ich will dir meine anderen Sünden beichten, Brigitta, es wird dich entspannen und zerstreuen. Du wirst sehen, daß du nicht allein Unrecht littest, und sollst überhaupt erfahren, daß es kein süßeres Leiden gibt als Unrecht leiden.« Und Leo erzählte. Er erzählte von Geschäftsleuten, denen er den Hals zugetan, von Frauen der Bauleute, die er sich durch das Geld folgsam gemacht hatte. Immer sonst hatte er das Los der Männer erleichtert, Zinsen gestundet oder gekündigte Hypotheken stehen lassen, gelogen hatte er jetzt zum erstenmale. Denn Brigitta sei die schönste von allen gewesen, und er habe kein 180 anderes Mittel gewußt, sich diese schönste zu eigen zu machen. Er pries Brigittens Schönheit mit den süßesten Worten eines Bräutigams und eines Dichters, er nannte sie Heilige! Gebenedeite! Reine Jungfrau! Elfenbeinerner Turm! Aber da ihm diese Dichterworte bald ausgingen, so griff er keck neben sich auf den Tisch, nahm das Buch und las laut: »Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her. Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist verrauscht und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, und die Turteltaube läßt sich hören in unserem Garten. Meine Taube in den Felsklüften, zeige mir deine Gestalt. Denn sieh, du bist schön, schön bist du, und kein Makel ist an dir . . .« – »Ja –?« unterbrach grimmig fragend Brigitta. – »Kein Makel ist an dir!« schwur Leo, die Hand hoch und feierlich erhebend, »deine Augen sind wie Taubenaugen, und dein wildes Haar ist wie eine Herde Ziegen am Berge Gilead. Dein Hals ist wie der elfenbeinerne Turm Davids, und deine zwei Brüste sind wie junge Rehzwillinge, die unter Rosen weiden . . .« Brigitta sah zornig auf, und Leo beschwichtigte sie schnell, indem er die Hände erhob und um lauter und schneller zu deklamieren aufstand. Er ärgerte sich über seine Langsamkeit im Denken und daß ihm solch eine gefährliche Wendung hatte entschlüpfen können. »Meine Schwester, du bist ein verschlossener Garten, ein bedeckter Brunnen, ein versiegelter Quell . . .«
»Ja, Leo,« unterbrach ihn Brigitta, »hättest du das früher bedacht, daß ich ein verschlossener Garten bin! Ein bedeckter Brunnen, ein versiegelter Quell . . .« – Leo unterbrach sie und las: »Stehe auf, Nordwind, und komme, Südwind, und wehe durch meinen 181 Garten, daß seine Düfte fließen . . .« – ». . . triefen, steht da, Leo, du liesest schlecht, ich kann das auswendig besser. Daß seine Düfte triefen! Du hättest der Sohn meines Vaters sein müssen, dann kenntest du die Bibel besser. Wenn wir Kinder Märchen zu lesen begehrten, dann erzählte uns Karitas diese alten Geschichten. Und wenn wir später Indianerbücher verlangten, dann gab der Vater uns das Buch da und sagte: Das ist besser als Indianerbücher; was wollt ihr mit dem Zeug? Also komm nicht einem Großjohann mit der Bibel.«
So geschlagen stand er nun schweigend da in seidenen Unterkleidern, die vom Schweiße wie eine Fischhaut kalt an seinen Beinen klebten. Ein Schweißbächlein floß ihm den Spannberg des nackten Fußes hinab und mündete in der weiten Bucht zwischen der großen und der nächsten Zehe.
Brigitta aber sprach in seltsamem Genusse hinhaltender Rache mit dunkler Stimme auswendig weiter: »Seht mich nicht an. Meiner Mutter Kinder zürnen mit mir. Sie haben mich zur Hüterin der Weinberge gesetzt, aber ich habe meinen eigenen Weinberg nicht gehütet . . . !« Als sie das sprach, wurde sie zornig, ihre Stimme zitterte, und es flimmerte in ihren Augen. Leo streckte beide Arme und die großen Hände weit aus wie ein Dirigent, wenn er das Orchester beruhigen will. Brigitta beruhigte sich auch, aber ihre Stimme schnitt plötzlich scharf: »Mein Freund ist wie ein Büschel Myrrhen, das zwischen meinen Brüsten . . .« Sie schloß wie vor Ekel die Augen und schien etwas von ihrer Brust reißen zu wollen. Leo hob sich auf die Zehen und dirigierte wieder piano und Ruhe. Wilder Hohn aber war auf 182 Brigittens Gesichte. »Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so ist mein Freund unter den Männern. Er erquickt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe . . . Leo, hörst du, denn . . . ich bin . . . krank . . .vor Liebe. Nicht wahr, so ist es, du wirst es doch wissen! Nicht wahr? Antworte!« schrie sie plötzlich wild. Ihre Hand zuckte nach der Tasche, aber noch einmal bezwang sie sich. Sie setzte sich. Sie wies ihn auf einen Stuhl hin, und er setzte sich gehorsam in einen Sessel unter dem Bücherborde nieder.
»Wir wollen ganz vernünftig miteinander reden,« sagte Brigitta, »es hilft ja auch nichts. Du mußt sterben, das siehst du nun auch wohl ein. Ich selbst kann ja nicht leben. Es handelt sich also nicht um den Tod, sondern um einen würdigen Tod. Wenn ich du wäre und du ich, so würde ich vorschlagen, mir das, was ich jetzt in der Tasche habe, auf den Tisch zu legen und hinauszugehen, und ehe du zu weit entfernt wärest, würdest du hören, daß alles in Ordnung sei. Wenn du also ritterlich bist, so nimm es mir ab. Doch ich glaube, ich darf es dir kaum zumuten.« Leo verneinte lebhaft mit dem Kopfe, indem er einen halben Blick zum Fenster hinauswarf, ob es noch nicht Tag würde. »Siehst du, das habe ich mir gedacht. Also –! Und das Sterben ist ja auch nicht schrecklich, Leo, nur das ehrlose Leben ist schrecklich.«
»Nein! Nein!« bestritt Leo, »das Sterben ist das einzig Schreckliche. Ich ziehe das ehrlose Leben dem ruhmvollsten Sterben vor. Siehst du, ich bin ja noch so jung, im besten Alter, bei voller Kraft, und ich habe so viel Geld, und alle Genüsse der Welt kann 183 ich haben. Vielleicht weiß ich auch etwas zu meiner Ehre zu sagen.« – »Also heraus damit!« sagte Brigitta mit der Miene, mit welcher der Richter dem armen Sünder noch ein letztes Wort vergönnt.
Doch Leo wußte nicht viel zu seiner Ehre zu sagen. Er hatte einmal einer alten Dame geholfen, in die Straßenbahn zu steigen. Er hatte einmal einen Knaben geohrfeigt, der einen Betrunkenen verspottete. Halt, da fällt ihm noch etwas ein! Eine gute Tat! Damals, als er seinen Vater schlug, mit der Faust in den Rücken, da schlug er mit der platten Faust, nicht mit dem herausgeklemmten Mittelfinger, es tat nicht so weh.
Da hörte er einen Hahn krähen. Jetzt wurde Leo zuversichtlich, und schließlich, als er gar nichts mehr wußte, um Zeit zu gewinnen, bat er, das Morgengebet sprechen zu dürfen, der Tag graue ja schon. Er kniete nieder, faltete die Hände wie ein Kind, und indem er mit dem einen Auge das Fenster betrachtete, das anfing, aus schwarz nach grau hin sich zu verändern, betete er das Morgengebet, wie er es vor vielen Jahren auf Mutters Schoße gebetet hatte.
Es war still in der Kammer, ein frühwacher Fink fing draußen zu schlagen an. Plötzlich, mit einem Ruck gleichsam, schien es Tag zu werden, und nun war Leo sicher, daß er am Leben bleiben werde.
Am gestrigen Morgen wurde in seinem Hause am Templergraben der Rentner Josef Maria Schmitz, 39 Jahre alt, erschossen aufgefunden. Des Mordes verdächtig (und in Kenntnis des Verdachtes flüchtig) 184 ist Brigitta Semiramis Großjohann, 22 Jahre alt, Tochter des hiesigen Großunternehmers Hermann Großjohann. Die Verdächtige bezeichnet sich selbst als die Täterin durch einen Zettel, der sich bei der Leiche fand, des Inhalts: »Diesen Mann tötete Brigitta Semiramis Großjohann aus gerechter Rache. Sucht mich nicht, ihr werdet mich nicht finden.« Der sonderbare Widerspruch zwischen Flucht und Selbstanklage läßt auch die Vermutung zu, daß die mutmaßliche Täterin in einem Zustande von Geistesgestörtheit gehandelt habe. Die mutmaßliche Täterin ist etwas über mittelgroß, hat sehr schöne Gesichtszüge, leicht gebogene Nase, vorspringendes Kinn, dunkle Augen und Haare, die in der Mitte gescheitelt sind. Sie wurde zuletzt in einem blauen Tuchkleide gesehen. Auf ihre Ergreifung wird eine Belohnung von 3000 Mark ausgesetzt.
Der Staatsanwalt. 185