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Hat es nicht eben klock vier geschlagen?« unterbrach der Holländer sein Gespräch in der Gruppe der Kalkbereiter. Er schaute einen Augenblick die Straße hinab.
»Daß der Obermeister sich heute verspätet!« rief aus der Gesellschaft der Maurer zornig der rote Donner-und-Doria – so nannten ihn seine Gesellen, »ob der glaubt, wir Arbeiter können warten? Donner und Doria!« – »Arbeiter in der Zahlstunde sind ungeduldig wie die Könige, wenn sie warten müssen«, sagte beschwichtigend Winterfeld. – »Ihr wollt wohl sagen: wie die Tiere, wenn sie ihr Fressen kriegen!« rief der Rote, »Donner und Doria!« – »Wenn es Euch treffen kann, soll's gelten«, sagte gelassen der Werkmeister. – »Roter, hör' zu, was da von deiner Frau erzählt wird!« rief dem Zornigen der dicke und gemütliche »Gelbe« zu. Und Donner-und-Doria tauchte wie ein böser Enterich in den breitauflachenden Haufen der Maurer.
»Jetzt könnte der Meister aber kommen,« sagte nach einigen Minuten der »Gelbe«, aus dem Haufen tretend, auf die Uhr schauend und die Straße 211 hinablugend, »ich fürchte, wir erreichen den Zug nicht. Zahlt gleich uns Landleute zuerst aus, Winterfeld, ja?«
Plötzlich sagte einer klar und kalt im Haufen: »Der Herr hat kein Geld.« Beim letzten Worte versetzte sich ihm die Stimme, so ungeheuerlich kam ihm selbst vor, was er sagte. Und so ungeheuerlich kam den anderen vor, was sie hörten, daß auch ihnen die Rede ausblieb. Aller Köpfe wandten sich dem Werkmeister zu.
Der Werkmeister in blauer Leinenjacke und samtener Hose, die hier und da von hart werdenden Kalkspritzern getroffen war, errötete bis unter das weiße Haar. Jetzt aber fuhr er in den Haufen hinein. »Welches Maul hat da gelästert?« – »Was regt Ihr Euch auf, Winterfeld,« sagte der Holländer, »Ihr seid ja auch ein Arbeiter, wenn Ihr nebenbei auch ein Baron seid, Ihr bekommt ja heute auch kein Geld.« – »Wer sagt, daß der Herr kein Geld hat?« rief der Freiherr, und das Blut trat in den feingezeichneten Adern seiner Stirn und Schläfen heraus, »wer sagt das? Darf sich der Herr nicht einmal eine halbe Stunde verspäten? Seid Ihr alle am Montag morgen oder wenn die Mittagsschicht beginnt, so pünktlich, wie ihr es vom Herrn verlangt? Wie oft drücke ich da ein Auge zu und laß euch eine volle Stunde auf den Werkzettel schreiben, wenn ihr eine halbe gearbeitet habt! Warte, Holländer, wenn nächste Woche wieder einmal dein Zug entgleist ist, du fliegst mit Kiste und Kelle vom Werkplatz, daß du dich über den alten Winterfeld wundern sollst! Daß euch der Hammer schlage! Ihr seid Bestien im Vergleich zum Herrn! In der vergangenen Woche 212 ist es mir mit euren ewigen Verspätungen und faulen Ausreden zuviel geworden. Ich sagte es dem Herrn. Und was sagte er? He, ihr Schweine? Sagte er: Jagt sie davon, Winterfeld, daß ihnen die Lappen fliegen? Sagte er das? Er sagte: Laßt sie nur, Winterfeld, drückt ein Auge zu. Es ist auch hart, jeden Morgen um sieben Uhr und bei jedem Wetter auf dem Gerüste stehen. Ich war freilich als Geselle einer von den Arbeitern, für die der Vorteil des Herrn der eigene war; aber wo findet man die noch? So sagte der Herr . . .«
Freiherr von Winterfeld mußte sich abwenden, denn seine Augen wurden ihm schwach, und er konnte den verblüfften Blick der Arbeiter nicht mehr aushalten. »Es ist auch wahr!« sagte gemütlich der »Gelbe«. Die Arbeiter kannten und ehrten das gute Herz des Werkmeisters, auch hatte sie die Rede getroffen, und sie traten wieder wartend beisammen, sich etwas Lustiges zu erzählen. Der »Gelbe« erzählte von Eulenspiegel, warum der immer traurig war, wenn er einen Berg hinaufgehen mußte. »Der Herr war auch eigentlich nie fröhlich,« sagte der gütige »Gelbe«, »ich bin nun schon Jahr und Tag bei ihm, er scheint auch wie Eulenspiegel traurig darüber zu sein, daß er die Höhe ersteigt, weil er weiß, daß er auf der andern Seite wieder hinab muß.«
Da erschien, es war schon fünf Uhr geworden, Franz Xaver Großjohann. »Die Auslöhnung kann sich heute etwas verzögern«, sprach er in die Ferne schauend. – »Das heißt, wir bekommen kein Geld!« brüllte Donner-und-Doria; »ha, Winterfeld!«
Die Ländlichen brachen eilig nach dem Bahnhof auf. »Ungezahlt!« rief einer. Und ein anderer: »Ich 213 leihe dem Herrn meine dreißig Mark.« Und noch einer: »Ich schieße ihm meinen Lohn für eine Woche vor. Mag er sich daran verschlucken!« Die Schar verschwand.
Auf jeder Haltestelle der Gebirgsbahn wie der Niederlandbahn war einer der Großjohannschen Arbeiter daheim. Überall wurde einer erwartet von Frau oder Kind, von Mädchen oder Mutter, und überall hieß es: »Großjohann ist heute den Lohn schuldig geblieben . . . Großjohann hat seine Arbeiter nicht gelöhnt . . . Ein jeder Arbeiter ist zwar seines Lohnes wert, aber nicht bei Großjohann . . . Großjohann hat seine Leute um Lohnstundung gebeten . . . hat gebeten, ihm für eine Woche vorzuschießen . . . Großjohann kann nicht mehr zahlen. Das schreit zum Himmel!«
Kaum waren die vom Werkplatz zum Bahnhof ziehenden Arbeiter um die nächste Straßenecke gebogen, als ein Bote Großjohanns mit dem Beutel Geld ankam. Die städtischen Arbeiter hatten gewartet, aber als ob sie nun ein größeres Recht an allen Gerätschaften des Herrn hätten, holten sie sich Stühle aus der Bauhütte. Franz Xaver war zu schwach, ihnen zu wehren, und Winterfeld war sofort mit dem Gelde den Ländlichen nachgelaufen. Aber er kam am Bahnhof an, als der Zug eben davonfuhr. Mit dem Zug flog die Kunde vom »Unglück«, vom »Zusammenbruch«, von der »Schande« Großjohanns durch das ganze Land.
Großjohann war gleich nach dem Mittagessen gegangen. Er hatte eine solche Abneigung empfunden, sich Geld aus dem Bauvorschuß zu holen, daß er sich nicht hatte entschließen können, früher zu gehen. Wie nun, wenn der Mann zufällig verreist war? Dann konnte Großjohann zum erstenmale seine Arbeiter nicht löhnen. Das hatte er schon am Mittwoch und Donnerstag erwogen, war aber seines Ekels nicht Herr geworden. Schon zu Anfang der Woche hatte Franziska gesagt: »Denkst du auch daran, Geld zu holen?« und: »Vergiß nicht, Geld zu holen!« Großjohann hatte zornig erwidern wollen: »So geh du!« oder: »Dann geh selbst in Dreiteufels Namen!« hatte aber seine Erregung gemeistert und überlegt: »Sie ist zu dumm dazu. Wer kennt diese großen Herren! Sie wird nichts anderes tun als unser einfaches Recht verlangen. Aber wird sie Erfolg haben? Wenn der Herr sie hinhält? Man kann soviel Unrecht tun, ohne das Recht zu beugen. Das Recht ist ein sehr grobes Gewebe, da schlüpft noch viel Unrecht hindurch. Ich geh selbst! Aber morgen! Heute ist ja erst Mittwoch. Der Graf wird doch sein Wort nicht brechen! Übrigens ist es verbrieft.« Und am Donnerstag dachte er: »Ich laß es bis morgen! Heute ist ja erst Donnerstag. Der Kerl wird doch nicht –!« Und am Freitag dachte er: »Ich laß es bis morgen! Heute ist ja erst Freitag. Ich mache den Menschen kalt, wenn er mich in Verlegenheit bringt! Ich geh morgen vormittag!« Aber Samstag vormittag dachte er: »Ich geh am Nachmittag!«
Und am Nachmittag ging er. Auf dem Wege bemühte er sich, an alles andere zu denken, nur nicht an den Zweck seines Ganges, denn er fürchtete, der Ekel werde ihn wider seinen Willen ablenken, ihn an den Fluß hinabführen und sich hineinstürzen lassen. Er dachte an die schönsten Eindrücke seines Lebens: wenn er unter den hohen Gewölben der Dome 215 gestanden und sich überlegt hatte, wie die alten Meister das wohl gemacht hatten. Nun langte er auf dem stillen lindenbestandenen Seilergraben an, wo sein Ziel, das blutrote Haus, lag. Im hohen Giebel hing ein riesiges Wappen von Tieren und Menschen. Es war schon drei Uhr.
Vor der Freitreppe hielt eine vornehme Kutsche. Darin lagen schwarze und graue Pelze so, daß man sah, wie eine menschliche Gestalt ihnen entschlüpft war. Der Kutscher saß unbeweglich auf dem Bocke, in der linken Hand hielt er die Zügel, mit der rechten, auf das Knie gestellt, die Peitsche. Die schwarzen glänzenden Pferde standen fest im Geschirr, jeden Augenblick zum Anziehen bereit. Hin und wieder scharrten sie mit den Zehen ihrer Hufeisen. »Es ist schon jemand da,« dachte Großjohann, »ich werde hier draußen warten.«
Das Mädchen sagte, sich erhebend: »Ich werde also wie besprochen dem Vater berichten, Herr Graf.«
Der Graf hatte ein großes Gesicht mit langer Nase und starken Augen. Seine weißen und vollen Haupthaare waren sorgfältig gescheitelt, gescheitelt war auch der silberne Schnurrbart und der graue Bart. Er trug einen schwarzen Rock über einer hechtgrauen Hose. Er zog die gepflegten und gelenkigen Hände geschmeidig eine durch die andere.
»Sagen Sie dem Herrn Vater, daß ich gern ihm zu Diensten bin, und wie es mir leid tut, daß Ihr Herr Vater krank ist. Es ist gewiß nichts Ernstliches. Doch selbst wenn es ernst wäre, so betrüblich es wäre, so hat es doch die gute Seite, daß es ein so schönes und geistvolles Fräulein, wie Fräulein Merlin es 216 ist, veranlaßt hat, mich altes Eisen zu besuchen. Ich empfehle mich Ihnen und dem Herrn Vater. Und eine Frage, die das Alter sich erlauben darf: Wann wird diese strahlende Jugend mit Jugend sich verbinden? Man hört dies und das in der Stadt, aber das ist gewiß nicht wahr! Nun, ich will nichts wissen, die Zeit der Geheimnisse ist die schönste des Lebens. Vielleicht, denn Fräulein Merlin ist klug, dient ein gewisses Gerücht dazu, ein ungewisses anderes vor den Augen der Welt zu verdecken, bis der große Tag kommt.« Unter diesen Worten geleitete der Graf die sich verhüllende Gertrud aus den hohen und dunkeln Zimmern über die Teppiche der Flurhalle zur Tür. Er wies den Diener hinweg, öffnete selbst den Flügel und küßte die Hand des Fräuleins.
»Er ist ein eklig liebenswürdiger Mensch, und wie gemein ist der Graf!« dachte Gertrud, als sie die Freitreppe hinabstieg. Während der Graf noch einen Augenblick in der Tür wartete, sah er seitwärts der Treppe Großjohann stehen. Er stellte sich aber, ihn nicht bemerkt zu haben und verschwand nach einer Verbeugung ins Leere hinein hinter der Tür.
Während er durch die hohe Halle in sein Zimmer zurückschritt, dachte er: »Sie ist jung, ist schön, ist reich, und was wichtiger als alles ist: sie ist ein Weib! Sie hat lange Haare, hat glatte Wangen, eine runde Brust . . . Mein Gott, sie ist ein Weib! Ein Weib! Was ist Adel, Reichtum, Ehre gegen dieses eine süße Geheimnis: in allen Kleidern und Pelzen ein nacktes Weib zu sein!«
Gertrud Merlin hüllte sich in ihre grauen und schwarzen Pelze, der Kutscher hielt die sprungbereiten Pferde fest im Zügel und den Kopf leicht nach links 217 gewandt, um das Nicken des Gnädigen Fräuleins zu sehen. Da hörte er eine fremde Stimme zum Fräulein sprechen, er wandte seinen Kopf wieder nach vorn und schloß Augen und Ohren, wie es sich für einen Herrschaftskutscher ziemt.
»Guten Tag, Fräulein Merlin«, sagte Großjohann, an den Wagen herantretend.
Gertrud hatte den Herrn, als sie die Treppe herabkam, wohl gesehen. »Das ist Gabriels Haltung!« hatte sie gedacht. Aber sie war so verwirrt gewesen, daß sie nicht aufzuschauen gewagt hatte, daß sie sich langsam in ihre Pelze hüllte, um dem, was kommen mußte, Zeit zu lassen zu kommen, denn sie war bereit, ja verlangend, daß es nun komme.
Sie hob die Augen zu dem Herrn auf. Sie zog langsam den langen Handschuh vom schmalen Arm und reichte dem Herrn die Hand. Eine Weile lagen die schönen Hände, die weiße schmächtige des Mädchens, die braune hagere starke des Mannes ineinander. Jetzt sagte sie: »Vater.«
Großjohann zog seine Hand zurück und senkte für einen Augenblick die Lider: »Ich wollte doch auch einmal ein Wort mit meiner Schwiegertochter reden. Wie sieht sie der Mutter ähnlich! Daran erkannte ich sie. Nun muß ich zu dem Manne da hineingehen. Leben Sie wohl.« Er lüftete den Hut, stieg die Freitreppe hinauf und zog kurz und hart an der Klingel. Die Glocke klang fern in der Halle des Hauses.
»Franz, fahr'!«
Die Pferde schnellten davon, Gertrud sank heftig in Polster und Pelze zurück, und auf Gummirädern entrollte unhörbar die Kutsche. Der Wagen war fort, 218 als der schwere Flügel der Tür des roten Hauses sich langsam öffnete.
Gertrud hatte die Augen geschlossen. »So sieht Gabriels Vater aus! So sieht mein Vater aus –? Denn Gabriels Vater ist meiner, ob er nun nicht mein leiblicher Vater ist und ich nie seine Schwiegertochter werde. Mein leiblicher Vater ist er nicht, denn er sagte zu mir Schwiegertochter, und ich fühle, daß er nicht lügt! Wie sprach er leise, damit Franz das Wort ›Schwiegertochter‹ nicht höre! Wie laut würde es der Graf gesagt haben, denn er würde sich selbst vor dem Kutscher gerühmt haben, daß ich seine Schwiegertochter wäre, wenn ich auch nur Gertrud Merlin heiße. Wie hat der Graf mich angesehen, als er mir die Hand küßte – pfui! Wie vornehm ist dagegen der Vater! Wir anderen sind alle gemein gemacht vom Glücke! Nur das Unglück ist wahrhaft vornehm.«
Großjohann mußte warten. Der Kammerdiener Hubert, der sonst gerne ein Gespräch mit den Wartenden begann, hielt sich stumm im Hintergrunde der Halle. Großjohann ging mit der Uhr in der Hand auf und ab und stampfte zornig den Teppich. »Mein Dasein kann an einer Minute hangen, und dieser Mensch läßt mich warten! Die Arbeiter warten auf mich, und ich warte auf ihn! Aber bekommen die Arbeiter diese Woche nicht ihren Lohn, so bekommen sie ihn in der nächsten nachgezahlt, wenn der Graf mir nicht heute, sondern erst nächste Woche das Geld gibt. Wer kann es ihm anders befehlen? Die Arbeiter können warten, der Graf hat keine Eile, aber der nicht warten kann, bin ich, der, auf den das Unglück 219 und die Schande fallen, bin ich!« Er rief den Diener, der aber antwortete nur mit einer Verbeugung: »Der Herr Graf darf nicht gestört werden.« Unversehens war auch der junge Graf in die Flurhalle gekommen und war gleich von Mitleid bewegt worden, als er die Unruhe des Wartenden sah; er hatte versprochen, sofort seinen Vater zu rufen. Großjohann sah wieder auf die Uhr – es war gerade vier – und er dachte: »Jetzt schauen die Arbeiter die Straße hinab.«
Der Sohn trat beim Vater ein. »Der Herr Großjohann hat Eile«, sagte er leise. – »Aber ich habe Zeit!« brüllte ihn der Vater an. Der Sohn zog sich erschrocken zurück und floh fast hinauf in seine Zimmer, ohne den Mut zu haben, den Bescheid dem Wartenden zu sagen.
Jetzt machte denn doch der Graf die Türe auf – es war 4¼ Uhr und derselbe Augenblick, als Freiherr von Winterfeld zur Verteidigung des Herrn unter die Arbeiter fuhr – sah Großjohann an und sagte in der Tür stehend: »Pünktlich wie die Sterne.«
Großjohann beherrschte männlich seinen Zorn und sagte nach einer kurzen Pause: »Guten Tag, Herr Graf«
Der Graf stutzte, jetzt aber sagte er, wie es sich gehörte: »Guten Tag, Herr Großjohann.« Doch gleich brüllte er: »Was wollen Sie?« Großjohann antwortete nicht sofort. Dann sagte er: »Zunächst einen Stuhl, Herr Graf.« Das brachte den Grafen aus der Fassung, er sagte nichts, winkte den Besucher sich nach ins Zimmer und deutete dort auf einen Stuhl. Großjohann setzte sich und schwieg. Der Graf fühlte sich durch dieses Schweigen gezwungen, sich auch zu 220 setzen; jetzt lächelte er und sagte: »Nun – ? Sie scheinen sehr viel Zeit zu haben.«
»Ich habe im Gegenteil sehr wenig Zeit, Herr Graf, so wenig, daß an einer Minute mein guter Ruf hangen kann, aber doch zuviel, um nicht zu wissen, was ich mir schuldig bin.« – »So reden Sie, in Sakramentes Namen!« rief böse der Graf, zornig, vor diesem Menschen nicht einmal in seinem eigenen Hause den Ton der Unterhaltung bestimmen zu können. »Reden Sie,« rief er aufspringend, »was wollen Sie?«
»Geld!«
Der Graf starrte einen Augenblick stumm den Sprecher an und sagte: »So hat mich noch niemand um Geld gebeten!« – »Ich bitte nicht um Geld!« sagte Großjohann. – »Das ist . . . das heißt ja: Sie fordern es?« – »Ja!«
Der Graf wehrte sich einen Augenblick stumm mit Händen und Füßen gegen sein Staunen über diesen Menschen. Dann faßte er sich und sagte kalt: »Ich setze den Fall, Sie haben ein Recht zu fordern, glauben Sie denn, daß es klug ist, dieses Recht vor sich auszuhängen wie eine Fahne?« – »Es ist unklug!«
»Aha!« rief triumphierend der Graf. – »Ein Tapferer schlägt nicht in eine Wunde, die der Gegner sich selbst beibringt«, sagte darauf Großjohann. Nun schämte sich der Graf, wurde rot, stand auf und trat in den Schatten des Fenstervorhanges. Er betrachtete mit einem aus Haß, Furcht und Ehrfurcht gemischten Gefühle den Mann, der im vollen Taglicht des Fensters ruhig dasaß und viel Zeit zu haben schien. Nur die Nasenflügel Großjohanns zitterten.
»Es war unklug,« sagte Großjohann, »wie es 221 immer unklug ist, den Mächtigen herauszufordern. Aber es blieb mir keine andere Wahl, in Ehren zu bestehen.« Der Graf erwiderte nichts, er ergab sich und sagte in verändertem, sozusagen unpersönlichem Ton, indem er sich an seinen Schreibtisch setzte: »Zum Geschäft!«
»Der erste Stock der neuen Häuser am Spanischen Platz ist fertig. Ich bitte um die Auszahlung der ersten Teilsumme des Bauvorschusses.« Der Graf aber sagte geschäftsmäßig: »Ich brauche Ihnen das nicht zu glauben.«
»Doch! Vor acht Tagen habe ich Sie durch einen eingeschriebenen Brief ersucht, sich gegen das Ende der Woche die Arbeiten anzusehen, weil ich den ersten Stock in allen sechs Neubauten vollendet haben werde.«
»Gut,« sagte der Graf, »aber ich brauche Ihnen jetzt das Geld nicht auszuzahlen, da der Samstag Nachmittag nach der Übung unseres Landes schon als Feiertag gilt. Sie können also Montag den Betrag abheben.« Er stand auf, griff nach der Klingel auf dem Schreibtisch, um dem Diener zu läuten.
Großjohann war auch aufgestanden. Er legte seine Hand auf die des Grafen, die auf dem Klingelknopfe ruhte, und der Graf fühlte die Hand so schwer lasten wie ein Gewicht und fühlte zugleich ein Zittern in ihr, daß er nicht vermochte, den knöchernen Knopf niederzudrücken. So standen die Männer stumm voreinander, bis Großjohann sagte: »Unsere Zusammenkunft stand unter einem unglücklichen Stern. Ziehen wir nicht am gleichen Strang? Wir sollten uns doch nicht wie Weiber steuerlos von Launen treiben lassen. Ich verstehe Sie nämlich nicht«, fuhr er leise fort. 222 »Warum wollen Sie die Hand binden, die Ihnen dient? Denn ein Graf muß es sich schon gefallen lassen, daß andere Leute für ihn arbeiten.« Der Graf ließ den Knopf fahren, sah auf den Tisch nieder und kaute an seiner Unterlippe wie ein trotziger Knabe.
»Meine Arbeiter warten auf die Löhnung,« fuhr Großjohann fort, »eine Viertelstunde Verspätung kann mich um meinen Ruf bringen. Denn niemand ist so streng mit dem Rufe des Meisters wie der Arbeiter. Vielleicht ist es jetzt schon um den Ruf getan! Und da wir miteinander arbeiten – oder doch ich für Sie –, so ist es auch Ihr Schaden. Denn wenn ich die Arbeit einstelle, fällt Ihnen der Grund wieder zu. Und der Grund mit den Ruinen von Bauten ist weniger wert als früher der Acker mit den Kohlköpfen, weil jeder sagen wird: da stimmt etwas nicht. Sie müßten sich denn entschließen wollen, selbst die unvollendete Arbeit in die Hand zu nehmen. Aber das paßt sich wohl nicht für einen Grafen.«
Der Graf schwieg. Er trommelte nur mit den harten Fingern auf der Tischplatte.
»Wenn Sie der Herr Merlin wären« – der Graf sah bei diesem Namen schnell auf, aber Großjohann beachtete es nicht, sondern sagte: »– so könnte ich Sie verstehen. Dem Herrn Merlin, das weiß ich, bin ich zuwider, lediglich weil ich arbeite. Er hält mich für einen Streber. Aber Sie, der Sie ebensowenig wie er zu arbeiten brauchen, arbeiten doch auch! Planen doch auch! Beteiligen sich doch an der Vergrößerung der Stadt! Warum weiß ich nicht, vielleicht nur, weil es Ihnen Vergnügen macht, dabei zu sein. Denn ich nehme vom Menschen von vornherein das Beste an. Wenngleich ich – das muß ich ja wohl sagen – 223 heute weiß, daß Sie es waren, der damals den Namen Großjohannstraße durchdrückte, und daß Sie es taten, nicht um mich zu ehren, sondern um sich zu bereichern. Sie glaubten in mir den richtigen Mann zu sehen, Ihre halb versumpften sauern Wiesen am Flusse, in die ich heute ein Haus nur als Grundmauern stecke, ehe ich anfange zu bauen, zu Baugelände zu machen. Sie gewannen mich ja auch dafür. Ich unternahm es, die Stadt in jene Gegend hinauszuziehen – ich weiß nicht, ob die Bevölkerung mir folgt –, die Stadt sozusagen zu verlegen, sozusagen vor ihren Toren eine andere zu gründen. Mich nennt man schon mit Spott den Städtegründer. Wir müssen beide hoffen, daß die Gunst der Zeit uns treu bleibt, daß die Stadt sich nicht etwa nach den Bergen auszudehnen beginnt statt nach dem Flusse. Das alles sehe ich und weiß ich – und verstehe Sie darum erst recht nicht. Sie müssen schon einen recht triftigen und mächtigen Grund haben, mir und sich selbst im Wege stehen zu wollen – ich ahne ihn nicht.« Der Graf schwieg und rieb die krachenden Zähne aneinander.
»Hier ist das Geld«, sagte plötzlich der Graf; »gehen Sie. Bescheinigen können Sie es mir morgen oder übermorgen. Sie haben mir heute zuviel gesagt. Gehen Sie!«
Als Großjohann fort war, dachte der Graf: »Er hat sich würdiger gehalten als ich.«
Großjohann flog mit der ersten Droschke nachhause. »So unklug wie ich würde auch Franziska gewesen sein«, dachte er. Zuhause jagte er einen Boten mit dem Gelde auf den Bauplatz, aber der kam für die ländlichen Arbeiter einige Minuten zu spät. 224