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Alt und grau, noch rüstig, aber von Ruhm und Ehren gesättigt, kehrte er zurück zu den heimatlichen Gestaden, um die Stätten wiederzusehen, auf denen er in jugendlichem Übermut herumgetollt war.
Er trieb sich in der Stadt umher, durch die Straßen, über den Markt, in den Kirchen, auf den Friedhöfen, versäumte nicht, den Ratskeller auf seine verborgenen Schätze anzusprechen, und landete schließlich auf dem Wall, von wo aus er über den Hafen auf den Breitling hinausblicken konnte, der im Sonnenschein glitzerte und blinkte. Lange stand er da, in wehmütige Gedanken versunken.
Das Wiedersehen mit der Heimat war so ganz anders, als er es sich während seines langen Lebens vorgestellt hatte.
Damals eine Welt, die für das Aufjauchzen der ersten Lebenslust kaum Raum genug hatte, die zu eng, zu drückend war – eine Fessel, die gesprengt werden mußte –, ein Kerker, aus dem es galt möglichst schnell zu entrinnen. Und jetzt leer, tot und verlassen von allem, was sich damals in ihr drängte –, fremd und doch so vertraut zum Herzen sprechend wie ein altes, lange nicht gehörtes Lied, das auf einmal plötzlich wieder an unsere Ohren dringt.
Vanitas! Vanitatum vanitas!
Man kämpft und strebt, ringt um Erfolg und Ehren, kommt weit herum, sieht fremde Gesichter, knüpft neue Freundschaften an, bekommt Familie, schlägt irgendwo, wo's der Zufall will, Wurzel, wird in neuer Erde bodenständig, glaubt sich dort beheimatet und bleibt ihr im Innersten doch ein Fremder.
Die Wurzeln, die einen noch an die Heimaterde binden, verkümmern oft, zerreißen aber nie. Die Träume und Erinnerungen lassen Vergangenes wieder lebendig erstehen. Man wandelt in ihnen noch auf den Gefilden der längst verflossenen Kindheit, balgt sich mit den alten Gespielen herum, erlebt die ersten Hoffnungen, die ersten Enttäuschungen wieder, und bei jedem weiteren Schritt im Leben kehren die Gedanken wieder zu ihnen zurück. Und über allem anderen, über Siegesrausch und Triumph, leuchtet dann die Frage: »Was werden die alten Gespielen, die Freunde, die Verwandten dazu sagen! Sie werden sich wundern, wie weit ichs im Leben gebracht habe! Ich, von dem sie so wenig hielten und dessen Flucht ins große Leben hinaus nur ihr mitleidiges Mißtrauen in den Erfolg begleitete!«
Endlich hat man den Erfolg errungen. Man hat festen Boden unter die Füße bekommen. Und doch kommt keine rechte Siegesfreude auf, ehe nicht die engere Heimat ihren Segen zum Gelingen gegeben hat.
Man brennt darauf, diesen Triumph zu feiern, kehrt wieder heim, sucht alte Stätten, Wege, Gefilde auf, läßt die Blicke nach gewohnten Zielen schweifen und wird gleich enttäuscht.
Warum kommt nicht dort um die Ecke Freund Fritz gelaufen, munter, lustig und zu jedem Streich bereit?
Wo bleibt heute Nachbars Lene, die sonst immer durchs Gartentor huschte, sogleich bereit, den Zoll der Freundschaft von ihres Vaters Apfelbäumen zu entrichten?
Und der Herr Pastor, der würdig dort die Straße herunterschreitet, das Meßbuch in den fromm gefalteten Händen, die Blicke gesenkt, der Küster mit dem Kruzifix im gleichen Trott hinterher, wie hat er sich verjüngt! Damals Schnee in den reichen Locken, jetzt blondester Flachs!
Dort sperrt ein fremdes Haus den gewohnten Blick über den Fluß, und endlose Speicherbauten machen sich rücksichtslos auf dem Gelände breit, wo die gewaltigsten Ereignisse der frohen Kindheit sich abspielten. In den Grünspan der Kirche sind frische Flicken von blankem Kupfer getrieben – das Glockenspiel von damals knarrte und schnarrte ganz anders, ehe es zum Herunterbimmeln des altgewohnten Chorals mit hinkendem, aber würdevollem Pathos ausholte –, auch der Straße am Elternhause gab die neue Zeit neues Pflaster!
Und dann die zahllosen neuen Gräber auf dem Kirchhof, die die altvertrauten schier verdrängen wollen!
Liegen wohl da alle die, deren freundliches Staunen ob spät, aber doch endlich gewonnener Anerkennung man herauszufordern kam?
Ja –, wozu war denn schließlich alles da?
Wozu der Kampf und Sieg, wenn eben die, die die schönsten Kränze aufrichtiger, selbstloser Freude winden würden, längst die Eitelkeit alles Erdenstrebens mit etwas Besserem vertauschten? Wären sie wenigstens in der Erinnerung geblieben, wie sie waren – jung, lebenslustig, übermütig, unbesiegbar. In der Erinnerung der Kindheit lebte bis jetzt noch alles, was seither im Aufblühen die Seele erfüllte! Und jetzt, nach dem Wiedersehen, verblaßten auch dort die Bilder und schwanden für immer. Die neue Wirklichkeit löschte ihre glühenden Farben aus – eintönige, gleichgültige Leere umfing die Sinne – das treu im Herzen gehütete Heiligtum sank hin, und Bitterkeit, Enttäuschung und unendliche Wehmut lagern über dem Trümmerfeld teurer Erinnerungen.
Darüber dämmerte aber wie ein Hauch der Ewigkeit die Antwort, die die Heimat dann dem spät Wiederkehrenden gab: »Was du suchtest, fandest du: Ehren, Ruhm, Reichtum – für dich, aber nicht für mich! Hofftest du auch von mir Kränze, und spornte dich das zu immer neuem Ringen an – jetzt bist du ja am Ziel – jetzt brauchst du meine Kränze nicht mehr! Jetzt blüht dir nur noch die Erkenntnis, die ich dir als letzte Lehre auf deinem letzten Wege mitgebe: » Aus dir selbst bist du nichts! Was du geleistet hast, wurde dir vom Geber aller Gaben geschenkt! Sei dankbar, demütige dich! Was suchst du noch im Staube nach Ehren! Das Loch in der Erde ist dir sicher, mehr kommt dir nicht zu!«
Das ist hart.
Das bange Vorgefühl dieser Härte war's wohl auch, das ihn immer wieder davon abgehalten hatte, den Weg zurück zu beschreiten, um nicht eher jene Illusion zu verlieren, die ihm sooft sieghaft über alle Enttäuschungen des Lebens hinweghalf, bis sie nicht mehr gebraucht wurde. – –
Lange stand er noch, die Augen auf die glitzernde Wasserfläche gerichtet, mit den Gedanken spielend, die über ihn gekommen waren – am Grab der Eltern – unter den Bäumen im Garten, wo er sooft als Junge geklettert war – dort unten am Ufer, wo er sich mit all den anderen Rostocker Rüpeln nach Herzenslust gebalgt hatte – mit Hans Jörg und Jochen und Christian Faber, und wie sie alle hießen!
Am Ufer der Warnow war ihr Schlachtfeld gewesen. Die merkwürdigsten Manöver hatten sie dort unten ausgeführt, unsterbliche Heldentaten verrichtet, Siege erfochten, gegen die Hamilkars und Hannibals das reine Nichts waren – sie hatten in Blut gewatet, hatten die Leichen haufenweise übereinandergetürmt! Und nach beendigter Schlacht waren die Gefallenen ohne Ausnahme wieder lebendig geworden und zogen am nächsten schulfreien Nachmittag wieder seelenfroh in den Kampf.
Und der Festungskrieg, der sich dort zwischen den Bretterstapeln abgespielt hatte, der spottete jedes Vergleichs!
Viele brave und werte Genossen waren ihm in den späteren Kämpfen seines Lebens nahegekommen, aber keiner näher als die Gespielen, die ihm halfen, die ganzen ungeheuren Erlebnisse der Kinderphantasie zu gestalten.
Wo die wohl alle geblieben waren?
Ob sie noch lebten – wie sie wohl aussahen, und ob sie sich nicht jetzt dazu bequemen würden, ihn als den Stärkeren anzuerkennen?
Es waren obstinate Racker gewesen, steifnackige Krabaten, ganz wie er selbst. In den Jugendkämpfen mit ihnen, da hatte er wohl eben das feste Zupacken geübt – da hatte sich am Ende der Keim zu den späteren Siegen zuerst entfaltet?
Daher kam es wohl, daß er sooft im wilden Getümmel großer Geschehnisse plötzlich innehielt und sich beim ernsten Nachdenken über die hochwichtige Frage ertappte: was wohl Hans Jörg zu diesem oder jenem gesagt hätte, wäre er jetzt dabeigewesen, und was für ein Gesicht der alte Knabe wohl machen würde, wenn er in der Avis die große Begebenheit fett gedruckt aufgetischt bekäme?
Aber der Hans Jörg war wohl auch so'n dicker, aufgeblasener Spießer geworden und hatte wohl über der Sorge seines Bauches längst alles andere vergessen!
Noch eine Weile blieb Blücher oben. Er konnte sich nicht vom Blick übers Wasser trennen. Es war wohl ein allerletzter Abschied, den er jetzt nahm.
Endlich wandte er sich zum Gehen.
Da kam dort um die Ecke, gerade auf ihn zu, ein altes Männlein, hüstelnd und sich räuspernd, blieb vor ihm stehen, zog ehrerbietigst die Mütze, blickte aus alten, müden, halberloschenen Äuglein neugierig zu ihm auf, verzog sein gefurchtes, braunledernes Gesicht zu einem breiten, vergnüglichen, aber zugleich verlegenen Lächeln, indes die Zunge hinter den zahnlosen Lippen mühselig nach Worten suchte.
Endlich brachte er die Frage heraus, lange und wollüstig an jeder Silbe lutschend:
»Verzeihen,« sagte er, »wollen Ihro Hochgeboren nicht übel aufnehmen, wenn ich wage, gehorsamst eine Frage zu stellen – aber Sie sind ja woll der Durchlauchtigste Feldmarschall Fürst Blücher selbst in persona?«
»Der bin ich!«
»Dachte ich mir auch gleich! Meine Alte las mir nämlich heute früh vom hohen Besuch unserer Stadt aus der Avis vor. Und da dachte ich gleich – da mußt du aber 'raus und nachschauen, ob du ihn nicht auch erwischen kannst. Na, da hätte ich ja Glück gehabt! Nee –«, sagte er dann und besah ihn sich gründlich von allen Seiten, »was für'n hoher und durchlauchtiger Herr aus so'n ollen Rostocker Jungen wern kann! Das ist ja woll ganz und gar nicht mehr möglich! An so'n Mirakel hätte wohl keiner von uns damals geglaubt, als wir uns da unten mang die Bretter 'rumtollten. Aber das sind ja olle Kamellen! An die denkt so'n hoher Herr ja woll nicht mehr!«
»Was?« rief Blücher, und starrte den Alten mit unverhohlener Neugier an. »Wer ist denn – – ja, ist das nur möglich –? Das ist ja woll –«
»Jaha,« meckerte der Alte und nickte vergnügt, »der Hans Jörg, der bin ich immer noch –«
»Ja, wahrhaftig! Alter Freund! Das war aber eine rechte Freude! Na, da muß ich aber wirklich sagen! Eben stand ich hier und dachte an die alten Zeiten zurück und wunderte mich, wo ihr wohl alle seid, und was aus euch geworden sein könnte! – Wo sind denn all die anderen, der Krischan Faber und Jochen?«
»Die sind all tot! Den Krischan, den haben die Franzosen totgeschossen.«
»Na, das hätte er denn mit vielen braven Leuten gemeinsam gehabt. Ich war auch oft nahe dran.«
»Na, da hat der Himmel zu unserem Glück Eure Durchlaucht davor bewahrt!«
»Was?! Wie hast du mich genannt? Willst du wohl?!«
»Durchlaucht, sagte ich –«
»Nenne ich dich Durchlaucht? Wie?!«
»Nee, aber ich kann mir doch nicht erlauben –«
»Wenn du der Hans Jörg bist und du erlaubst dir, mich anders als früher zu nennen – nun dann bist du eben nicht der rechte Hans Jörg. Dann fordre ich dich vor die Pistole!«
»Das wäre ja nicht der erste Zweikampf, den wir miteinander ausgefochten haben!« lachte der Alte. »Erinnerst du dich noch, Gebhard, als wir um die Wette nach der Boje da draußen hinausschwammen – ja, die schwimmt da noch – und ich kam zuerst heran.«
»I wo!«
»Jawoll, das tat ich. Und das paßte dir nun nicht. Da bist du untergetaucht und hast mich am Bein gepackt und zurückgezogen, und ich drehte mich dann um und versetzte dir eine –«
»Zwei hast du dafür gekriegt.«
»Jawoll – zwei – eine Balgerei ging da los, und ich habe dich noch orntlich gedoppt –«
»Das erinnerst du falsch! So war's nicht – sicher nicht.«
»Ob's so war? Dadrauf kannst du Gift nehmen, im Schwimmen, da war ich dir über – da frag' nur all die anderen, die werden's bezeugen! Und zuerst kam ich doch an die Boje ran – und zuerst war ich am Land –«
»Na – schneid nur nicht auf! – Ich werd' mir wohl denn schon nichts daraus gemacht haben! Aber, das weiß ich noch bestimmt, im Schwimmen stellte ich meinen Mann, und mach's heute noch!«
»Na – damals bist du aber unterlegen, Gebhard, und das stimmt. Und dann – erinnerst du noch, als wir die große Schlacht auf dem Teutoburger Wald schlugen und du der Hermann warst und ich der Varus? Weißt du noch, wie wir dir alle deine Leute totschlugen und dich dann mit Stricken banden?« –
»Das lügst du!«
»Wahrhaftigen Gottes, das lüge ich nicht. Du siegtest sonst immer, und niederträchtig hast du uns dann immer behandelt! Und da haben wir uns schließlich verschworen und deine Germanen mit Zuckerzeug bestochen – meine ganze Sparbüchse ging drauf! Sie waren aber gern damit einverstanden, ihrem Arminius einen Schabernack zu spielen. Das nächste Mal, als der Kampf losging, da starben sie denn auch richtig wie die Fliegen von dem Zuckerzeug, kaum daß wir sie angesehen hatten! Und da dauerte es nicht lange – da hatten wir auch den Arminius bei den Hammelbeinen und schnürten sie ihm feste zusammen, daran erinnere ich mich noch, als wäre es gestern!«
»Das erinnerst du falsch, Hans Jörg, und das steck' dir hintern Spiegel!«
»Nun, das werde ich wohl wissen, wo ich dich selbst gebunden habe!«
»Das lügst du!«
»Mit 'nem richtigen Schiemannsknoten knüpfte ich dir deine Apostelpferde zusammen. Ich hatte meiner Mutter ihre Wäscheleine zu dem Zweck gestibitzt. Ich fühle ja noch die Wichse, die sie mir dafür gab. Und das sollte ich mir nicht richtig erinnern?!«
»Nee – das ist nun und nimmermehr wahr!«
»Daß wir dich banden? Nun, so wahr, wie daß ich hier vor dir stehe!«
»Und wenn du doppelt und zehnfach vor mir ständest, so lügst du doch und lügst doppelt!
»Ich werde mich wohl von dir einen Lügner schelten lassen!«
»Nun, wenn du einer bist!«
»Selbst bist du einer!«
»Was wagst du!«
»Nun, das fehlte auch noch, daß ich das nicht wagen sollte! Es kann noch besser kommen! Nimm dich nur in acht! Das wäre nicht das erstemal, daß ich dich auf den Rücken lege!«
»Nun schweig aber!«
»Schweig selbst!«
»Wenn du jetzt nicht bald still bist –!«
»Denkst wohl, ich fürchte mich vor dir!«
Hochrot im Gesicht standen die beiden Greise mit erhobenen Händen und zornig funkelnden Augen voreinander.
Da besannen sie sich wieder darauf, daß sie nicht mehr die Schulbuben von Anno dazumal waren, sondern alte, gesetzte Männer im Staate, und brachen plötzlich in ein helles Lachen aus. Sie lachten, daß sie sich auf die Knie schlugen.
»Wahrhaftig,« sagte Blücher, »in einem Augenblick sind wir um sechzig Jahre zurückgekommen und zanken uns hier wie die dummen Jungen, die wir waren, und tragen unsere unerledigten Streitigkeiten von damals aus. Ich erinnere mich auch an den Vorfall, als wäre er gestern geschehen. Es war eine Niedertracht von dir, Hans Jörg, und davon gehe ich nicht ab! Aber erinnerst du noch, wie ich da gebunden lag und ihr mich alle fühlen ließet, wie ich euch meistens unter der Fuchtel hatte – erinnerst du, als ihr um mich tanztet und mich verspottetet, wie ich dann auf einmal frei unter euch stand und deiner Mutter Wäscheleine um eure Ohren sausen ließ, und wie ihr da alle lieft und euch wie die Ratten zwischen die Bretterstapel verkrocht? Weißt du das noch?«
»Nun ja – du hattest eben die Leine durchgebissen – ich hab's nachher auf meinem Rücken ausbaden müssen!«
»Das hat dir nichts geschadet! Aber wenn ich an den Sieg denke und an den Triumph – nun, Katzbach war schon eine Sache, und Leipzig auch, von Belle-Alliance und Paris nicht zu reden! Aber der Sieg über euch Rostocker Lausbuben im Teutoburger Wald, hier am Ufer der Warnow – wahrhaftig –, das war doch mein schönster Sieg! Und weil er auch der unblutigste war, müssen wir ihn jetzt ordentlich mit Rebenblut begießen! Gekneipt haben wir ja damals noch nicht. Aber den Weg zu mancher guten Pulle Rotspon habe ich wohl nachher gefunden. Und du schon auch! Komm, Hans Jörg, finden wir den Weg einmal im Leben auch zusammen!«
Arm in Arm zogen sie dann ab. Blücher lang und stattlich und Hans Jörg klein und hüstelnd, aber mit fürstlicher Haltung und mit dem Widerschein all der Siege seines großen alten Kampfgenossen in den Augen. So gingen sie zurück in die gute alte Zeit, aus der sie gekommen waren, und blieben da beisammen und ließen die »ernsthaften« Kämpfe dieser Welt sein, was sie ihnen immer gewesen waren: – Schlacken am Gold ihres Kindergemüts.
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