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12.
Das heilige Donnerwetter

Jahrhundertelang war Deutschland der Tummelplatz der Völker und wurde unbarmherzig verwüstet, seine Bewohner geknechtet, ausgeraubt und hingemordet, Handel und Nahrung lahmgelegt, seine Reichtümer gestohlen, seine Kunstschätze geraubt und nach allen Windrichtungen hin verschleppt, seine Kirchen und Schlösser und Kunstbauten in Ruinen verwandelt, seine Entwicklung um Jahrhunderte zurückgeworfen.

Und immer wieder blühte das Leben in alter Kraft wieder auf –, immer wieder stürmten beutegierige Horden heran mit Mord und Brand und plünderten und sengten.

Das in Strömen vergossene Blut tränkte die Erde, verseuchte die Gewässer, schwängerte die Luft – man atmete Unheil, trank dessen Odem mit dem Wasser der Quellen, fraß ihn in sich mit den Früchten der Erde. Das bittersüße Gift schwellte die Adern, schlich durch den Körper, erfüllte die Seelen bis zum Platzen mit Spannung, erzeugte einen Haß, der jede andere Regung unterdrückte, der alleinherrschend wurde, ins unermeßliche wuchs und gewaltsam zur Entladung drängte. Das Licht des Himmels, seine Sonne, seine Sterne, sein leuchtendes Blau, alles schwand in dem quälenden Dunst, die Farben des Lebens verblaßten und erloschen. Es gab kein Gefühl, keinen Gedanken mehr, als verbissene Wut über schmachvolle Ohnmacht, kein Gebet, das nicht den Herrn der Welten um Erlösung anrief und mit dem Himmel um seine Blitze buhlte.

Die Schwüle des Gewitters lagerte überall, ergriff alles Leben und würgte zum Ersticken.

Immer dräuender türmten sich die Gebilde des Hasses und der Empörung empor, ballten sich zu mächtigen Gewitterwolken zusammen und erfüllten den Raum, bis endlich die Spannung zu groß, bis es der Last zuviel wurde und das Gewitter losbrach.

Blitze züngelten auf die Häupter der Bedrücker nieder, warfen sie in den Staub und zerschmetterten ihre Zwingburgen, indes der Donner grollend durch den Raum fuhr und der Widerhall krachend von Felsen zu Felsen jauchzte und Kunde von der Befreiung gab.

*

Fast unbeschränkt beherrschte Napoleon den Kontinent, alles lag ihm gehorsam zu Füßen. In jeder Festung, in allen Städten Norddeutschlands standen seine Truppen bereit, jeden Versuch zur Empörung mit Gewalt niederzuwerfen.

Durch dauernde Besetzung Preußens war er zum wahren Herrn Europas geworden. Wer nicht sein Verbündeter war, war ihm gehörig. Die Rheinbundstaaten, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen, Sachsen, Westfalen und Mecklenburg, gehorchten jetzt seinem kleinsten Wink. Der Kaiser von Österreich gab ihm seine Tochter zur Ehe. Sein Machtwort erstickte jede selbständige Regung im Keime. Ohne seine Zustimmung geschah in den deutschen Landen nichts. Könige und Fürsten holten sich Weisungen aus Paris, empfingen aus seinem Munde Lob und Tadel und setzten ihre Beamten ab und ein nach seinem Gutdünken. Seine Armeen wurden von den unterjochten Völkern unterhalten, die Einkünfte der Staaten als Kontribution nach Paris geschafft –, bis aufs Blut sog er die Besiegten aus.

Ihre Heere mußten auf sein Geheiß marschieren und für den Ruhm Frankreichs ihr Blut verspritzen – bis sie endlich begriffen, daß Blut und Leben nur für die Heiligkeit der eigenen Sache einzusetzen seien.

Der Sohn der Revolution, von der unwiderstehlichen Kraft eines Volkes in Waffen zu schwindelnder Höhe gehoben, kehrte so, durch den Gang der Ereignisse getrieben und von den eigenen Siegen verführt, vom Volksheer zum Söldnertum zurück. Er bewirkte gleichzeitig die entgegengesetzte Entwicklung bei den Besiegten und gab ihnen so das Mittel zur Befreiung in die Hand. Denn als sie sich dazu hergeben mußten, für eine fremde Sache zu bluten, wurden sie sich ihres eigenen Volkstums bewußt und fielen von der Sache des Eroberers ab, sobald sie ernstlich zu wanken begann.

Seine bunt zusammengewürfelten Heerhaufen besaßen sowieso nicht mehr die Energie und den Schwung der ersten Revolutionsheere, noch weniger ihre Begeisterung für die Heiligkeit einer Sache, die allein gegen eine ganze Welt den Sieg ertrotzt.

Noch stand der Koloß aufrecht und wagte in seinem Übermut den eitlen Versuch, den Gott zu spielen und das, was nicht zusammengehört, zusammenzukitten.

Und das Unerhörte geschah.

Als Napoleons aus unzähligen Hilfsvölkern zusammengesetztes Riesenheer auszog, um seinen unbotmäßigen russischen Verbündeten zu züchtigen, da marschierte zum ersten Male in der Geschichte des Landes ein ganzes preußisches Armeekorps mit, um für den Ruhm Frankreichs zu bluten.

Siebzehntausend Mann stark zogen die Preußen aus unter Befehl von Grawert, der bei Jena die Feldherrnkunst Napoleons am eigenen Leibe kennengelernt hatte. Er erkrankte und wurde von Yorck ersetzt.

Wie ein Haufen Heuschrecken, so wälzte das Riesenheer seine Massen über die deutsche Erde gen Osten hin, fraß, wo es durchkam, das ganze Land kahl und verwandelte es in eine Wüste. Bis es endlich hinter der russischen Grenze verschwand und sich über die endlosen, dünn bevölkerten Felder Rußlands ergoß, von einer ganzen Wolke von Marodeuren, Händlern und beutegierigen polnisch-jüdischen Schacherern umschwärmt, die sich mit seinen Abfällen mästeten, alles, was am Wege blieb, auflasen, Kleider, Ausrüstung, Proviant und Beutestücke erhandelten oder stahlen, die todmüde am Wege Liegenden erschlugen oder sie bis auf die Knochen ausplünderten.

Schreck und Entsetzen hinterließ der Raubzug überall, wo er durchkam, und lähmte die Kraft der Landeskinder so, daß keiner auch nur daran zu denken wagte, die Hand zur Rache zu erheben, als nachher die Reste der Horden wiederkamen, geschlagen, geschunden, zerfetzt und zerlumpt und von noch größeren Schwärmen Beutegeiern verfolgt.

Tausende von französischen Offizieren, auch Napoleon selbst und seine berühmten Marschälle, hätte man ohne weiteres gefangennehmen können. Aber man rührte keinen Finger gegen sie, man ließ sie ungefährdet durch und in ihre Heimat zurück, wo sie dann gleich neue Heerhaufen zur Unterjochung bereitstellten.

Man schlug das Raubgesindel nicht mit Knüppeln tot, man gab ihnen Lager und Kleidung, speiste sie, pflegte sie, vergaß das vergossene Blut und die Tränen, das geraubte Gut und Geld –, aber beileibe nicht aus Gutmütigkeit und noch weniger aus Feigheit. Nein, jene Armseligen, in Lumpen Zurückkehrenden, sie waren immer noch die Herren. Und keiner wagte noch an das unerhörte Glück zu glauben, daß jene gewaltige Macht, deren Diener sie waren, jemals gebrochen werden könnte, auch dann nicht, als man es mit eigenen Augen zu sehen und mit Händen zu greifen vermochte.

Der Krieg wurde nicht erklärt, die Rüstungen nur in größter Heimlichkeit betrieben, und auch dann nur unter dem Schein, den Bündnisvertrag mit Frankreich erfüllen zu wollen. Die Geheimdiplomatie war eifrig dabei, zu vertuschen und zu verhüllen, kein klarer Wille wagte sich hervor, kein offenes Wort wurde von maßgebender Stelle gesprochen.

Da auf einmal klang es jubelnd hart drein, wie schmetternde Fanfaren aus der alt-fritzischen Zeit. Von weit draußen an der Grenze klang es herüber, aber so hell und klar, so bestimmt und zielbewußt, daß es in die entfernteste Gegend des Landes drang und alle Herzen erzittern machte.

Es war der gleiche Ton, der Deutschland weckte, als Schill sein Panier erhob.

Aber jetzt ging alles mit, jetzt erwachte begeisterter Widerhall überall – ein Brausen, wie von einem herannahenden Sturm, ging über alles Land, das Gewitter verkündend, und erstickte mit seiner Gewalt jede Mahnung der Ängstlichen, den Weckruf lieber, im Namen der heiligen Subordination, zu überhören.

Isegrim Yorck war's, der ins Horn gestoßen hatte.

Er hatte den Sprung ins ungewisse gewagt und seinen Kopf darangesetzt, um seine Preußen aus der schmählichen Gemeinschaft mit den Franzosen zu führen. Dem Korsen hatte er die erzwungene Waffenbrüderschaft aufgesagt, seinen König mit einer vollendeten Tatsache überrascht und sein Volk auf den Boden offener Stellungnahme gegen den wahren Feind gestellt.

Die Diplomaten rauften sich die Haare. Die Tat Yorcks kostete ihrer Weisheit und dem Staate etliche Millionen, die Napoleon sonst gerade jetzt hätte zahlen sollen und vielleicht auch gezahlt hätte, wenn alles wenigstens dem Scheine nach beim alten geblieben wäre.

Aber sie brachte dafür etwas ein, was für alles Gold der Welt nicht eingehandelt werden kann: die flammende Begeisterung, den unwiderstehlichen Willen eines geknechteten und vergewaltigten Volkes, seine Fesseln zu brechen und die Bedrücker niederzuwerfen. Sie entfesselte das heilige Donnerwetter, dem nichts widersteht – mit dem stets der Sieg ist, weil es die Empörung der Natur selbst ist gegen die ihr angetane Vergewaltigung.

*

»Herr,« rief der General Blücher unwirsch und fuhr sich mit dem Rasierpinsel im Gesicht herum, daß der Seifenschaum weit umherspritzte, »Er ist wohl des Teufels! Wie heißt das? Was war das, was Ihm mir vom General Yorck mitzuteilen beliebte?«

Der so angeredete Major Diedrich nahm die Hacken zusammen, reckte sich stramm auf und brachte noch einmal seine Botschaft vor.

Die Infanterie Yorcks wäre demnach durch die erlittenen Strapazen sehr geschwächt und von 30 000 auf 25 000 Mann zusammengeschmolzen. Das Landwehrregiment der zweiten Brigade, das vor acht Tagen zweitausend Mann gehabt hatte, hatte jetzt nur noch siebenhundert. In sechs Tagen hatten die Truppen viermal Nachtmarsch gehabt, ohne daß abgekocht worden war. Sie hatten bei strömendem Regen auf dem aufgeweichten Boden biwakiert, die meisten ohne Mäntel – die Taschenmunition war von Nässe verdorben, in den Munitionswagen war kaum Vorrat genug für eine Schlacht, und dabei hätten die Parkkolonnen sechzehn Meilen Weg bis zur Neiße, um neuen Vorrat zu holen. Der General Yorck ließe bitten, dem Korps doch etwas Ruhe zu lassen.

Blücher hatte mit offenem Munde, das aufgeklappte Rasiermesser in der Hand, die Ausführungen des Majors angehört.

Jetzt fing er an mit wahrer Wut das Messer an einem ledernen Riemen abzuziehen. Er warf dabei dem Major immer wieder giftige Blicke zu.

»Ruhe soll ich dem Korps lassen? Bin ich der Franzmann, der mit ihm Krieg führt? Hat Sein General nicht genug von dem dämlichen Waffenstillstand, den wir kaum glücklich hinter uns haben, und den wir noch hätten, wenn's nach unseren Diplomatikern ginge? Ein Schuft ist Napoleon, aber gesegnet soll er sein ob seiner Halsstarrigkeit, die Friedensbedingungen nicht anzunehmen. Denn das allein hat verhindert, daß unsere Neunmalweisen den Karren noch tiefer in den Dreck schoben!«

Damit nahm er eine Kohle, zog rasch einen Kreis auf der weißgetünchten Wand, starrte, in Ermangelung eines Spiegels, da hinein und fing an sich den Stoppelbart abzukratzen. Denn jetzt war er wieder in der Offensive und durfte als höflicher Mensch dem Franzmann nicht unrasiert kommen.

Der Major Diedrich benutzte die Gelegenheit, weitere Einzelheiten über den schlechten Zustand des Yorckschen Korps vorzubringen, und Blücher, der seine Zunge dazu gebrauchen mußte, beim Rasieren die Wangen von innen zu strammen, konnte dabei seinem Mißvergnügen nur durch ein mehr oder weniger lautes Grunzen Luft geben. Bis der Major ihm mit den zwanzigtausend in Österreich gekauften Flinten auf den Leib rückte, mit denen man die Landwehr beglückt hatte, und die die unangenehme Eigenschaft hatten, keine Zündlöcher zu besitzen. Die hatte man in der Eile bei der Anfertigung zu bohren vergessen. Und nun müsse die brave Landwehr, zum größten Teil mit Piken bewaffnet, in den Kampf ziehen!

Da hörte Blücher mit dem Schaben seines Bartes auf, wandte sich jäh um, warf dem Major einen vernichtenden Blick zu und wetterte los.

»Herr, was redet Er da von Zündlöchern? Bei dem Sauwetter, wo's, wie jetzt, seit Monaten Strippen regnet, schießen alle Flinten gleich gut, ob sie Zündlöcher haben oder nicht! Die sollen die Leute ruhig behalten und mit den Kolben auf den Franzmann losschlagen. Und taugen sie auch dazu nicht, dann mögen sie sich drüben beim Feind bessere Flinten holen. Die Franzosen haben ganz gute! Wozu haben wir den Krieg?«

Worauf er das Messer ansetzte und weiter schabte.

Aber der Major hatte noch mehr auf dem Herzen, und die Gelegenheit war zu gut jetzt, wo der Alte das Messer an der Kehle hatte und die Zunge im Zaum halten mußte.

Er packte also aus.

Es fehle den Landwehrregimentern an Mänteln, sie hätten nur leinene Hosen, statt Patronentaschen leinene Beutel, Kochgeschirr wäre bei ihnen eine Seltenheit und Stiefel erst recht. Bei den aufgeweichten Wegen käme man kaum noch vorwärts mit der schlechten Ausrüstung.

»I der Deubel!« unterbrach Blücher plötzlich die Litanei. »Mit langen Redensarten wurde noch niemals 'n Stiebel jemacht. Was red't Er denn? Wo uns Hunderttausende von den besten französischen Stiebeln freundlichst entgegentanzen und bloß dadruff warten, genommen zu werden! Wenn unsere Leute zu vornehm sind, um auf Pariser Sohlen zu laufen und sich die nicht holen können, wo sie da sind, dann können sie meinetwegen barfuß laufen! Und was den anderen Kram betrifft – die Mäntel und Patronentaschen und gar die Hosen –, das alles macht noch lange nicht den Soldaten! Die Leute, die da mit Piken und Sensen geübt und so die Griffe gelernt haben, die haben eben gewußt, wie saumäßig es um Preußen stand, und daß es ihm an Flinten und Stiebeln und Mänteln fehlte. Und sie sind doch gekommen und haben sich zum Dienst gestellt. Warum, denkt Er wohl? Nicht, damit Er mir hier noch eine Litanei vorbetet, sondern um Preußen all das zu verschaffen, was ihm fehlt – vor allem die Freiheit und den alten Besitz! Das andere – die Flinten und die Stiebel und der ganze Kram –, das kommt dann ganz von selbst. Und nun schere Er sich, und lasse Er mich ungeschoren. Dem General ist zu erwidern, daß es beim Marschbefehl bleibt. Er hat sich von Jauer zurück auf die Katzbach zu wenden und die vorgeschriebenen Stellungen bei Brechtelshof einzunehmen. Verstanden?«

Der Major salutierte schweigend und ging. Und Blücher begab sich nach vollendeter Toilette hinaus, um die abmarschierenden Truppen zu inspizieren.

Sein geübtes Auge sah wohl alle Mängel und Gebrechen ihrer Ausrüstung, sah die beschmutzten, durchnäßten, frierenden und abgehetzten Kerle dastehen und fragende Blicke auf ihn richten – sah aber auch unverzagten Mut aus ihren Augen leuchten, als er vor der Front aufritt. Seine Blicke glitten prüfend von Mann zu Mann die Reihen entlang.

Es waren keine baumlangen Pommern oder Mecklenburger, sondern zumeist klein gewachsene, schmächtige Leute aus den schlesischen Weberdistrikten. Staat war mit ihnen nicht zu machen, aber sie würden schon anbeißen, wenn man nur verstände, im richtigen Ton zu ihnen zu sprechen, und ihnen gleich zu Gemüt zu führen wüßte, daß der Krieg keine Schule der Verzärtelung sei, und daß es dabei etwas Wichtigeres und Bedeutungsvolleres als Strapazen und Entbehrungen gäbe.

Und diesen Ton fand Blücher gleich.

Nachdem er die Reihen abgeritten war, hielt er vor der Front und rief in seiner jovialen Art, mit einem listigen Augenzwinkern, daß sich ein jeder sofort innerlich auf du und du mit ihm befand.

»Kerls, ihr seht aus wie die Schweine! Aber es macht nichts. Ihr habt doch die Franzosen geschlagen! Das ist aber nicht genug! Ihr müßt sie heute wieder schlagen, wie das Wetter und die Wege auch sind. Sonst sind wir alle beschissen! Guten Morgen, Kinder! Und nun frisch darauflos!«

Worauf er schmunzelnd über das donnernde Lachen, womit die Front für die Ansprache quittierte, sein Pferd herumwarf und zurück in sein Quartier galoppierte.

Dort erwartete ihn großer Ärger und Verdruß.

Yorck selbst war gekommen, um wegen des vielen »unnützen Hin- und Hermarschierens« das Oberkommando zur Rede zu stellen, und war eben in heftigem Diskurs mit dem Generalstabschef Gneisenau, der vom Obersten Müffling getreulich sekundiert wurde.

Als er Blücher sah, wandte er sich gleich an ihn, und zwar in einem Ton, den dieser sich als Oberkommandierender keinesfalls gefallen lassen konnte.

»Und wenn der Teufel selbst das ganze Oberkommando gegen mich zur Attacke ritte – marschiert wird doch nicht, ehe ich nicht achtundvierzig Stunden gerastet habe!« rief er ohne alle Einleitung Blücher zu. »Das ist das wenigste, was ich brauche, um meine Leute wieder schlagfertig zu haben. Das mögen sich die Herren Kraftgenies hier –« er warf einen despektierlichen Blick auf die beiden Mithelfer Blüchers – »unter die Nase reiben! Und auch, daß ich dies kopflose Hin- und Hermarschieren, das sie meinen Leuten zumuten, ohne ihnen Ruhe zum Essen und Schlafen zu gönnen, daß ich das mit den Menschen Schindluder treiben nenne. Und dazu sind meine Preußen denn doch zu gut!«

Blücher verbat sich ein für allemal in der energischsten Weise sowohl diesen Ton wie auch jede Widerrede. Yorck und er seien wohl alte Waffengefährten, aber das entbinde ihn doch nicht von der Pflicht unbedingten Gehorsams seinem Vorgesetzten gegenüber. Zu befehlen habe hier allein er, Blücher. Er trüge auch allein die ganze Verantwortung für die gegebenen Befehle und verbäte sich eine jede Kritik.

»Herr General,« sagte Yorck, noch aufgebrachter als vorhin, »ich pfeife auf die Waffenbrüderschaft, die sich solchermaßen in Erinnerung bringt. Und wer von uns beiden sein Handwerk besser versteht, darüber brauche ich mich hier auch nicht auszulassen. Zum Kommandieren gehört nicht nur das Amt, man muß es auch können. Und käme es nur darauf an – wer weiß, wer von uns beiden jetzt hier dem anderen zu befehlen hätte! Mich kümmert aber all das weniger! Mich kümmert in erster Linie die große Verantwortung, die ich vor meinem König und meinem Vaterland für die mir anvertrauten Truppen habe.«

»Uns nicht weniger!« schrie Blücher zornesrot. »Darüber hinaus gibt es aber etwas, was ich militärische Notwendigkeit nenne. Wenn die ein Opfer verlangt, so bringe ich es unbedingt, und wenn es noch so schmerzlich wäre. Und trage die Verantwortung dafür allein und teile sie mit keinem!«

»Wenn aber die Soldaten vorher zu Tode gehetzt werden, wozu und inwiefern und mit welchem Nutzen will ein General dann jenes Opfer bringen? Wo nichts ist, ist auch nichts zu opfern, wie groß die militärische Notwendigkeit auch sein mag. Haben Sie, meine Herren, im Vorjahre die Trümmer der großen französischen Armee gesehen, als sie aus Rußland zurückkam? Und haben Sie dagegen meine Preußen gesehen, wie die aus dem gleichen Feldzug wiederkehrten? Meine Fürsorge für meine Leute war's, die dem König von Preußen da eine ganze Armee bewahrte, wo alles andere zugrunde ging. Ohne diese meine Fürsorge hätte der General von Blücher in seiner schlesischen Armee heute keine Preußen zu kommandieren. Wäre mein Eigensinn, den die jungen Leute hier im Oberkommando so gern bekritteln – wäre der nicht gewesen – hätte ich nur den blinden Kadavergehorsam gegen Vorgesetzte gehabt, den man heute hier von mir verlangt, ich hätte mich nimmermehr getraut, dem Marschall Macdonald, der heute die Franzosen gegen uns führt, den Gehorsam aufzukündigen. Ich hätte an einem Strange mit ihm weitergezogen, und ich wäre niemals dazu gekommen, in Tauroggen meinen alten Kopf aufs Spiel zu setzen, um endlich eine reinliche Scheidung zwischen uns und den Franzosen zu machen.«

»Recht hatten Sie, Yorck«, sagte Blücher, dessen Augen leuchteten bei der Nennung des Tages von Tauroggen. »Aber jetzt sind Sie im Unrecht. Denn ich bin kein französischer Marschall, dem ein preußischer General meines Erachtens nimmermehr gehorchen kann, ohne vor sich selbst zu erröten. Ich bin hier der Oberkommandierende der schlesischen Armee, der hier im Namen des Königs befiehlt und sich Gehorsam zu verschaffen wissen wird, gleichviel ob ich persönlich oder durch meine Generalquartiermeister die Befehle erteile. Wobei eine Sache nicht zu vergessen ist, nämlich die: der General Yorck hat den russischen Feldzug als französischer General mitgemacht. Das färbt ab. Wir aber sind da rein geblieben und haben es alle vorgezogen, den Dienst zu quittieren, statt mit dem Erbfeind gemeinsame Sache zu machen. Deshalb haben wir hier das Kommando jetzt, wo es gegen den Franzmann geht, und haben es nicht nur mit dem Vorrecht, das der Königliche Befehl uns gibt.«

Damit schnitt er jede weitere Erörterung ab, ging in sein Zimmer und hieß Gneisenau gleich zur Befehlsausgabe nachkommen.

Yorck aber, außer sich über die ihm zugefügte Kränkung, ging in sein Quartier, setzte sich hin und schrieb dem König einen langen Brief, in dem er um seinen Abschied bat und sein Gesuch ausführlich begründete.

Dann, als er den Brief abgesandt hatte, fügte er sich, befahl Aufbruch und ließ es sich sogar gefallen, daß ihm vom Oberkommando der Oberst Müffling beigegeben wurde, um ihn in die befohlenen Stellungen zu geleiten.

Blücher aber, mit Gneisenau allein geblieben, ging fluchend auf und ab.

»Himmeldonnerwetter!« rief er. »Muß ich auch noch mit meinen Untergebenen um mein Kommando kämpfen! Das fehlte mir gerade noch!«

Er blieb vor Gneisenau stehen.

»Ich bin gewiß der letzte, die große Bedeutung von Yorcks Tat nicht anzuerkennen, als er es wagte, den Ängstlichen zum Trotz, sich mit seiner Armee gegen Napoleon zu erklären. Wenn er aber glaubt, deshalb das Recht zu haben, sich wie ein Bleigewicht an unsere Füße hängen zu dürfen, so irrt er sich. Ja, glauben denn er und seine Leute, daß wir blind und taub sind? Da kommen die Kerle her und machen mir was vor und erzählen mir von der schlechten Ausrüstung! Die sehe ich ebensogut wie sie! Aber auch, daß wir uns schön hüten müssen, ihr so große Bedeutung beizumessen, daß unsere Leute darob mutlos werden. Denn das hieße uns unserer einzigen guten Waffe: ihres felsenfesten Vertrauens auch noch zu berauben. Wenn ich den wackeren Kerlen in die Augen schaue und das reine lautere Gold glühender Vaterlandsliebe mir da entgegenfunkelt, da denke ich: hol' mir der Teufel Flinten und Patronen! – Das da ist unbezwinglich! Das siegt! Das fragt nach keiner Übermacht! Und auf die Leute wagen unsere russischen Bundesbrüder gar übermütig herabzublicken! Schockschwerenot – was haben die Russen geleistet, das ihnen die Berechtigung dazu gäbe? Die prahlen damit, wie sie im Vorjahre Napoleon besiegt haben – wo sie vor ihm gelaufen sind, bis der sich in seinem Übermut verrannte und nicht mehr heil aus ihren endlosen Steppen herauskonnte. Nun kommen sie her und tun dick, und setzen uns ihre Führung auf die Nase und wollen uns auch das Ausweichen vor dem Herrn Napoleon beibringen! – Und unsere eigenen Leute – die besten unter ihnen, wie der alte Isegrim soeben, die helfen da brav mit. Der Geist des Rückzugs und der Flaumacherei geht bei uns mächtig um! Es ist höchste Zeit, daß wir ihm den Garaus machen, Gneisenau!«

Er schwieg.

Aller Ärger und alle Bitterkeit der letzten Jahre wurden wieder in ihm wach, und er durchlebte in einem kurzen Augenblick noch einmal die schrecklichste Zeit seines Lebens, die Zeit, wo er aus jeder liebgewordenen Tätigkeit verbannt, geächtet und von den braven Strebern gemieden leben mußte. Bis er endlich die Frühlingsluft der Befreiung witterte, seine Zeit gekommen fühlte und seine Stimme erheben durfte ohne Furcht, nicht mehr gehört zu werden.

»Mich juckt's in allen Fingern, den Säbel zu ergreifen«, schrieb er da an seinen unvergeßlichen Freund Scharnhorst. »Wenn es jetzt nicht Seiner Majestät unseres Königs und aller übrigen deutschen Fürsten und der ganzen Nation Führnehmen ist, alles Schelmenfranzosenvolk mitsamt dem Bonaparte und all seinem ganzen Anhang vom deutschen Boden weg zu vertilgen: so scheint mich, daß kein deutscher Mann mehr des deutschen Namens werth sei. Jetzo ist es wiederum Zeit, zu dhun, was ich schon anno 9 angerathen, nämlich die ganze Nation zu den Waffen anzuberufen, und wann die Fürsten nicht wollen und sich dem entgegensetzen, sie samt dem Bonaparte wegzujagen. Denn nicht nur Preußen, sondern das ganze deutsche Vaterland muß wiederum heraufgebracht und die Nation hergestellt werden.«

Es »juckte« ihn in allen Fingern, das ganze Heer, das ganze Volk blickte auf ihn wie auf den gegebenen Führer – und doch zauderte man, wie immer, oben und wagte nicht, einen frischen Entschluß zu fassen. Der »Haudegen«, der »Draufgänger« könnte es ja zu sehr mit dem lieben Feind verderben. Eine Partei am Hofe schob, nicht ohne Aussichten, ihren Mann, den Grafen Tauentzien, als Kandidaten für den Oberbefehl vor. Und einzig und allein die rücksichtslose Energie Scharnhorsts war es, der es gelang, den Widerstand des Königs zu brechen.

Blücher wurde mit dem Oberkommando betraut, aber – denn an allen Entschließungen des Königs hing ein einschränkendes Aber, das teilweise ihre Wirkung aufhob – Blücher wurde unter russisches Oberkommando gestellt, und mit ihm das preußische Heer.

Der Oberbefehlshaber, der alte Kutusoff, der überhaupt nicht mit seinen Truppen das russische Gebiet verlassen wollte, tat der Sache der Verbündeten den Gefallen, gleich am Anfang des Feldzuges zu sterben. Aber sein Nachfolger, Wittgenstein, war, bei allem guten Willen, ein gänzlich unfähiger Feldherr. Er ließ Napoleon Zeit, seine Armeen zu vereinigen, verpaßte jede gute Gelegenheit, ihn zu überraschen, ließ die Preußen in nutzlosen Kleinkämpfen verbluten, sah im Rückzuge die einzig sichere Frucht der teuer erkauften Siege, und gab ihnen so die Färbung der Niederlage.

Der frische Ansturm der Frühlingsoffensive der Russen und der Preußen verpuffte. Die blutigen Schlachten bei Großgörschen und Bautzen waren umsonst geschlagen – die Schweden weigerten sich, die kaum befreiten Hansestädte vor Wiedereroberung durch die Franzosen zu bewahren – der König empfand schon die Situation »wie nach Jena und Auerstedt«, und erst der plötzlich von Napoleon angebotene Waffenstillstand machte dem Zurückgehen der Alliierten nach der Weichsel ein Ende. Er dämpfte aber auch die lodernde Begeisterung, die die Erhebung getragen hatte, zu dumpfer Verzweiflung. Und die während des Waffenstillstandes einsetzenden diplomatischen Verhandlungen waren nicht dazu geeignet, sie wieder zu entfachen.

Die Herren Diplomatiker rieben ihre klugen Schädel aneinander und brachten einen Friedensvorschlag zustande, dessen Bedingungen in der Hauptsache Räumung aller preußischen Festungen seitens der Franzosen waren, sowie Rückgabe von Danzig an Preußen und von den illyrischen Provinzen an Österreich, Auflösung des Herzogtums Warschau und dessen Teilung zwischen Rußland, Österreich und Preußen, und außerdem die volle Wiederherstellung der Hansestädte. Die Auflösung des Rheinbundes und die Wiederherstellung Preußens regte man wohl an, wagte sie aber nicht zur Bedingung zu machen. Und Napoleon tat trotzdem den »Mächten« den großen Gefallen, auf diese für sie – aber nicht für ihn – ungünstigen Bedingungen nicht einzugehen. Der faule Friede unterblieb, die Diplomatie wich wieder dem Schwerte, Österreich trat der Allianz bei, und von allen Bergen loderten Freudenfeuer auf und bekundeten das Ende des Waffenstillstandes und die Wiedereröffnung der Feindseligkeiten.

Blücher aber brauchte sich nicht noch einmal von den russischen Generälen gängeln zu lassen. Ihm wurde der Oberbefehl über die aus einem preußischen und zwei russischen Korps gebildete Schlesische Armee gegeben. Und da die Monarchen sich alle unter die Obhut der unter Schwarzenberg von Böhmen aus operierenden Hauptarmee begaben, so hatte er das große und unerhoffte Glück, diese Gesellschaft mit ihren jede freie Bewegung behindernden Erwägungen und ihrem Gefolge von Besserwissern los zu sein, was seine Siegeshoffnung nicht wenig stärkte.

Freilich – einer fehlte, dessen Verlust ihm einer verlorenen Schlacht gleichkam: Scharnhorst, der durch seinen unermüdlichen Tätigkeitsdrang und seinen Diensteifer seine in der Schlacht bei Großgörschen erhaltene Wunde vernachlässigt hatte und daran starb, gerade als er am nötigsten war.

Der Schmerz über diesen Verlust war schwer und andauernd. Er seufzte beim Gedanken an den verlorenen Freund auf und umfaßte dessen Nachfolger und früheren treuen Mithelfer mit einem zärtlich-dankbaren Blick, daß wenigstens er ihm geblieben war.

»Na, Gneisenau«, sagte er gutmütig, und es kam ein Ton warmer Hoffnungsfreudigkeit in die Stimme, »jetzt gilt's, die Zaghaften im Lande von ihren bösen Träumen zu erwecken. Ein Donnerschlag, Gneisenau, der ihnen den Nebel aus den Köpfen verscheucht, so daß sie wagen geradeheraus zu sehen und zu denken! Eine fröhlich schmetternde Siegesfanfare, die den gesunkenen Mut wiederbelebt! Eine Tat, die unsere schlechten Waffen gut macht und zu Ehren bringt! Vorwärts, an die Arbeit, Gneisenau!«

Dann ließ er sich die Meldungen von den Avantgarden seiner Korps vorlegen. Aus denen ging hervor, daß der Feind auf den Höhen jenseits der Katzbach, von Goldberg bis Liegnitz, lagerte, aber nicht, ob er vorrückte oder an Zurückgehen dachte.

»Auf alle Fälle greifen wir an«, entschied der General.

Yorck erhielt den Befehl, von Jauer bis nach Schlauphof an der in die Katzbach einfallenden Wütenden Neiße vorzurücken und sich da, von den Uferhöhen gedeckt, in Kolonnen aufzustellen. Die Russen auf dem rechten Flügel unter Sacken sollten die feindliche Front bei Liegnitz festhalten – die Russen auf dem linken Flügel unter Langeron, die links von der Wütenden Neiße von Hennersdorf bis zum Gebirge standen, müßten über die Katzbach auf Goldberg, Yorck in der Mitte gerade nordwärts bei Kroitsch die Katzbach überschreiten.

Die Befehle flogen den Kommandierenden zu und lösten bei ihnen verschiedene Gefühle aus – aber als Allerletztes das des Gehorsams.

Sacken allein erwiderte dem Offizier, der ihm Blüchers Befehle überbrachte: »Grüßen Sie den General: hurra!«

Aber sein Landsmann Langeron, der im Türkenkriege selbständig kommandiert hatte, der sich ungern dem Oberkommando Blüchers fügte und sich als bestellter Aufpasser des Hauptquartiers über ihn fühlte, da man ihm von dort stets geheime Mitteilungen von den Instruktionen an Blücher gab, dieser französische Emigrant erklärte kurzweg, er dürfe sein Korps nicht aufs Spiel setzen.

Und Yorck wetterte und fluchte und tat einen Schwur: »eher werde er seinen Degen zerbrechen, als über die Katzbach gehen!«

Kurz: mit der Disziplin bei den höheren Führern der Armee war's übel bestellt.

Der General Langeron war sogar noch weiter gegangen. Er kalkulierte, trotz aller Befehle vorzugehen, daß es weder einen Angriff noch eine Schlacht geben würde, sondern, wie im Frühlingsfeldzug, einen frischen, fröhlichen Rückzug, und hatte, in weiser Fürsorge, bereits seine schwere Artillerie nach rückwärts auf Jauer vorausgesandt. Durch diese Maßnahme fehlte sie ihm nachher in der Schlacht.

Nach den ausgegebenen Dispositionen Blüchers wurde aber an dem Tage überhaupt nicht gearbeitet.

Denn auch der Feind parierte nicht. Er blieb nicht wacker in seinen Stellungen stehen, um auf den Besuch zu warten, sondern überschritt unvermutet die Katzbach einige Stunden, ehe die Schlesische Armee es tun sollte, und enthob so deren Obergeneral der Pflicht, seine obstinaten Unterführer dazu zu zwingen.

Der Marschall Macdonald glaubte bestimmt die Schlesische Armee auf dem Rückzug, und er hatte ja, nach den bisherigen Erfahrungen mit der Kriegführung der Alliierten, allen Anlaß dazu. Um so mehr, da sie wirklich vor einigen Tagen zurückgewichen waren, als Napoleon selbst mit seinen Garden die Angriffsarmee verstärkt hatte. Jetzt war der Kaiser nach Dresden zurückgeeilt, um sich der Hauptarmee der Alliierten entgegenzuwerfen, und überließ Macdonald allein die Verfolgung. Weit auseinandergezogen gingen die Franzosen zu diesem Zweck vor – und stießen zu ihrer nicht geringen Überraschung auf die Blüchersche Armee, die in voller Schlachtordnung aufmarschierte.

Man war beiderseits sehr überrascht über die Begegnung. Der Himmel gab seinen Segen dazu, indem es wie seit Wochen in Strömen goß.

Frischer Mut und frohe Laune bei andauernd schlechtem Wetter ist nicht jedermanns Sache.

Wenn der Himmel beständig voll grauer Wolken hängt, wenn Tag für Tag kaum einmal ein Glimt von der Lichtspenderin zu merken und ein Ende der Sintflut nicht abzusehen ist, dann schrumpft die Hoffnung zusammen, frohe Zuversicht wandelt sich in bleiche Verzagtheit, und der Mensch möchte sich am liebsten in irgendeine Höhle verkriechen und da, in Erwartung besserer Zeiten, hindämmern, ohne noch die Hand zu rühren, um sie herbeiführen zu helfen.

Gegen die Elemente ist Menschenwille machtlos. Und eine Welt, in der es immerfort regnet, verlohnt sich nicht zu erobern.

So kam es wohl, daß ein aus Oberschlesiern bestehendes Bataillon nicht stehen wollte, als einige Kanonenkugeln ihnen die ersten Grüße Frankreichs aus den Schluchten hinaufsandte, die zur Wütenden Neiße hinabführten. Die Schlesier gaben gleich Fersengeld und waren schon im Begriff, die anderen Bataillone in Unordnung zu bringen, als der Führer der Avantgarde einige Kanonen auf sie richten ließ und sein Ehrenwort gab, ihnen auch deutsche Kugeln zu kosten zu geben, wenn sie sich von der Stelle rührten. Das wirkte Wunder. Die Leute hielten sich nachher im dichtesten Kugelregen wie alte, kriegsgewohnte Soldaten, und die Ehre der schlesischen Landwehr war gerettet.

Der Feind war über die Katzbach das Tal der Wütenden Neiße heraufgekommen, breitete sich von Schlauphof bis zu Dohnau aus und drang nun durch die engen Schluchten nach dem Plateau hinauf, ohne zu ahnen, daß er da oben die Hauptmasse der Schlesischen Armee versammelt finden würde. Blücher beschloß, ihn heraufkommen zu lassen und sich dann auf ihn zu werfen und ihn wieder in die Schluchten hinabzustürzen.

Yorck stellte seine Bataillone auf, aber nicht schnell genug und vielleicht nicht ganz vorschriftsmäßig gerichtet. Denn das Oberkommando, vom Obersten Müffling vertreten, fand daran zu tadeln. Der alte Yorck wiederum fand, daß er es nicht nötig hätte, sich von Herrn von Müffling sagen zu lassen, wie er seine Bataillone an den Feind zu bringen hätte. Und inzwischen avancierte der Feind, ohne sich um die Kunststücke zu kümmern.

Schließlich hatte Yorck seine Truppen in schlachtmäßiger Ordnung. Selbst führte er die Brigade Hühnerbein am linken Flügel, Horn mit seiner Brigade den rechten. Prinz Karl von Mecklenburg-Strelitz hielt die zweite Linie, Steinmetz' Brigade war in Reserve, die Reservekavallerie hinter dem ersten Treffen. Und allen voran die Artillerie in vollem Feuern.

Der Feind wich – die Kavallerie fand die Zeit gekommen, ihm auf den Leib zu rücken, und jagte in die feindliche Geschützlinie hinein, weit über sie hinaus, nahm Kanonen, hieb Karrees zusammen, geriet aber bald selbst in Auflösung und mußte zurück, als feindliche Reiterei in geschlossenen Massen ihr entgegentrat. Das gab eine Jagd in umgekehrter Richtung, die allerlei Verwirrung verursachte. Mehrere preußische Batterien gingen verloren, die Chasseurs sausten zwischen die Bataillone des rechten Flügels hinein, Yorck klagte schon, daß ihm der sichere Sieg aus der Hand gewunden würde.

Und immerfort regnete es in Strömen. Die Munition bei Freund und Feind wurde in gleich neutraler Weise vom Himmel durchnäßt, die Flinten schossen wirklich, wie Blücher vorausgesagt hatte, ebensogut ohne wie mit Zündlöchern – das heißt: kein Schuß ging ab, weder bei den Franzosen noch bei den Preußen. Bajonette und Kolben, Lanzen, Säbel und Piken machten da ganze Arbeit. Denn auch die Kanonen brummten nur mäßig in der dicken, feuchten Luft. Es war die stillste Schlacht, die man sich denken konnte, und doch eine der blutigsten und wütendsten des ganzen Krieges.

Schließlich gelang es der Infanterie, durch raschen Seitenangriff, der französischen Kavallerie Herr zu werden. Die russischen Husaren warfen sie weiter zurück, Sacken schwenkte, die feindliche Front überholend, rechts ein. Da gab Blücher Befehl zum allgemeinen Angriff. Er setzte sich selbst an die Spitze der Kavallerie, Yorck führte die Infanterie, und vor der Wucht des Anpralls hielten die Franzosen nicht mehr stand. Mit blutigen Köpfen kamen sie die Schluchten nach der Wütenden Neiße und der Katzbach wieder herunter, und diese Gebirgsbäche, vom Regen angeschwollen, machten gemeinsame Sache mit den Landeskindern und ließen die wenigsten von den Feinden lebend wieder hinüber! Zu Tausenden ertranken sie in den angeschwollenen Fluten. Die preußischen und russischen Kugeln schlugen in die Massen hinein, die sich über die Brücken drängten. Es war ein Sieg, wie sich der alte Blücher ihn nicht glänzender wünschen konnte.

Nur auf dem links von der Wütenden Neiße aufgestellten linken Flügel der Armee unter Langeron gab es einige »Schweinerei«, die fast den Erfolg des Tages auf das Spiel gesetzt hätte.

Man hatte sich da vom Feind zurückdrängen lassen und war gar im Begriff, aus der vorzüglichen, alles beherrschenden Stellung bei Hennersdorf abzuziehen, als Yorck, nach der Entscheidung rechts von der Wütenden Neiße, die Brigade Steinmetz nach dem linken Ufer hinüberschickte, die Gefechtslage dort wiederherstellte, Monsieur Langeron in die Offensive zwang und mit ihm zusammen auch hier den Feind warf.

Achtzehntausend Gefangene, drei Generäle und eine Menge Stabsoffiziere, hundertdrei Kanonen, zweihundertfünfzig Munitionswagen, Lazarette, Feldschmieden, zwei Adler und andere Trophäen waren die Beute.

Die moralische Wirkung auf die Armee war aber ungeheuer, und die wichtigste Errungenschaft des Sieges. Die bockbeinigen Herren Untergeneräle mußten nolens volens, sich vor dem Glück beugend, die Überlegenheit einer Führung, die vom Himmel so gut bedient wurde, anerkennen.

Allein Blücher selbst machte sich in seiner rebellischen Art über seine eigene Strategie lustig.

»Na, Gneisenau,« sagte er plötzlich zu dem neben ihm reitenden Generalquartiermeister, als sie sich am Abend in strömendem Regen nach dem Hauptquartier in Brechtelshof zurückbegaben, »die Schlacht hätten wir gewonnen, das kann uns eine ganze Welt von Theoretikern nicht abstreiten. Nun laß uns auch mal daran denken, was wir klugerweise zusammenbringen, um den Leuten klarzumachen, wie wir sie gewonnen haben. – Diesmal muß Er die Strategie eben nachträglich zurechtmachen. Einen Plan müssen wir gehabt haben! Das geht nicht anders! Was werden die Strategen sonst von uns sagen, wenn wir uns erfrechen, so gegen alle Regel eine Schlacht gewonnen zu haben?«

*

Im Schloß des Grafen Hohenthal zu Wartenburg war der Bankettsaal hell erleuchtet.

Um die Tafeln eine ernste Gemeinde.

Ein blutiger Tag war zu Ende. Man feierte einen glänzenden Sieg –, erfreute sich des Gelingens eines kühnen strategischen Manövers, von dem eine entscheidende Wendung des ganzen Feldzuges zu erhoffen war.

Aber immer noch stand die Hauptmacht Napoleons ungebrochen da. Immer noch flatterten die dreifarbigen Fahnen über der Hauptstadt seines sächsischen Vasallen. Die Marseillaise schmetterte noch sieghaft wie bisher und behauptete das Feld gegen die fremden Klänge, die rebellische Rhythmen in das Konzert zu werfen suchten.

Von allen Seiten kam das Echo feindlich gefärbt zurück – aus den böhmischen Bergen – aus der Lausitzer Gegend und nördlich von der Elbe, kräftig genug, um der Welt zu zeigen, daß die Todesstunde der französischen Alleinherrschaft geschlagen hatte.

Die Rollen waren vertauscht.

Jetzt war Napoleon nicht mehr der wilde Jäger, vor dem alles auswich und vor dessen Ungestüm alles erlag. – Jetzt war er selbst das gehetzte Wild, noch furchtbar, wo seine Pranke traf, aber nicht mehr als Sieger Gesetze gebend.

Dem ersten Ansturm des aus Böhmen vorbrechenden Hauptheeres der Verbündeten bot er siegreich Halt, schlug es bei Dresden entscheidend und warf es ins Gebirge zurück. Und triumphierend jubelte die Marseillaise.

Aber aus allen Himmelsrichtungen antworteten die Hörner der Jäger mit noch stärkeren Siegesklängen.

Bei Kulm war das ganze verfolgende Korps Vandammes vernichtet – an der Katzbach Macdonald von Blücher aufs Haupt geschlagen worden. Auch der Fürst von der Moskwa, Ney, und der Marschall Oudinot holten sich bei Großbeeren und Dennewitz derbe Schläge von den Untergenerälen des zaghaften Kommandierenden der Nordarmee, des zum Kronprinzen von Schweden avancierten Bernadotte – Niederlagen, die die französische Stellung an der Elbe, trotz Beherrschung der Elbfestungen, in Frage stellten.

Noch aber war die Lage nicht kritisch geworden.

Die Nordarmee der Verbündeten hielt sich vorsichtig zurück und nützte ihre Siege nicht aus. Die Hauptarmee drückte sich noch immer in den böhmischen Bergen herum und wartete auf Verstärkungen. Da brachte Blücher Bewegung in das Ganze und zwang seine zögernden Mitarbeiter aus ihrer Zurückhaltung heraus.

Er kümmerte sich den Teufel um die Hilferufe seines weit stärkeren Waffenbruders Schwarzenberg, ließ die Hauptarmee Hauptarmee sein, schickte ihr nicht einmal einen Knopf von den erbetenen fünfzigtausend Mann Verstärkungen hin, marschierte statt links, wie man's wünschte, rechts ab, wie er selbst es wollte, nach Nordwest, die Elbe abwärts, an der französischen Hauptmacht vorbei, täuschte inzwischen Napoleon durch eine plötzliche Diversion des Sackenschen Korps auf Meißen, stellte diese und noch andere russische Truppen nördlich der Elbe als schützende Kulisse auf, hinter der er mit der Hauptmacht seiner Schlesischen Armee bis in die Gegend von Wittenberg ziehen konnte. Dort ging er über die Elbe, stand mit einem Schlag im Rücken der französischen Armee, bedrohte die rückwärtigen Verbindungen Napoleons, manövrierte so diesen mit kühnem Griff aus Dresden heraus und von der Elbe fort, und brachte zugleich Schwarzenberg vom Süden und Bernadotte aus dem Norden in Bewegung. Denn jetzt mußten sie folgen und helfen, den Ring um das Edelwild noch dichter zu schließen.

Im Schlosse zu Wartenburg tafelte Blücher mit seinen Offizieren nach glücklich erkämpftem Elbübergang.

Der große Bankettsaal war hell erleuchtet.

In Kronen und Ampeln flammten die Kerzen. Durch die Löcher in den Wänden und durch die zerschossenen Fensterscheiben funkelten die Sterne des Himmels herein.

Ernst waren die Gesichter der Tafelnden und leise die Unterhaltung. Ein jeder lauschte auf die gedämpften Trommelwirbel von draußen, wo in der Abenddämmerung die Gefallenen bestattet wurden, die um den Sieg ihr Leben gelassen hatten.

Blücher selbst, sonst eitel Frohmut und Laune, saß heute nachdenklich da.

Das Gelingen seines kühnen Unternehmens erfüllte ihn wohl mit Genugtuung. Aber der hohe Preis des Sieges, das viele kostbare Blut, das heute hatte fließen müssen, stimmte die Siegesfreude in Trauerklänge um.

Plötzlich ergriff er sein Glas und erhob sich von seinem Platz.

Feierlicher Ernst lag auf seinem Gesicht, seine Augen schimmerten in feuchtem Glanz, und in der Stimme zitterte ein Ton tiefster Bewegung, als er anhub:

»Lasset uns unsere Toten begraben. Widmen wir ein Glas den vielen namenlosen Helden, die bis heute ihr Blut für die Befreiung unseres Vaterlandes aus fremder Gewalt vergossen haben. Ein Name mag da für alle gelten. Denn er, der ihn trug, war auch der Geringsten einer. Aus den ärmlichen Verhältnissen nahm er seinen Aufstieg zur Höhe, wo jäh seine Laufbahn endete, und zeugt so davon, daß nur wer vom Volke geboren wurde, dem Volke Befreier werden kann.

Er wurde es.

Ihm, seinem Geiste, seinem unermüdlichen Schaffen verdanken wir, wenn wir jetzt dastehen, wo wir heute sind, und hoffen können, das hohe Ziel zu erreichen, für das wir alle unser Leben geben wollen.

Was das heißt, brauche ich keinem von euch zu sagen. Wir alle wissen, daß wir als Volk so tief gesunken waren, daß die große Masse dem Unglück, das unser Vaterland bis zur Grenze der Vernichtung niederwarf, fast teilnahmslos gegenüberstand. Wir sind alle Zeugen der jähen Wandlung – wir haben das Aufflammen der Begeisterung miterlebt, das hoch wie niedrig ergriff und zu Heldentaten befähigte, von denen wir heute wiederum staunende und ergriffene Zeugen gewesen sind.

Wer schuf sein Leben lang in stiller emsiger Arbeit die Waffe zu solcher Tat? Wer lehrte sie uns gebrauchen? Wer war uns Freund, Organisator und Mitstreiter, ohne zu ermüden, ohne sich Ruhe zu gönnen – auch nicht als er, zu Tode verwundet, Erholung und Pflege haben mußte? Sei getreu bis in den Tod – dies hehre Gebot erfüllte er ohne Zagen als erste und selbstverständliche Pflicht.

Was befähigte ihn dazu, was trug ihn und uns mit ihm durch alle Niederungen der Knechtschaft zur Freiheit empor?

Es war der zähe, durch nichts zu besiegende Widerstandsgeist unseres Volksstammes, der wohl gebeugt, aber nimmermehr gebrochen werden kann, und der, wenn es um das Heiligste auf Erden geht: um das Recht, frei unter freien Völkern sein Haupt aufrecht zu tragen, in flammendem Zorn emporlodert, um unwiderstehlich, wie das heilige Donnerwetter selbst, alles hinwegzufegen, was sich erdreistet, sich dem in den Weg zu stellen!

Dieser Geist hat sich heute wieder herrlich offenbart –«

Blücher schwieg bewegt. Denn wieder rollten in langsamem Zeitmaß langgedehnte Trommelwirbel gedämpft herein, wie um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen.

»Die Trommel geht,« rief er dann ergriffen, »sie mahnt unseren Sinn, ins Jenseits zu blicken. Dort ziehen jetzt in endloser Schar die Geister unserer gefallenen Brüder vorüber. Immer dichter drängen sie an den Thron des Herrn aller Heerscharen heran und empfangen als Lohn für ihr Opfer die Weihe, fortan, von jeder leiblichen Schwere unbehindert, mit uns zu streiten, um unsere heilige Sache zum Siege zu führen.

Wir hienieden sind alle gering gegen sie. Ich selbst weiter nichts als ein Handwerker, der die aufgegebene Arbeit geleistet hat.

Wer aber alles so bereitet hat, daß wir anderen hier den Erfolg haben konnten, das war jener, von dem ich hier geredet habe –«

Er wandte sich mit den Worten an den jungen Leutnant von Scharnhorst und winkte ihn näher.

»Das war Ihr Vater«, setzte er seine Ansprache fort. »Denn er und kein anderer hat jedem Sieg, den wir erstritten, vorgearbeitet, er hat in Reih' und Glied mit den anderen dafür gekämpft, sein Leben eingesetzt und verloren, wie der Geringste unter denen, deren Heimgang wir betrauern. Blicke herab, verklärter Geist unseres Scharnhorst, und vernimm es, wie wir alle hier in die Hand deines Sohnes geloben, dir nachzueifern in Wort und Tat, bis wir das deutsche Vaterland von den Feinden und Unterdrückern befreit und den preußischen Namen wieder zu Ehren gebracht haben.«

Damit zog er den Sohn Scharnhorst an seine Brust und küßte ihm die Stirn. Die anderen traten ergriffen an den jungen Offizier heran und bekräftigten mit stummem Handschlag die Worte ihres Führers.

*

Im Schlosse zu Köthen saß der Kronprinz Karl Johann von Schweden, alias Marschall Bernadotte, bei der Morgentoilette. Die geschickten Hände seines Kammerdieners befreiten seine, trotz den fünfzig Jahren, immer noch rabenschwarzen Locken von den unzähligen Papillotten, in die sie über Nacht gewickelt waren, und ordnete sie in dekorativem Wirrwar um das scharf geschnittene Profil herum, das so recht dazu geeignet war, auf Münzen und Medaillen majestätisch zu wirken.

Zur Münze geschlagen, hält der Mensch den Mund, und das ist bei manchem gekrönten Haupt entschieden von Vorteil.

Noch war der Advokatensohn aus Pau ja nicht so weit in der Karriere gediehen. Er plapperte also rüstig drauflos.

Sein schwedischer Adjutant, der in ehrfurchtsvoller Haltung wartete, bekam einen Erguß über alles mögliche, was die neugefürstete Seele seines Gebieters momentan bewegte.

»Wir schreiben also sofort an den General Blücher, daß der Kaiser Napoleon auf das rechte Elbufer übergegangen ist, unsere Rückzugslinie ernstlich bedroht und uns nötigt, zu retirieren und über die Elbe zurückzugehen. – Wir fordern den General auf, uns mit der Schlesischen Armee zu folgen. Und, damit er es auch tut –, deuten Sie ihm an, wir hätten uns bei dem Kriegsrat in Trachenberg von den Monarchen zusichern lassen, gegebenenfalls und insbesondere bei gemeinsamen Unternehmungen auch über ihn und seine Armee den Oberbefehl zu führen.«

Der Adjutant machte sich eiligst Notizen.

»Es ist an der Zeit, mit der Legende aufzuräumen, ein ehemaliger Marschall von Frankreich wäre gerade gut genug, in Deutschland ein subalternes Kommando zu führen! Wozu hat man mich wohl gebeten? Man überhäuft mich mit Komplimenten – man macht mir Versprechungen – der Kaiser Alexander selbst wurde nicht müde, zu betonen, er hätte mit mir die Strategie Napoleons in die Dienste der Verbündeten gestellt! – Nun, er hat nicht zu sehr danebengegriffen. Aber wem gab man den Oberbefehl? – Mir etwa? Nein, dem Fürsten Schwarzenberg!

Wer ist Fürst Schwarzenberg? Auf welchem Schlachtfelde wurde sein Name bekannt und berühmt? Auf keinem, wo ich mitgekämpft habe. Und wo habe ich nicht mitgekämpft? Wer gab bei Austerlitz die Entscheidung? Wer bei Wagram – und das in solchem Maße, daß Napoleon vor Neid fast platzte und sich zu Unbesonnenheiten mir gegenüber hinreißen ließ, um mir die Palme des Sieges zu entreißen.

Nun hat man mich – und läßt mich eine zweite – eine dritte Rolle spielen, und verspielt so das Ganze. Sie werden es sehen. Napoleon wird den Leuten ein Schnippchen schlagen. Und wenn nicht – dann haben sie's meiner Vorsicht zu verdanken, die ihm stets zu entschlüpfen wußte.

Napoleon weiß schon, was er an mir hat!

Er weiß mich als Feind einzuschätzen. Er wird auf mich wütend sein! Er wird darauf brennen, vor allem mich zu vernichten, weil ohne mich die anderen ihm dann auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sein werden!

Ich hüte mich aber, mich seinen Keulenschlägen auszusetzen. Den billigen Triumph soll er nicht haben. Wie könnte ich ihm auch standhalten?

Was für Truppen hat man mir dazu gegeben? Mon dieu! Einen Bernadotte nimmt man zum Oberkommandierenden – und gibt ihm derartiges Gesindel in die Hand!

Diese preußische Landwehr, wie sieht sie nur aus! Was für eine Ausrüstung, welche Gesichter, welche plumpen Bewegungen, welche Ungeschicklichkeit! Kein Griff, der sitzt – kein Elan, gar nichts! Die reinen Barbaren!

Und meine lieben Schweden – nun – nichts für ungut. Oberst, geben Sie's nur zu – mit den Grenadieren Napoleons sich messen zu wollen, ist eigentlich eine Arroganz von Ihnen! Brave, liebe Leute, meine neuen Landeskinder, ich gebe es zu!

Aber was soll es heißen, daß man in Schweden so besorgt tat, als sie ausrückten.

›Opfern für fremde Interessen‹, sagt man! Mon dieu!

Ich werde diese Raritäten von Soldaten dem schwedischen Vaterlande ganz unbeschädigt zurückgeben! Man kann unbesorgt sein. Ich werde sie wie meinen Augapfel hüten!

›Für fremde Interessen‹?!

Weiß man denn nicht, daß meine Teilnahme am Krieg den Schweden Norwegen einbringen wird? Oder traut man mir nicht einmal das zu?

Glaubt man in Schweden an das alberne Gerücht, die Schweden sollten bluten, damit ich Kaiser der Franzosen werde, wenn Napoleon abgetan ist?

Es ist wahr, die Franzosen lieben mich! Sie wären schon imstande, mich – – –

Wäre Napoleon nicht aus Ägypten zurückgekommen – wäre er damals nicht den Engländern entschlüpft –, wer weiß, was geschehen wäre?!

Wer weiß, wie die Welt heute aussehen würde, wenn statt ihm – ein anderer – ich zum Beispiel, in den Tuilerien residieren würde?!

Nun, morgen ist auch noch ein Tag. Und wenn die Franzosen es mir nicht zu sehr verübeln, daß ich am Kriege gegen sie teilgenommen habe, dann – –

Schließlich, ich tu' ihnen ja nicht weh. Aber man kennt die Treibereien der Demagogen! – Es könnte gegen mich ausgenützt werden für den Fall, daß man mich – – –

Wenn sie aber trotzdem der Stimme ihres Herzens folgen, das stets für mich schlug – wenn sie mich binnen kurzem zum Nachfolger Napoleons ausrufen, dann werde ich meine Pflicht tun – meine Pflicht, Oberst!

Gewiß – ich kenne meine Pflicht gegen die Schweden! Ein braves, ein treues Volk! Aber eine drollige Sprache!

›Giff mik – – un baiser‹ – wie heißt das nun wieder: un baiser? – ›En schiß‹ – danke lieber Oberst – ›en schiß‹ – mon dieu, man zerbricht sich fast den Mund dabei! Es klingt ja beinahe wie Deutsch – ebenso unmöglich zu prononcieren, ebenso guttural! Eine Sprache für die Wilden! Man müßte eigentlich bei euch in Schweden die französische Sprache einführen! Glauben Sie, Oberst, die veredelt die Manieren! Die würde euch Schweden gut zu Gesicht stehen! Nun, wer weiß, was noch kommen kann, wenn man mich nicht – – –

Denn wenn man mich zum Kaiser der Franzosen wählt – es gibt eine Pflicht, Oberst, die alle anderen Pflichten in den Hintergrund stellt, und das ist die Pflicht gegen die Menschheit. Und meine Wahl wäre: der ewige Friede und also ein Segen für die ganze Menschheit.

Das käme dann auch den Schweden zugute – und weit mehr, als wenn ich meine aufs Große gerichtete Kraft darauf verschwenden müßte, nur ihr kleines Land zu regieren.

Schließlich kann man sich auch in Schweden vertreten lassen –, oder die beiden Länder enger aneinanderschließen. Sie werden's sehen, es wird noch kommen, man wird noch in Schweden Französisch sprechen! –

Also, heute gehen wir über die Elbe zurück.

Sie meinen, wir hätten ebenso gern gleich drüben bleiben können? Gewiß! Ich war niemals für dies Abenteuer. Ich habe es kommen sehen, daß wir zurück müßten!

Immerhin, ich habe dem alten Haudegen Blücher gezeigt, wie man so etwas macht! Er hat bluten müssen, als er bei Wartenburg überging. – – Wieviel sagten Sie? – Zweitausend Tote?! Das ist viel! Das ist ungeschickt!

Ich habe bei meinem Übergang keinen einzigen Toten gehabt – keinen einzigen! Eben weil ich die Gelegenheit besser wahrnahm und erst über den Fluß ging, als der Feind mit Blücher beschäftigt war und nichts davon merkte.

Wer zuerst kommt, auf den stürzt sich die Meute, an ihm beißen sich eben die Hunde fest!

Der gute Blücher glaubt sich mir überlegen, er treibt mich gar an! Er denkt, er könne mit seiner Feldherrnkunst die meine düpieren?

Dabei hat er schon einmal in mir seinen Meister gefunden! Sie wissen: in Ratkau, wo er vor mir kapitulieren mußte! Er wird es nochmals erleben! Er wird sich wundern, wenn ich heute die Karten aufdecke und ihm zeige, daß er eigentlich unter meinem Befehl steht und mir zu gehorchen hat!

Er wird fluchen! Ha, ha, ha! Er ist ein Grobian, ein ungeschlachter alter Landsknecht, ein unmanierlicher Barbar! Nun, er ist eben ein Deutscher!

Apropos – ihr Schweden seid doch auch halb deutsch! Wie kann man nur? Ridicule! Und eure Sprache auch!

Wie hieß es nun wieder: donnez moi – ›giff mik un giß‹ – un giß! Wie drollig! Wie lächerlich!«

So plapperte Seine neugebackene Königliche Hoheit mit der Selbstgefälligkeit eines Papageien weiter und imponierte seinem Adjutanten und nicht zum mindesten seinem Kammerdiener mit seiner Zungengeläufigkeit, die, wie sooft bei seinen Landsleuten, ersetzen mußte, was ihm an Geist abging.

Als aber der Kammerdiener ans Barbieren kam, da stand das kronprinzliche Mundwerk endlich so lange still, daß der Adjutant seine Meldung abstatten und mitteilen konnte: der englische Bevollmächtigte, General Stewart, widerriete auf das bestimmteste einem Rückzug über die Elbe.

Wenn überhaupt zurückgegangen werden müßte, da wäre der General Stewart dafür, dann lieber über die Mulde, ja sogar bis hinter die Saale –, überhaupt nach Südosten auszuweichen, wie es Blücher vorgeschlagen hatte, um die Verbindung mit der aus Böhmen vorbrechenden Hauptarmee zu suchen und die Rückzugslinien Napoleons auf Weißenfels und Erfurt zu bedrohen.

Der Kronprinz hörte gelassen zu, ließ sich einseifen und antwortete mit keinem Wort.

Er gedachte der Subsidien, die ihm England zahlte, und die wohl dessen Bevollmächtigten berechtigten, ein Wort mitzureden.

Als aber dann ein zweiter Adjutant mit der Meldung hereinkam, die Franzosen hätten seine Schiffsbrücken bei Aken und Roßlau zerstört, da atmete der Kronprinz erleichtert auf.

Denn nun mußte er links der Elbe bleiben, ob er wollte oder nicht!

Die Sache war entschieden. Der Engländer hatte seinen Willen, und selbst brauchte er, dank dem Feinde, keinen Entschluß zu fassen.

So trieb man die Weltgeschichte entschieden am besten und bequemsten. Man ließ ihr ihren Lauf, trieb selbst mit und vertraute dabei seinem Glück und seiner angeborenen Fähigkeit, an die Oberfläche zu kommen und sich dort zu behaupten. Und wurde so ein Auserwählter von Gottes Gnaden.

*

»Ein Fähnrich zog in den Kri–ieg –
widibum fallera, juchheirassa,
ein Fähnrich zog in den Kri-ieg,
wer weiß, ob er wiederkehrt,
wer weiß, ob er wiederkehrt!

Er liebt ein schwarzbraunes Mädchen,
widibum fallera, juchheirassa, –
er liebt ein schwarzbraunes Mädchen,
das bitterlich um ihn weint,
das bitterlich um ihn weint!«

So sang man an einem der vielen Biwakfeuer des Yorckschen Korps vor Möckern. Und weiter gen Wiederitzsch zu antwortete es von den Lagerfeuern der Russen, die sich dort aneinanderreihten, in langgezogenen melancholischen Tönen.

»Matjuschka–a babu–usch–ka – –«, klagte da ein schmelzender Tenor das ewige alte Russenlied vom roten Sarafan, an dem die Mutter nicht mehr nähen soll, während oben auf der Anhöhe die Silhouetten weithosiger, bebluster Tänzer zu den Tönen der Balalaika sich gespenstisch hin und her drehten, bald an dem flammenden Feuer vorbeihuschten, bald ins Halbdunkel hineinhüpften, um gleich wieder zum Vorschein zu kommen, die Hände in die Hüften gestemmt, die Hacken zusammengeschlagen, die Knie gebeugt, und dann bald nach links, bald nach rechts heraus auf den Hacken gerutscht, hochgeschossen, rundgeschnurrt und wieder in die Finsternis hineingehüpft.

Ein dumpfes Geräusch von ferne rollenden Rädern, ein aufbrausendes und wieder abnehmendes Stimmengewirr, Kommandorufe, Hörnerklang, Trommelschlag und Pferdegetrappel verrieten, daß irgendwo bei Freund oder Feind im Schutze der Nacht noch Truppenbewegungen vorgenommen wurden.

Klagen, Hilferufe, Jammern und Schmerzensgestöhn wurden überall laut, um wieder zu verstummen.

Hier und da ein plötzlicher Flintenschuß – ein Verwundeter, der seinen Qualen ein Ende machte, oder ein schnelles Gericht über einen auf frischer Tat ertappten Leichenplünderer. –

Es war ein blutiger Tag gewesen. Yorck und seine Tapferen hatten wieder die Hauptarbeit machen müssen.

Der alte Isegrim hatte geflucht und genörgelt wie immer und die Anordnungen des Hauptquartiers bekrittelt, dann aber seinen Mann gestellt. Und wen er mit eisernem Griff packte, der blieb oder kam zerzaust davon, daß er für weitere Kämpfe kaum noch in Betracht kam.

Jetzt ruhte der Kampf.

Einzelne Lichter bewegten sich langsam hin und her über das Schlachtfeld, hielten an und kehrten in die Richtung, aus der sie gekommen waren, zurück. Und wo sie anhielten, erhob sich das klagende Gestöhn zu neuer Stärke, und die Hilferufe wurden wieder laut. Sie galten den Militärärzten, die die Verwundeten aufsuchten, aber bei der reichen Ernte, die heute der Tod gehalten hatte, nur den wenigsten helfen konnten.

Ringsherum, soweit das Auge blicken konnte, flammte Feuer an Feuer der biwakierenden Truppen.

Zäune, Obstbäume, die Häuser der Dörfer, überhaupt alles Brennbare in der Umgegend, mußte herhalten, um die vielen Tausende von Feuern zu nähren, an denen die Soldaten all der Völker, die hier zusammengeströmt waren, um sich gegenseitig zu vernichten, ihre armseligen Süppchen kochten und ihre von den Strapazen der Märsche steifen Glieder gegen die Kälte der Oktobernacht zu schützen suchten.

Schatten huschten überall hin und her durch die Nacht, tauchten hervor aus dem Dunkel, von dem Licht eines plötzlich aufflammenden Wachtfeuers gefaßt, duckten sich jäh und schwanden, um bald wieder anderswo zum Vorschein zu kommen.

Bald waren es Marodeure, Plünderer, Leichenfledderer, die sich an die Gefallenen heranmachten und, wo der Tod nicht rasch genug für ihre Beutegier gewesen war, mit dem Gnadenstoß nachhalfen – bald waren es Überläufer der französischen Armee – meistens Rheinbündler, die das Vertrauen zu dem Glück Napoleons zu verlieren anfingen und nun zu den Gegnern hinüberschlichen mit begierig empfangenen Nachrichten über Truppenzahl, Munition und Proviantvorräte und mit der Versicherung, daß die deutschen Hilfsvölker Napoleons bereits entschlossen wären, regimenterweise überzugehen, wenn noch weitergekämpft werden würde. Daß Napoleon an den Rückzug dachte, wußten sie alle, und auch, daß er's nicht tat, sondern sich bis zum letzten Atemzug schlagen wollte.

Die Stadt Leipzig hob ihre dunkle Masse gespenstig aus dem Ring von Wachtfeuern heraus, der sich um sie herumschlang und deren Widerschein rötlich auf dem mit Wolken bedeckten Himmel lag.

Von den Türmen der Stadt flammten einzelne Lichter auf, sonst war alles dunkel, und nur ein gedämpftes Geräusch zeugte von dem Leben, das sich noch drinnen bewegte.

Dicht an der Ziegelei im Dorfe Möckern an der Elster loderte und flammte ein großes Biwakfeuer. Alles schlief drum herum, nur ein einzelner Schatten ging langsam auf und ab.

Eine kleine Truppe von Reitern trabte heran. Ihr Führer sprang vom Pferde, trat auf den Schatten zu und salutierte.

»Melde gehorsamst: Graf Henckell von den westpreußischen Dragonern, kommandiert, das Hauptquartier zu decken! Haben Exzellenz besondere Befehle?«

Yorck, denn er war es, schüttelte den Kopf.

Der Rittmeister wollte sich eben entfernen, als Yorck ihn wieder heranwinkte.

»Haben den Feind tüchtig zerzaust heute.«

»Es war ein glänzender Sieg, Exzellenz! Aber – es hat viel Blut gekostet – viel Blut!«

Yorck schwieg eine Weile und blickte verbissen ins Feuer. Dann wandte er sich wieder dem jungen Offizier zu.

»Bringt Er mir Rapporte?«

»Ich habe allerdings hier und dort herumgefragt –«, fing der Rittmeister zögernd an.

»Nun?«

»Dreiundfünfzig Geschütze, zweitausend Gefangene genommen!«

»Weiß ich schon!«

»Die Mecklenburger haben einen Vogel erobert!«

»Der Adler wurde mir gemeldet, die genommenen Fahnen auch! Die Verluste aber noch nicht ganz. Weiß Er schon Genaues?«

Der Rittmeister schwieg und blickte zur Seite.

»Rede Er!« kam es scharf von Yorck.

»Zu Befehl, Exzellenz! – Es waren alles Helden!« sagte er dann leise, und seine Lippen bebten.

Yorck nahm den Hut ab.

»Der Herr sei ihnen gnädig«, sagte er und faltete die Hände.

»Wie viele?« fragte er dann.

»Von der Mannschaft fehlt der dritte Teil!«

Yorck zuckte zusammen.

»Ich hab's nicht vermeiden können«, sagte er. »Es hat sein müssen! Weiter?«

»Sämtliche Regimentskommandeure sind fort. Achtundzwanzig Stabsoffiziere – –«

»Namen nennen!«

Der Rittmeister las aus seinem Notizbuch vor:

»Von der Landwehr: Rekowsky, Thiel, Graf Wedell. Dann: General Steinmetz, Major Hiller, Losthin, Maltzahn, Kossecki, Major Mumm, Major Leslie, Oberst Borcke, Major Götze, Othegraven, Krosigk –«

»Genug!«

»Fast alle Hauptleute fehlen – die Leutnants führen die Bataillone –«

»Der Tod hat reiche Ernte gehalten«, sagte Yorck und fletschte plötzlich die Zähne. »Ja, ja!« setzte er schneidend hinzu, und ein grimmiges Lächeln flog über seine verwitterten Züge, »die Leute, die Er mir da genannt hat, das waren eben – die ›Feiglinge‹ von Jena!«

»Herr General!«

Der Rittmeister stand aufrecht vor ihm und blickte ihn flammend an.

»Nun,« sagte Yorck, »Er hat's doch auch vor sieben Jahren miterlebt, wie nach Jena auf uns preußische Offiziere geschimpft wurde!

Kein gutes Haar ließ man mehr an uns – kein Wort war schimpflich genug, um unsere Feigheit und Würdelosigkeit zu bezeichnen. Und wer schimpfte? Nun, eben jene braven Bürgersleute, die am Brandenburger Tor Napoleon die Schuhsohlen leckten und nachher nicht schnell genug nach dem Schloß vorauseilen konnten, um ihn dort nochmals ebenso unterwürfig zu empfangen. Wer schimpfte aber auf die? Wer sagte auch nur ein böses Wort, als jene Speichellecker dem Sieger zuliebe ihre sogenannten ›Nationalgarden‹ errichteten, damit er keine Garnisonen in den Städten zu halten brauchte? Wer entrüstete sich darüber, daß jene Garden ihm halfen, die Kontributionen einzutreiben, oder weil die Söhne der reicheren Bürgersleute sich in grüngoldene Uniformen steckten, um als berittene Boten und Dolmetscher bei den französischen Kommandanten Dienst zu tun? Sagte einer auch nur ein Wort darüber, daß unsere Beamten während der Okkupation brav und bieder weiteramtierten, als sei Napoleon ihr rechtmäßiger Herrscher, und ihm halfen, die Einnahmequellen des Staates aufzufinden? Nein. Aber die preußischen Offiziere, die mußten ihre Haut lassen. Nun – heute haben sie das besorgt, wenn auch nicht als Sündenböcke, und den Herrn Napoleon haben sie bedient – aber in anderer Weise, so wie's deutschen Männern ziemt. Und wenn sie's damals vor Jena und Auerstedt nicht so gut taten – Henckell – ich sag's Ihm ganz offen – dann lag's eben an unserer hundsmiserablen, rückenmarkslosen Regierung, die wir hatten und noch haben, und die nicht regiert, sondern sich mit dem Strom treiben läßt. Na, heute haben nicht die Franzosen, sondern wir Soldaten sie ins Schlepptau genommen, und sie muß mit dahin, wo das Heil des Volkes zu finden ist. Aber es ist ein saures Stück Arbeit.«

Er schwieg. Er dachte an den Tag von Tauroggen, auf den er mit gerechtem Stolz zurückblicken konnte – dachte an des Königs Wut, weil in »seinen« Landen jemand gewagt hatte, einen Entschluß zu fassen und zur Tat werden zu lassen, wo er selbst es nicht wagte! Er dachte an seine Absetzung und Stellung vor ein Kriegsgericht, von der er nur durch die Zeitungen erfuhr, weil die Russen, mit denen er paktiert hatte, die königliches Kuriere abfingen und zurückhielten, so daß er sich um jene Kabinettsorder nicht zu kümmern brauchte. Bis der König nicht mehr zu bremsen wagte, weil er sah und sich sagen mußte: »Das ganze Volk steht auf und fegt dich fort, wenn du jetzt nicht mitgehst!«

Da appellierte er »an sein Volk«, das längst ohne das in Bewegung gekommen war! Und sein Volk vergaß und gab sein Letztes: Besitz, Blut, Leben, alles her!

An all das dachte der alte Isegrim wieder einmal und mit besonderer Genugtuung, wie immer.

»An der Regierung liegt's«, sagte er dann nochmals mit Nachdruck. »Und über ihr Haupt kommt all das Blut, das in diesem Kriege unnütz vergossen wird!

Diese ganze Schlächterei jetzt wäre überflüssig gewesen, und mancher brave Mann hätte zum Besten des Vaterlandes noch lange leben können, wenn die Regierung ihre Pflicht getan und sich zur rechten Zeit zur Tat aufgerafft hätte! Wie haben wir anderen im vorigen Jahr, als die Trümmer der großen französischen Armee durchs Land zogen, beim König und beim Staatskanzler Hardenberg gebettelt.

›Laßt doch die Marschälle und die paar tausend Offiziere aufgreifen, laßt sie festsetzen! Das ist jetzt mit Leichtigkeit und ohne Blutvergießen zu machen!‹

So haben wir gebeten. Aber nein – da mußte gleich nobel getan und mit Anstand und Menschenliebe geprahlt werden.

Die Leute wurden gefüttert, gepflegt, gekleidet, Geld und Vorspann wurde ihnen geliefert, damit sie heil und munter in ihr Land zurückkehren könnten, um dort gleich ihrem Kaiser zu helfen, eine Armee gegen uns auf die Beine zu stellen.

Das hätte er aber nie und nimmer gekonnt, wären unsere Regierenden nicht solche Schlappschwänze gewesen! Nun müssen die Besten unter uns bluten, um das wieder gutzumachen. Und was dem König dann zum Regieren übrigbleibt, das sind eben jene Biederen, die Napoleon so brav die Schuhsohlen zu lecken wußten! Wenn ich aber entscheiden müßte, was uns mehr unnütz vergossenes Blut gekostet hat, unsere liebe Regierung oder die übergeniale Leitung, die wir hier in der Schlesischen Armee haben, und die sich heute wieder so verflucht gescheit bewährt hat, daß wir bald alle draufgegangen wären – ich wüßte nicht, wem ich den Preis zusprechen müßte!«

Und dann zog er gegen Gneisenau los, in dem er die Wurzel alles Übels sah, und über Blücher, der jenen gewähren ließ.

Die ewigen Hin- und Hermärsche seit dem Elbübergang bei Wartenburg, erst mit Gewaltmärschen auf Leipzig zu – dann zurück nach der Mulde, als Napoleon folgte, und hinter die Saale, als jener gar bis Düben vordrang! Alles nur unnützes Leuteschinden!

Die Schlesische Armee mußte so, nur wegen der Unruhe Blüchers, hin und her wie das Schifflein im Webstuhl, und zog außerdem die ganze Hauptmacht Napoleons auf sich, weil der Kronprinz von Schweden nur eine Stunde täglich marschieren wollte, und die Hauptarmee im Schneckentempo sich über die böhmischen Berge nach Sachsen hineinschob. Als die sich dann endlich Leipzig so weit wie bis Liebertwolkwitz genähert und die Reitermassen Murats von dort bis auf die Stadt zurückgeworfen hatte, so daß Napoleon eiligst zum Entsatz zurück nach Leipzig mußte und von Blücher abließ, da gönnte dieser seinen Leuten nicht die so sehr nötige Ruhe, da ging's gleich in Eilmärschen hinter Napoleon her und sofort in den Kampf, kaum daß man sich ein wenig verpusten und abkochen konnte! Wobei Bernadotte, wie immer, sein Bestes tat, um mit der Nordarmee nicht zu früh zur Stelle zu sein, um helfen zu können.

»Unsere geniale Führung hatte eben so verdreht rekognosziert, daß alles bald schief gegangen wäre – wäre nicht der preußische Soldat eben der preußische Soldat gewesen!« Und er schimpfte auf Blücher los.

Der hatte sich natürlich in den Kopf gesetzt, daß der Feind von Osten über das Plateau von Breitenfeld angreifen würde, statt aus dem Süden von Leipzig aus, wie er's auch nachher wirklich tat. Er stellte also die ganze Armee mit der Front gen Osten auf, wobei das Yorcksche Korps den Feind an der rechten Flanke zu fühlen bekam, rechts drehen mußte und vom Korps Langeron abkam, das in der alten Richtung gegen die paar Feinde, die dort standen, weiter vorging. Da das Korps Sacken als Reserve zurückgeblieben war, mußte also Yorck allein den Hauptkampf ausfechten.

Das ganze Korps des Marschalls Marmont stand da um und hinter dem an der Elster liegenden Dorfe Möckern als Gegner und verteidigte seine Stellung mit der äußersten Hartnäckigkeit.

Um jedes Haus, um jedes Gehöft wurde Mann gegen Mann gekämpft, die Landwehrleute schlugen mit dem Kolben drein, das Dorf wurde wiederholt erobert und ebensooft verloren, die feindliche Artillerie warf ganze Reihen von den Angreifern nieder. Yorcks Brigaden schmolzen hin wie Schnee an der Sonne.

Aber er ließ nicht locker, wo er einmal angefangen hatte.

Als er seine letzten Infanteriereserven verbraucht hatte, gab er endlich der Kavallerie Befehl zur Attacke.

Mit lautem Hurra und Trompetengeschmetter sausten dann die brandenburgischen Husaren unter Major Sohr in den Pulverqualm hinein, die brandenburgischen Ulanen folgten, die litauischen Dragoner unter dem Grafen Henckell ebenso, und dann alles, was noch an Kavallerie da war. Mit verhängten Zügeln ging es auf die feindliche Stellung los, zwischen die Batterien hinein, die Artilleristen wurden umgeritten und niedergesäbelt, die Karrees zusammengehauen, und alles, was noch Leben und Atem hatte, in wilder Flucht und immer zunehmender Auflösung vor den Pferden hergetrieben.

Alles, was Yorck noch an Truppen verfügbar hatte, ließ er jetzt zur Verfolgung vorrücken. Die Tamboure schlugen den Sturmmarsch, und Ostpreußen, Schlesier, Mecklenburger und Brandenburger taten ihr Bestes, um die Niederlage des Feindes so vernichtend wie möglich zu gestalten.

»Das sind alles die ›Feiglinge‹ von Jena gewesen!« sagte Yorck noch einmal, als er mit dem jungen Rittmeister die Einzelheiten des Kampfes durchgesprochen hatte. »Aber noch so'n Tanz, und ich habe keine Leute mehr! Mancher Mutter Sohn hat heute die Erde küssen müssen! Zu viele waren's, – – zu viele!«

»Dafür soll das Korps nun auch Ruhe haben!« antwortete der Rittmeister, und meldete zugleich, daß das Korps Yorck am nächsten Tag nach Wahren zurückkehren sollte, um sich da neu zu formieren, und daß die Russen unter Sacken dafür in die Schlachtlinie einrücken würden.

»Der Teufel auch!« rief Yorck zornig. »Das Schlachtfeld, das wir gegen den Feind behauptet haben, behaupten wir auch gegen die Freunde. Das werden wir wohl den Russen überlassen?! Nimmermehr!«

Der Rittmeister erwiderte, er hätte selbst Gneisenau die Disposition diktieren hören. Wobei Yorck in Wut kam und eine ganze Reihe von Grobheiten gegen Gneisenau losließ, von dem das wieder nichts als bodenlose Niedertracht wäre.

Da klang von einem der Biwakfeuer das alte Lied: »Nun danket alle Gott!«

Am nächsten Feuer wurde der Gesang aufgenommen und pflanzte sich so weiter von Feuer zu Feuer über das ganze blutgetränkte Feld, bis es, von Tausenden von Stimmen getragen, gewaltig anschwoll, in machtvollen Klängen alle anderen Geräusche verschlang, wieder abnahm, in sich zusammensank und verstummte.

Yorck hatte seinen Hut abgenommen und stand da, still, gebeugten Hauptes, und lauschte auf das Lied, bis es aufhörte. Dann sprach er seinen alten Lieblingsspruch leise vor sich hin: »Anfang, Mitte und Ende, Herr Gott zum besten wende!«, setzte seinen Hut auf und verabschiedete den jungen Rittmeister mit dem kurzen Befehl: »So, nun gehe Er an seinen Dienst!«

Auf einem anderen Platz des Schlachtfeldes stand noch jemand mit entblößtem Haupt und sang das Danklied mit. Es war Blücher.

Während seine Generalstabsoffiziere die Schreibarbeit versahen und die Dispositionen für den nächsten Tag ausfertigten, während Isegrim schimpfte und nörgelte, machte er praktische Arbeit und legte selbst Hand an die Bergung und Unterbringung der Verwundeten.

Jedes Leben, das er hier noch retten könnte, würde er hüten wie eine große Kostbarkeit. Seine Tapferen hatten durch ihren Heldenmut heute vielleicht das Zünglein der Wage auf Sieg gerückt, und nichts wäre zu kostbar, um das zu lohnen.

Denn, er fühlte es, er war zur rechten Zeit mit ihnen hergekommen.

Drüben, jenseits Leipzigs, hatte es den ganzen Tag gewaltig gedonnert. Bei der Schlamperei der Hauptarmee und mit der ganzen Hauptmacht Napoleons gegen sich, hatte man wohl dort keinen entscheidenden Erfolg errungen. Aber auch keine Niederlage erleiden können, nachdem es Blücher gelungen war, hier bei Möckern Marmont festzuhalten und ihn daran zu hindern, zur Unterstützung zu eilen.

Wäre nur die Kronprinzenarmee zur rechten Zeit hier eingetroffen! Hätte Bernadotte nur seine Pflicht getan – da wäre es möglich gewesen, auch die beiden russischen Korps der Schlesischen Armee bei Möckern einzusetzen, statt sie nur als Sicherung gegen mögliche Überraschungen aus der linken Flanke aufzustellen! Dann hätten seine Preußen sich nicht verbluten müssen!

»Kinder, wer heute abend nicht tot oder wonnetrunken ist, der hat sich geschlagen wie ein Hundsfott!« hatte er vor Beginn der Schlacht seinen Leuten zugerufen.

Und sie hatten sich wie Helden geschlagen.

Manch sangesfroher Mund war verstummt für immer. Aber die noch da waren, sangen um so froher.

Während des Gesanges war alles still geblieben. Auch ein paar Leute, die auf einer aus zusammengelegten Gewehren zurechtgemachten Bahre einen verwundeten Husaren trugen, blieben gerade vor Blücher stehen, setzten ihre Bürde ab, entblößten ihre Häupter und sangen mit.

Blücher blickte hin. Es war ein Graubart wie er selbst. Er lag da in der Uniform der schwarzen Husaren, unbeweglich ausgestreckt, und stöhnte leise.

Blücher ging hin, legte seine Hand auf den Arm des Verwundeten und fragte nach seinem Befinden und seinem Namen.

»Krause! Auch früher bei den Bellingschen gedient!«

»Der Tausend auch! Da sind wir wohl alte Kriegskameraden?«

»Zu Befehl, Exzellenz! Ich war's ja – der damals – am Kavelpaß – Exzellenz wissen wohl noch –?«

Blücher schmunzelte.

»Ob ich's noch erinnere! Du warst es also, der mich gefangennahm?! – Sieh nur! Das war gescheit von dir! Da hast du mir einen großen Gefallen getan, mein Sohn! Dafür sollst du auch heute in meinem Bett schlafen! Ich geb's dir ab. – Krause also?! Früher hießt du wohl anders! – Ich meine, das letztemal, als wir von jener Begebenheit miteinander sprachen, da war dein Name – –? Nun, gleichviel, wie er war! Du bist ein Husar, du hast dich brav geschlagen – sollst es denn auch genau so gut haben wie dein General! Tragt ihn in mein eigenes Quartier, Kinder!«

Die Träger griffen zu. Als sie aber die Bahre hoben, setzte sich der Verwundete mit Aufbietung seiner letzten Kraft auf, starrte Blücher groß an, seine Lippen bewegten sich, suchten nach Worten, das ganze Gesicht arbeitete in Angst.

Schließlich gelang es ihm.

»Es ist wahr – ich war's – ich –«

Und dann sank er zurück, der Kopf fiel hintenüber, die Augen quollen vor, ein blutiger Schaum trat auf die Lippen.

»Der Tausend!« sagte Blücher ergriffen. »Kaum finde ich meinen Solofänger wieder – da ist er hin! Hattest du es aber eilig, mein Sohn!«

Er beugte sich über den Toten und legte die Hand auf seine Stirn.

An den Wachtfeuern der Russen ging der Tanz weiter. Und drüben stieg der letzte Vers vom Fähnrich, der in den Krieg zog:

»Am Grab sang dann eine Nachtigall:
widibum fallera, juchheirassa!
Am Grab sang dann eine Nachtigall
ob seiner Tapferkeit –
ob seiner Tapferkeit!« –

*

»Der Kerl denkt, weil er mich einmal bei Lübeck zur Kapitulation brachte, wird er's jetzt immer wieder tun! Der Teufe! auch!« fluchte Blücher und peitschte sein Pferd vorwärts, daß seine Begleiter, Prinz Wilhelm und Major Rühle von Lilienstern, kaum folgen konnten.

»Dem Faultier werde ich schon zeigen, wo König David sein Bier holte! Ich werde dem Monsieur Polka tanzen lernen, daß es nur so eine Art hat! Den Kerl haben die hohen Herren zum Kriegsrat in Trachenberg berufen und mit ihm den ganzen Kriegsplan beraten – mit mir nicht! Dazu war ich ihnen nicht gut genug! Aber zum Eseltreiber – hol's der Teufel!«

In vollem Trabe langten die Reiter in Breitenfeld, nördlich von Leipzig, an. Auf dem höchsten Punkt des sanft gewellten Geländes hielten zwei andere Reiter in glänzenden Uniformen, mit blaugelben Straußfedern an den Hüten.

Es waren Bernadotte und sein Adjutant.

Sie waren nicht etwa damit beschäftigt, das Terrain für den Aufmarsch auf das Schlachtfeld um Leipzig zu untersuchen. Der Kronprinz, der nun auch schwedische Geschichte lernen mußte, ließ sich über die berühmte Schlacht Vortrag halten, die Gustav Adolf einmal, während des Dreißigjährigen Krieges, dem General Tilly auf eben diesem Boden geliefert hatte.

Sie waren eben damit so weit gediehen, daß die Sachsen, auf dem linken Flügel der schwedischen Aufstellung, vor dem Stoß der Wallonen Tillys in wilder Flucht davongejagt waren; die Finnen unter Horn, die blauen und gelben Regimenter unter des Königs eigener Führung stürmten gerade gegen die Anhöhe hier oben an, von wo die schwere Artillerie Tillys Tod und Verderben in die Reihen der Schweden säte – das Schlachtenglück wandte sich eben den Schweden zu, die Worte des Adjutanten wurden immer hochtrabender, die Luft war von »Siegesfahnen schwül« – da galoppierte gerade Blücher mit seinen Begleitern in die Geschichte hinein und warf die Forderungen des Tages in die Bresche – die glorreichen Gestalten der Weltgeschichte verblaßten vor den blut- und lebenstrotzenden der Gegenwart und wurden schmählich in die Flucht geschlagen – Klios Griffel sank – die Muse der Geschichte verhüllte ihr Haupt – kurz: der Adjutant hielt sein Maul, und Mars beherrschte in Blüchers Person die Stunde.

Blücher hielt, atemlos von dem schnellen Ritt, vor Bernadotte, sagte: » Bon jour!« und: »Wie geht's?« trocknete sich den Schweiß aus der Stirn, winkte Major Rühle schnell näher und schrie ihm mit heiserer Stimme zu: »Sagen Sie ihm, daß es höchste Zeit ist – höchste Zeit!«

» Qu'est-ce qu'il dit?« fragte Bernadotte etwas nervös wegen der unerwarteten Unterbrechung seiner Geschichtsstudien.

»Sagen Sie ihm, es ist die höchste Zeit!« schrie Blücher noch kratzbürstiger. »Er soll seiner Armee Marschbefehl geben! Er soll sofort über die Parthe gehen und auf den Feind einhauen! Die Schlacht beginnt, wir warten schon seit Sonnabend früh vergebens auf den Monsieur – heute ist's Montag, und er steht erst hier weit hinter uns! So'n Schneckenkriechen angesichts des Feindes war noch nicht da!«

Der Major Rühle von Lilienstern verdolmetschte die Befehle seines Obergenerals und tat es mit vielem Zartgefühl. Er verstand es, den temperamentvollen Ausbruch Blüchers in so tadellose Form zu kleiden, daß die erstaunt gehobenen Brauen Bernadottes wieder in die normale Lage sanken.

Durch eine Neigung des Kopfes gab er zu erkennen, daß er begriff.

» Un moment!« sagte er dann und fragte, sich an seinen Adjutanten wendend: »Wo waren wir eigentlich? – Die schwere Artillerie Tillys stand also auf dieser Anhöhe? Und Gustav Adolf machte dort drüben eine Linksbewegung, um sich der drohenden Überflügelung zu entziehen – n'est-ce pas? Er setzte sich an die Spitze seiner ›Blauen‹ und seiner ›Gelben‹ – – –«

Und so ließ er ungeniert die berühmte Schlacht bei Breitenfeld im Dreißigjährigen Kriege weitergehen, trotz der schon mit voller Gewalt um ihn tobenden Leipziger Völkerschlacht. Denn ein rechter Schlachtenlenker läßt sich durch nichts verblüffen und verliert niemals seine Ruhe.

Blücher, der immer noch kein Französisch verstand, blickte bald Prinz Wilhelm, bald Major Rühle an, die nur schwer ihre Munterkeit verbeißen konnten, und fragte: »Was redet er? Er spricht von Gustav Adolf! Er redet von Tilly! Was gehen die mich an? Die sind alle beide längst vermodert! Heute heißt's Napoleon oder kein Napoleon! Und der Monsieur dort soll mir Antwort auf meine Frage geben, warum er mich im Stich läßt?! Auch eine Zumutung vom Großen Hauptquartier, mich, der ich kein Wort Französisch kann, mit einem General zusammenzukoppeln, der kein Deutsch spricht! Weder kann er mich, noch kann ich ihn kommandieren! Was mache ich nun mit dem Kerl? Auf so'ne hahnebüchene Idee konnte nur ein Französling wie Knesebeck kommen!«

Bernadotte unterbrach noch einmal die Schlacht bei Breitenfeld, ritt an Major Rühle heran und fragte höflich nach den Wünschen des Generals von Blücher. Und ob ihm etwas zugestoßen wäre? Er wäre ja so aufgeregt!

Major Rühle gab denn aus eigenem dem Kronprinzen Bescheid über den Anlaß zum frühen Morgenritt, nämlich: den Kronprinzen zu bewegen, mit der Nordarmee schnellstens über die Parthe zu gehen, östlich von Leipzig in die Lücke zwischen der Hauptarmee und der Schlesischen Armee einzurücken und so zu helfen den Ring um Napoleon zu schließen und ihn dann mit aller Macht anzugreifen.

Bernadotte schüttelte den Kopf. Er war mitten in der Kriegsgeschichte drin, die andere gemacht hatten. Und nun stellte man plötzlich die Forderung an ihn: er solle selbst Geschichte machen! Geschichte demonstrieren, ja, damit könnte er dienen! Und damit fing er denn auch richtig an.

Er wies nach, daß derartige Einkreisungsmanöver in der Geschichte selten oder niemals gelungen wären. Sie waren in den meisten Fällen nur zum Nachteil des Angreifers ausgefallen! Und jetzt, mit einem Gegner wie Napoleon, und ohne ihm einen zweiten Napoleon entgegenstellen zu können, das wäre aussichtslos! Dem Hannibal war das einmal bei Cannä gelungen, aber auch ihm nur das eine Mal!

Und Napoleon! Der kannte dies Terrain besser als jeder andere – ja besser als die Einheimischen selbst! Der hatte, als junger Mensch, Europas Karte buchstäblich in sich hineingefressen! Sein Gehirn trug sämtliche Berge, Flüsse und Täler des Kontinents im Abdruck! Städte, Flecken, Burgen, Schlösser, Wege, Defileen – alles hatte er im Kopfe! Es existierte nichts, worüber er nicht Bescheid wußte! Er war ein Genie in der Ausnützung aller Möglichkeiten! Gerade da, wo man es am wenigsten erwartete, sausten seine Schläge nieder mit der Plötzlichkeit eines Donnerschlages! Nun, man würde ja sehen! »Hier, im Norden, wird er durchzubrechen suchen, wenn ich ihn recht kenne«, setzte der Kronprinz seinen Vortrag fort. »Alles spricht dafür! Er muß nach Norden debouchieren! Den Plan, auf Berlin zu gehen, hat er nur scheinbar fallenlassen! Er hat ja noch die wichtigsten Elbfestungen: Dresden, Magdeburg, Hamburg. Er hat an der Oder: Küstrin, Stettin – hat Danzig, hat große Garnisonen überall, mit denen er sich verstärken und unserer Herr werden kann! Er wird hier an Breitenfeld vorbei durchbrechen – und mir zugleich meine einzige Rückzugslinie auf Stralsund abschneiden. Dem kann ich mich nicht aussetzen. Er würde mich einkreisen! – Nun – mit dem Kronprinzen von Schweden würde er einen ganz guten Fang tun!«

»Geb Gott, er nähme ihn! Wir geben ihn ihm mit Kußhand wieder!« sagte Blücher grob, als Rühle ihm das alles verdolmetscht hatte. Es kochte in ihm vor Wut, seine kostbare Zeit mit solchem Tratsch vertrödelt zu sehen, und er schrie noch hochrot im Gesicht vor Zorn: »Der Kronprinz denkt wohl am Ende, wir haben ihn uns kommen lassen, damit er uns den Napoleon erklärt und uns angst und bange vor ihm macht?! Herr, solche Bangbuxen haben wir ohne ihn mehr als genug. Wir brauchen nicht noch einen zu importieren! Er soll seine Pflicht tun! Er soll sich auf seinen Platz in der Schlachtordnung begeben und sich schlagen, wie's einem Mann geziemt! Basta!«

Major Rühle übersetzte das in parlamentarische Ausdrücke und behauptete mit eiserner Stirn: der General ließe den Kronprinzen doch freundlichst bitten, seiner Armee Befehl zum Aufmarsch zu geben. Worauf Bernadotte, der sich Blücher gegenüber in der glücklichen Lage eines Tauben befand, der nichts zu verstehen brauchte, artig antwortete: er wäre gern – und besonders seinem alten Freunde Blücher gegenüber – gefällig! Jedoch die Klugheit gebiete ihm, lieber hinter dem linken Flügel der Schlesischen Armee stehenzubleiben, um Napoleon in die Flanke zu fallen, falls er hier durchbrechen sollte.

»Faule Ausreden, Herr!« schrie Blücher ihn jetzt direkt an. »Der Herr Napoleon soll eben keine Löcher zum Durchbrechen haben! Die sollen ihm verstopft werden, und dann wird er in die Pfanne gehauen! Verstanden?! In drei Teufels Namen, Rühle, mache Er's doch dem Kerl verständlich! Aber wörtlich und ohne Umschweife!«

Das machte der Major, aber immer noch in seiner gewohnten diplomatischen Weise. Worauf Bernadotte antwortete: Es wäre gescheiter, wenn Blücher mit seiner Armee, die doch am weitesten vorn stünde, sich nach links schieben würde und ihm überließe, mit der Nordarmee in seine Stellungen einzurücken.

»Das ist 'ne Unverschämtheit!« schrie Blücher. »Das Schlachtfeld, das ich und meine Armee mit unserem Blute getränkt haben, sollten wir, bloß zu seiner Bequemlichkeit, dem Laffen überlassen! Hol' ihn der Teufel, aber wenn er mir mit derartigem kommt, kann er noch an mir etwas erleben!«

Prinz Wilhelm legte sich jetzt ins Mittel und beruhigte den Alten. Inzwischen wurde Blüchers Ablehnung ins Französische übertragen. Und in der Sprache klingt ja alles viel höflicher und liebenswürdiger, als es gemeint ist!

Bernadotte verschloß sich nicht den guten Gründen, die Blücher für seine Ablehnung anführte, und erklärte sich schließlich bereit, den Linksabmarsch vorzunehmen und noch heute in die Schlacht einzugreifen, wenn Blücher ihm 30 000 Mann seiner Armee noch unterstellen würde. Das ganze Korps Langeron verlangte er von Blücher zu seiner Verstärkung. Er wollte dann gleich eine Meile flußaufwärts gehen und bei Taucha, wo gute Brücken waren, die Parthe überschreiten.

»Da kommt er doch erst nachmittags an den Feind heran«, rief Blücher, sich wieder ereifernd. »Wie kann einer so saudumm sein? Geradeswegs durch den Fluß soll er! Sag's ihm doch, Rühle! Geradeaus von hier geht sein Weg! Das weiß der Gauner ebensogut wie ich! Er will sich nur drücken! Herrgottsakra! Das ist nicht mehr Dummheit! Das ist Niedertracht! Ich werde ihm die 30 000 Mann geben! Er soll sie haben um des lieben Friedens Willen, damit er endlich aus dem Krieg Ernst macht! Ich schlage mich ebensogut mit dem Rest allein! Aber er soll zumachen! Sofort auf der Stelle vorwärts! Das ist Bedingung! Sonst nehme ich ihm gleich meine Leute wieder fort!

Bernadotte blickte fragend auf den Major. Er verstand, daß Blücher einwilligte, aber auch, daß er schimpfte.

»Der General ist so ungeduldig«, bemerkte er herablassend. »Er hat's wohl eilig? Nun gut! Gehen wir gleich in mein Quartier, setzen wir auf der Stelle unsere Vereinbarung schriftlich auf!«

Aus dem Süden von Leipzig hörte man jetzt schon Kanonendonner, und Blücher konnte kaum noch seine Ungeduld meistern, während Rühle ihm Bernadottes Worte übersetzte.

»Schriftlich will der's auch noch?! Der Teufel auch! Es ist schon zuviel, wenn ich's ihm mündlich versprochen habe! Er soll mir den Puckel herunterrutschen!«

Womit er sein Pferd herumwarf und ohne Abschied davongaloppierte.

Der Prinz und Rühle verabschiedeten sich in aller Form von Bernadotte, bestätigten ihm Blüchers Einwilligung und setzten dann dem alten Hitzkopf nach!

Blücher hielt unterwegs plötzlich an.

»Rühle!« rief er. »Erst befehlen Sie Langeron, sofort geradeswegs über die Parthe zu gehen! Nachher, wenn wir ihn da haben, wo wir ihn haben wollen, dann erst sagen Sie ihm, daß er heute seine Befehle vom Kronprinzen von Schweden zu nehmen hat. Dann kann uns nichts mehr passieren!«

Sie ritten weiter.

»Rühle!« sagte Blücher noch im Reiten, und ein spitzbübisches Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Zu Befehl!«

»Wenn Er mir den Dolmetscher macht, da nützt einem ja das ganze Schimpfen nichts! Ich habe schon sein Scharwenzeln bemerkt! Er ist ein Filou! Ich werde noch Französisch lernen müssen. Wie heißt denn Donnerwetter auf französisch – zum Donnerwetter?! Raus damit, daß ich dem Kronprinzen wenigstens das direkt an den Kopf werfen kann!«

»Die Franzosen haben das mit dem Donnerwetter nicht, Herr General!«

»Nun, mit denen ist eben nichts los! Da wollen wir es ihnen einmal beibringen! Und nun vorwärts!«

*

Es war am Montag, dem 18. Oktober 1813.

Auf dem Colmberg hinter Liebertwolkwitz, südlich von Leipzig, ging es lebhaft zu.

Dort war für den heutigen Schlachttag der Monarchenhügel, von dem aus die drei verbündeten Herrscher Österreichs, Preußens und Rußlands den Fortgang der Schlacht beobachteten, oder wie sie dachten – leiten wollten.

Drei nebeneinander aufgepflanzte Standarten in den Farben der Monarchen bezeichneten den Standort der Allerhöchsten Dreieinigkeit.

Adjutanten, Ordonnanzen und Stallmeister eilten hin und her und brachten Meldungen oder empfingen Weisungen. Auf kleinen Tischen lagen Karten und Bestecke ausgebreitet. Furiere und Lakaien packten die Frühstückskörbe aus, entkorkten Weinflaschen und bereiteten, an rasch gemachten Feuern, den Tee. Im Hintergrund wurden die Hohen und Allerhöchsten Leibpferde hin und her geführt.

Ganz vorne lagen in drei bequemen, etwas auseinandergerückten Feldstühlen die drei Gewaltigen, von Generalstabsoffizieren aufgewartet, die den erklärenden Text zum Schauspiel sprachen und die Befehle der Majestäten empfingen, wenn ihnen Eingebungen von oben kamen.

Ein glänzendes Gefolge bildete den Hintergrund zur Monarchengruppe und gleichzeitig die Kulisse, hinter der die Geschäftigkeit der niederen Dienerschaft sich ungeniert breitmachen konnte.

Da waren die königlich-preußischen Generalmajore Freiherr von Hacke und Freiherr von Knesebeck – der k. u. k. Feldmarschalleutnant Ritter von Kutschera, der gleichfalls k. u. k. österreichische Oberstleutnant Graf Waldstein-Wartenberg, der unter seinen Ahnen gar einen Wallenstein hatte, die russischen Generäle Fürst Wolkonsky und Graf Ovaroff, alles gewaltige Helden und Schlachtenlenker, die tausendmal besser wußten, wie auf dem Schlachtfeld alles gemacht werden sollte, als die, die es tatsächlich machten. Zuletzt, aber doch nicht der Letzte im Kreise, der königlich-großbritannische Generalleutnant Charles William Stewart, der geheime Drahtzieher des von England bezahlten, von ihm erlaubten und in seinem ureigensten Interesse geführten Befreiungskrieges, der es mit dem Sturz Napoleons vom Alp der Kontinentalsperre befreien sollte.

Der Kaiser Alexander war in den sieben Jahren seit Tilsit fülliger geworden. Seine jünglingshafte Gestalt war einer gewissen selbstbewußten Männlichkeit gewichen, die noch mehr vom Nimbus eines großen Kriegshelden umstrahlt wurde, seitdem sein Glück ihm den Sieg des russischen Winters über den bis dahin unbesiegten größten Feldherrn seiner Zeit in den Schoß geworfen hatte.

Er war infolgedessen, im Rate der drei Monarchen, die unbestrittene Autorität in allen militärischen Dingen, deren Entscheidung für gewöhnlich den Ausschlag gab.

Er ging heute ganz in der Betrachtung des Schauspiels auf, das sich vor ihm abspielte, übte Kritik und gab Befehle und Anregungen.

Um ihn herum war ein Kommen und Gehen, ein Gewirr von Stimmen, eine Aufregung, eine Verzückung, alles tat, als ob ihm göttliche Offenbarungen zuströmten, und er selbst gab sich auch ungeniert und mit Grazie den Anschein, das Ganze zu leiten.

Der König von Preußen trug immer noch seine alte, verdrießliche, gelangweilte Miene zur Schau und schien von geheimem Ärger über irgend etwas Unaussprechliches geplagt zu sein. Seine Blicke glitten immer wieder musternd über die Uniform des neben ihm stehenden Generals von Knesebeck, zählten die Knöpfe an seiner Hosennaht von unten bis oben, von oben bis unten, und er genoß dabei im geheimen die Wonne tödlichen Gekränktseins über die Unverschämtheit Napoleons, ihn bei ihrem ersten Zusammentreffen auf dem Memelfluß zu fragen, ob er all die Knöpfe an seiner Hosennaht immer auf- und zuknöpfen müßte! –

Nun, heute würde dem Korsen wohl das und so vieles andere mit Zinsen heimgezahlt werden!

Kaiser Franz in weißem Uniformrock und roten Hosen, hager und vertrocknet, mit dem langweiligen nichtssagenden Gesicht eines im Staub der Akten am besten gedeihenden Kanzleimenschen, saß aufrecht im dritten Stuhl.

Ihm war's nicht ganz behaglich hier draußen, mitten im Trubel großer Geschehnisse. Ihm wäre viel wohler am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer zu Schönbrunn, wo er nach Herzenslust Randbemerkungen und Verfügungen in all die Gesuche um Gnadenbewilligungen höchst eigenhändig einzeichnen konnte.

So etwas mußte täglich erledigt werden, sonst häufte sich das an! Und kein anderer durfte das besorgen. Wer weiß, was ihm sonst an persönlichem Tratsch verlorengehen würde – und jetzt unwiederbringlich verlorenging, solange er im Felde war!

Die ganze Kriegführung war ihm mit der Zeit herzlich gleichgültig geworden. Es gab am Ende ja doch nur Niederlagen, wie oft man auch siegte! Nach einem Aspern immer ein Wagram! Gegen Napoleon war ja nicht aufzukommen!

»Kutschera!« rief er, und setzte sich noch gerader auf, so daß die Falten in seinem graublassen Gesicht sich in gestrenge, senkrecht verlaufende Parallelen legten. »Schauen's a mal nach mei Reitpferd nach! Ob's auch parat ist? Vorgestern, bei Güldengossa, wär's fast schief gange! Und heut – man kann ja net wisse!«

Sein lieber getreuer Kutschera eilte, sich seines Auftrags zu entledigen. Und der Kaiser blieb solange unbeweglich sitzen, ohne eine Miene zu verziehen, und blickte in die Richtung, in die Kutschera gegangen war, bis er wiederkam und alleruntertänigst meldete, daß alles in Ordnung sei.

Der Kaiser überhörte dabei, ob absichtlich oder nicht, die Frage seines lieben Vetters von Preußen nach dem Inhalt des Briefes, den er am gestrigen Tage von seinem Schwiegersohn Napoleon bekommen hatte.

Kaiser Alexander antwortete statt seiner.

»Der Kaiser Napoleon wird Mitteilungen familiärer Art gemacht haben«, sagte er ablenkend.

»Ihrer Majestät der Kaiserin Marie Louise geht es doch gut?« wandte er sich dann direkt an den Kaiser Franz.

»Wollen das beste hoffen!« antwortete dieser trocken und blickte dann vollkommen teilnahmslos über das Feld hinaus, wo es jetzt anfing immer lebhafter zuzugehen.

»So, jetzt geben's mir halt an Überblick, Kutschera, wie vorgestern alles richtig zugange ist!« befahl er dem Feldmarschalleutnant. »Mir ist's noch nicht ganz klar!«

Kutschera legte los und gab seinem Herrn in kurzen Umrissen zu wissen, was dieser am ewig denkwürdigen Sonnabend, dem 16. Oktober, miterlebt und größtenteils übersehen hatte.

Und Kaiser Franz ließ es ins eine Ohr hinein, durchs andere Ohr hinaus und dachte dabei an das letzte Gesuch, das er noch an seinem lieben Schreibtisch zu erledigen gehabt hatte, ehe er ins Feld ging. Es war das Gesuch einer Postmeisterswitwe gewesen um Niederschlagung ihrer rückständigen Steuern. Das hatte der Kaiser abgelehnt. Denn Steuer muß sein. Wo käme der Staat sonst hin, wenn all die kleinen Leute auf einmal kämen und von ihren Steuern befreit sein wollten!? Sie mußte zahlen wie ein jeder. Aber, in einem Anfall von Großmut hatte der gute Kaiser dem abschlägigen Bescheid eine Zuwendung von zweihundert Gulden aus seiner Privatschatulle beigefügt.

Zweihundert – das war entschieden zuviel gewesen! Hundert hätten es auch getan! Über den Satz ging er sonst nicht hinaus! Dabei müßte es bleiben! Das gäbe sonst Unsummen, die zum Fenster hinausflogen, bei den Tausenden von täglichen Gesuchen!

Während der gute Kaiser solchermaßen über seine Postmeisterswitwe meditierte, fuhr sein lieber, getreuer Kutschera in seinem Vortrag fort und setzte ihm die Stellungen der Franzosen auseinander, die man am sechzehnten angegriffen hatte. Denn die fing man jetzt allmählich an im Hauptquartier zu kennen, nachdem man sich zwei Tage lang die Köpfe gekratzt hatte!

Drüben im zerschossenen und halb abgebrannten Dorfe Wachau, wo jetzt der Prinz Eugen von Württemberg mit seinen Franzosen und Russen stand, hatte Napoleon seine Hauptarmee unter dem Befehl von Murat gehabt. Der rechte Flügel unter Poniatowski war weit zurückgebogen am Pleißefluß entlang bis Connewitz, der linke unter Macdonald von hier, am Colmberg, bis in die Gegend von Klein-Pößna. Das Dorf links, zwischen dem Colmberg und Wachau, war Liebertwolkwitz. Zwischen den beiden Dörfern, am Galgenberg, hatte Napoleon sein Biwak gehabt – –

»Ein ga–anzer Kerl, mei Schwiegersohn!« sagte Kaiser Franz näselnd. Er fand es zwar nicht gerade fesch, aber doch verteufelt überlegen, gerade am Galgenberg zu biwakieren.

Dann fing er wieder an zusammenzurechnen, wie viele Tage er keine Gesuche um Unterstützung erledigt hatte – wie viele Gesuche pro Tag –, wie viele Gulden pro Gesuch, und multiplizierte und addierte und kam zu einer erklecklichen Summe an ersparten Geldern – erspart bloß dadurch, daß er nicht zu Hause am Schreibtisch geblieben war. Und er wurde immer zufriedener mit dem Leben im Felde, das ja sonst nicht seinem Geschmack entsprach.

Dabei ging die Schlacht am sechzehnten in Kutscheras Vortrag weiter, während ihre heutige Fortsetzung vor den nichtssehenden Augen des Kaisers weitertobte. Dieser bekam sie also doppelt, aber genoß sie nur einfach, da ja der heutige Schlachttag noch nicht zum Vortrag befohlen und demgemäß eingerichtet und für den Allerhöchsten Gaumen genießbar gemacht worden war.

»Am sechzehnten,« sagte Kutschera näselnd und die Worte langsam und gemächlich ans Allerhöchste Ohr schleifend, »am sechzehnten fing also Prinz Eugen von Württemberg den Kampf mit achtundvierzig Kanonen an. Von hier aus, vom Colmberge, wo wir jetzt sind, antwortete Napoleon mit einer Kanonade aus hundert Geschützen.

In drei Kolonnen gingen wir vor – in der Mitte, wie gesagt, Prinz Eugen gegen Wachau, links von ihm, drüben, mit seinen Preußen und Russen Kleist gegen Markkleeberg, das dort weiter links an der Pleiße liegt, während unsere Leute unter Feldmarschalleutnant Klenau den Colmberg hier nahmen und Liebertwolkwitz stürmten.

Freilich mußten wir aus allen drei Stellungen gleich wieder heraus, nahmen sie aber noch einmal ein und gingen schließlich wieder zurück.

Die Franzosen waren ja in der Übermacht mit 138 000 Mann, gegen die wir nur 70 000 aufbieten konnten. Denn Fürst Schwarzenberg selbst war drüben weiter links zwischen der Pleiße und der Elster mit 30 000 Mann unter Meerveld vorgegangen und hatte den Feldmarschall Graf Gyulai noch nördlich zwischen den beiden genannten Flüssen vorgeschickt, bis Lindenau, um die einzige Rückzugsstraße Napoleons nach Westen auf Weißenfels abzuschneiden. Na, der Fürst wäre wieder da. Drüben in den Sümpfen war kein rechtes Fortkommen für ihn. Heute haben wir also seine Armee mit hier und außerdem die Reservearmee Bennigsens. Der Kronprinz von Schweden rückt auch noch nordwestlich von der Stadt in die Schlachtlinie, nördlich steht Blücher, der Ring ist also um den Franzosenkaiser geschlossen, er kann nicht heraus, er muß erdrückt werden –«

»Der Gyulai soll zurückgehen!« kam es dann plötzlich mit ungewohnter Schärfe von Kaiser Franz.

Kutschera fuhr zurück.

»Majestät – das hieße doch dem Kaiser Napoleon die Rückzugsstraße öffnen!«

»San's mei Truppen, oder san's net?«

»Gewiß sind sie es –«

»Na, denn sofort einen Adjutanten zum Fürsten Schwarzenberg senden! Der Fürst soll sofort Gyulai mit seiner Truppe aus Lindenau zurückziehen!«

Kutschera verbeugte sich. Der Adjutant wurde expediert.

»Nun erzählen's weiter!«

Kutschera erzählte dann den weiteren Fortgang der vorgestrigen Schlacht, wie Klenau und Gortschakow mit dem rechten Flügel zurückgehen mußten – wie Kleist mit dem linken standhielt, wie dagegen das Zentrum unter Prinz Eugen durchbrochen wurde, als Murat mit achttausend Reitern zur Attacke vorstürmte – wie die französische Reiterei fast bis zum Wachberge hinter Güldengossa vorgedrungen war, wo die Monarchen an dem Tag ihren Hügel hatten, und wie sie allesamt gefangengenommen worden wären, wenn nicht Orlows Kosaken und die russische Gardekavallerie den Franzosen in die Flanke gesaust wären und sie vertrieben hätten.

»Mei Pferd!« rief dann Kaiser Franz plötzlich. »Schauen's a mal wieder nach, lieber Kutschera, ob's auch paratsteht? Und schauen's auch nach der Bedeckung!«

Kutschera beruhigte den Kaiser darüber.

»Am Sonntag auf dem Wachberg war i je net dabei!« sagte der Kaiser. »Aber heute bin i da. Und es kann ja net schade!«

Dann versank er wieder in Gedanken und fand es gar anheimelnd, dazu das Rattern der Flintenschüsse von drüben zu hören. Und Kutscheras langsames Dahererzählen wirkte so ungemein beruhigend dabei – ganz wie wenn man beim Sturm und Unwetter daheim in der warmen Stube sitzt und den Hagelschauer gegen die Scheiben peitschen hört, während im Ofen das Feuer knistert und Großmutter eine gruselige Geschichte erzählt.

Gruselig genug war es ja zugegangen.

Um vier Uhr nachmittags hatte Napoleon bereits den Sieg in der Tasche gehabt, die Angriffe der Verbündeten waren gänzlich zurückgeschlagen, er ließ schon in Leipzig die Kirchenglocken Sieg läuten, befahl Marmont, der nördlich von der Stadt stand, zur Unterstützung herbei und wollte so die Niederlage der Verbündeten vollenden.

Da traf Schwarzenberg von seiner verunglückten Expedition zwischen der Pleiße und der Elster in Wachau ein und brachte die Schlacht zum Stehen. Und von drüben kam Marmont, der sehnsüchtigst Erwartete, nicht. Vielmehr wurde er bei Möckern von Blücher festgehalten und tüchtig zermürbt. Als Napoleon abends am Galgen biwakierte, hatte sich also das Blatt gewendet und Fortuna bereits gegen ihn entschieden, obwohl von den Türmen Leipzigs das Siegesgeläute noch zu hören war. Am nächsten Tag kämpfte er dann nicht wieder, am nächsten Tag verhandelte er, und das war gut. Denn so hatten die Verbündeten Zeit, die Ankunft der Reserven Bennigsens und der Armee des Kronprinzen von Schweden abzuwarten.

»Es war ja auch Feiertag!« sagte Kaiser Franz, der ein frommer Herr war und auf Sonntagsruhe hielt.

»Drüben bei Blücher fingen die Preußen aber trotzdem wieder an und schlugen sich, bis ihnen der Fürst Schwarzenberg den Kampf untersagte«, fuhr Kutschera fort.

Der Kaiser blickte schnell auf und winkte seinen lieben, getreuen Kutschera näher. – Ganz nahe mußte der Feldmarschalleutnant kommen und sich so tief herabbeugen, daß sein Herr ihm ins Ohr flüstern konnte.

Mit einem verschmitzten Seitenblick auf Friedrich Wilhelm, der ganz teilnahmlos in seinem Stuhle saß und ins Leere starrte, flüsterte dann der Kaiser rasch die paar Worte:

»Saupreißen, verfluchte!«

Und Kutschera schmunzelte und nickte Einverständnis. Der Kaiser versank nach dieser Kraftäußerung wieder in behagliche Gedanken. Er freute sich darüber, wie gut er den gestrigen Sonntag zu gebrauchen gewußt hatte. Denn er wäre gern auf die Waffenstillstandsbedingungen Napoleons eingegangen und hätte schon seine Vorschläge angenommen, wenn dabei sein Österreich nur ein paar Provinzen mehr und Preußen ein paar weniger bekommen hätte!

Nun, das könnte noch werden!

Noch war nicht aller Tage Abend! Käme sein Schwiegersohn mit heiler Haut davon, dann – nun – wozu wäre er sein Schwiegersohn? Es ginge ja auch so, in aller Gemütlichkeit und ohne Krieg! – Er hatte es ja schon schriftlich von Napoleon in der Tasche – –

Der Kaiser schmunzelte.

Wie gut, daß der brave Meerveld, der mit Napoleon persönlich so gut stand, sich gestern so geschickt gefangennehmen ließ! Das war alles, was nötig war! Napoleon hatte ihm gleich sein Herz ausgeschüttet und ihn schon am nächsten Tag mit Vorschlägen und mit dem Brief geschickt. Und der Brief, der enthielt nicht nur die geheimen Versprechungen an Österreich, der enthielt auch die Bedingungen – Gegendienste, die verlangt wurden. – –

Der Kaiser fuhr auf.

»Hat man dem Gyulai schon befehlen lassen, von Lindenau zurückzugehen?« fragte er scharf.

»Zu Befehl! Es sind zwei Kuriere an ihn abgegangen!«

»Hoffentlich krepieren's net alle beide unterwegs?« sagte der Kaiser. »Es ist sehr wichtig, Kutschera, sehr wichtig, daß Gyulai den Befehl erhält! Mei Schwiegersohn ist ein ganzer Kerl! Man darf ihn net zur Verzweiflung bringe, dann könnte es uns übel gehe. Man muß ihm goldene Brücken baue. Aus Deutschland muß er wohl raus. Aber sein Reich drüben in Frankreich soll er behalte dürfe. Nun, was denn?!«

Und er schielte rasch nach Alexander hin, der im eifrigen Gespräch mit Fürst Wolkonsky dastand und lächelnd mit den Schultern zuckte.

Ob der Kaiser Alexander ihm das wohl wiedervergelten täte, wenn diese Schlacht fehlginge, was ja schon sein könnte? Ob der's ihm heimzahlen würde, daß er nach der unglücklichen Schlacht bei Austerlitz gleich einen Separatfrieden mit Napoleon machte und sich verpflichtete, die verbündete russische Armee außer Landes zu schicken? Ob der Zar nun seinerseits ihn im Stich lassen würde? Ganz war dem jungen Menschen doch nicht zu trauen!

Kaiser Franz stand auf und ging zu seinem lieben Vetter Alexander hin. Auch der König von Preußen trat hinzu.

Der König war jetzt mit einer Frage geladen und kaute sich bereits die Worte zurecht.

Er nahm den Arm Alexanders und zog ihn zur Seite.

Er hatte ausgerechnet, daß Napoleon schon am sechzehnten hätte kapitulieren müssen, wenn Bernadotte mit der Nordarmee und die Reservearmee Bennigsens rechtzeitig zur Stelle gewesen wären. Man hätte dann annähernd dreimal hunderttausend Mann beisammen gehabt, gegen die Napoleon keine zweihunderttausend aufstellen konnte. Man hatte also eine erdrückende Übermacht.

Und trotzdem ging's nicht recht vorwärts. Die Meldungen bestätigten, was man auch von hier aus mit eigenen Augen sehen konnte, daß die Österreicher, die auf dem linken Flügel unter Hessen-Homburg von Markkleeberg gegen Connewitz vorgingen, gegen Poniatowskis Polen nicht recht vorwärts kamen. Und gegen die Hauptmacht Napoleons bei Probstheida, gerade vor ihnen, konnten Preußen und Russen unter Kleist und Barclay de Tolly auch keine nennenswerten Fortschritte aufweisen, trotz allem Aufwand an Pulver und Blei – von ihrem Heldenmut nicht zu reden. Da kommandierte aber auch Napoleon selbst, und unter ihm Angereau, Victor, Lauriston, Murat, also lauter kriegserprobte Leute. Der König war besorgt.

Er blickte trübe in den Pulverqualm hinein, der über der Ebene lag und aus dem immerfort Blitze herausschossen, vom scharfen Aufbellen der Geschütze begleitet.

Die Trompeten schmetterten, das Gewehrfeuer prasselte wie Hagelkörner an die Fensterscheiben, das Rattern der Trommeln, das Wiehern der Pferde, das Schreien der Sterbenden, das Rasseln der Fuhrwerke, alles vereinigte sich zu einem einzigen ohrenbetäubenden Gedröhn, das über der Gegend lag.

Dann und wann zerriß der Wind die Pulverwolke, und marschierende Truppen, vorspringende Schützenschwärme –, galoppierende Reitermassen kamen zum Vorschein und verschwanden wieder in dem Qualm.

Über dem Ganzen der herrlichste Sonnenschein, der das bis gestern herrschende Regenwetter abgelöst hatte.

Gegen mittag wurde bei den Franzosen eine gewisse Nervosität merkbar. Man schien einen Sturm zu planen, um sich Luft zu schaffen.

Eine Vorwärtsbewegung kam aber nicht zustande. Rückwärts ging es auch nicht. Der ganze Ring der französischen Truppen südlich um Leipzig herum, gegen den die Verbündeten anstürmten, stand noch fest und ohne Wanken da, soweit das Auge vom Colmberg aus blicken konnte.

Die Unruhe drüben deutete also darauf, daß bei den Franzosen von den Schlachtfeldern nördlich und östlich von Leipzig irgendwelche Nachrichten eingegangen waren. Ob günstige oder ungünstige, ob's Ansturm oder Rückzug gäbe, würde sich bald zeigen.

Endlich liefen auch auf dem Monarchenhügel Meldungen ein.

Im Nordosten hatte Langeron mit seinen Russen Ney und Marmont aus Schönefeld an der Parthe auf die Vorstädte von Leipzig zurückgeworfen.

Im Osten griff endlich Bernadotte ein. Seine Preußen unter Bülow hatten Paunsdorf gestürmt und Reynier, der es verteidigte, bis unter die Mauern Leipzigs gejagt.

Dann traf von Bennigsen im Süden die Meldung ein, Holzhausen wäre genommen und Macdonald zurückgetrieben. Dreitausend Sachsen und einige Schwadronen württembergischer Reiterei wären von Napoleon abgefallen.

»Die Nervosität drüben deutet also auf Rückzug!« sagte Kaiser Alexander. »Er hat genug. Er wird die Schlacht abbauen! Wollen nachhelfen!«

Und dann gab er Befehle. Die Adjutanten flogen in alle Richtungen, es kam bald wieder Bewegung in das Ganze –, mit lautem Hurra wurde von allen Seiten wütend gegen das französische Zentrum Probstheida angestürmt, aber umsonst.

Der Feind wich nicht und wankte nicht.

Es galt für ihn den Rückzug zu sichern. Auf der von Kaiser Franz freigegebenen Straße über Lindenau hatte Napoleon bereits Bertrand nach Weißenfels vorausgesandt, um Brücken über die Saale zu schlagen. Und jetzt, bei beginnender Dämmerung, fingen die französischen Kolonnen schon an, sich über den Ranstädter Seitenweg aus der Stadt hinauszuschieben, und schlüpften so allmählich Regiment für Regiment aus dem feuerspeienden Ring heraus, den die verbündeten Truppen um sie geschlagen hatten.

Napoleon gab also die Schlacht verloren.

Freudestrahlend galoppierte Schwarzenberg mit der Siegesnachricht heran. Und die drei Monarchen sanken bewegt in die Knie und dankten inbrünstig dem Himmel für den Sieg, den ihnen ihre Völker mit ihrem Blut und Aufopferung von Leben und Gesundheit erstritten hatten. Sie schoben somit dem Himmel diese Tat zu und waren alsdann der Pflicht überhoben, ihren Völkern dafür zu danken.

Die Völker hatten einfach ihre verfluchte Pflicht und Schuldigkeit getan. Die konnten dann, nach glücklich beendigter Löwenjagd und Erlegung des Wildes, wieder an die Kette gelegt werden, damit sie kein Unheil anrichteten und nicht am Ende jetzt, nachdem sie Blut geleckt und die Freiheit von fremder Tyrannei erstritten, auch noch der heimischen los und ledig sein wollten.

Drüben hinter Probstheida, an der Tabaksmühle, saß in der Dämmerung müde und zusammengebrochen der gefallene Herr der Welt am Biwakfeuer.

Um ihn herum wankte alles. Sein ganzes Werk – der stolze Bau seines Weltreiches, von keiner inneren Notwendigkeit getragen, von seinem Ehrgeiz nur und durch die Macht seiner gewaltigen Persönlichkeit zusammengekittet, drohte zusammenzustürzen. Stück für Stück bröckelte es bereits ab und würde am Ende ihn selbst unter seinen Trümmern begraben.

Und was bliebe davon übrig?

Der Fluch der Geknechteten, der Ruhm unsterblicher Heldentaten –, Verarmung, Entvölkerung, Hunger und Elend überall, wo er seinen Fuß hingesetzt hatte. Kein Funken Liebe schlug ihm entgegen aus dem ganzen Rund seines Riesenreiches, kein menschliches Gefühl des Dankes, nur kühle Bewunderung und unermeßlicher Haß.

Wer Haß sät, erntet Haß. Rücksichtslos waren seine Schläge auf die Völker niedergesaust, hatten Gutes und Schlechtes miteinander niedergerissen und Neues dafür aufgebaut! Aber auch das nur mit Gewalt! Gewalt war der Anfang, Gewalt das Ende.

Ob er wohl aus dem Chaos sich noch ein Stück des Ganzen retten und dort wieder anfangen könnte, Neues zu schaffen?

Ob er wohl würde anders als bisher walten können? Sich selbst umschaffen?

Er schüttelte den Kopf. Die Lippen zogen sich zu einem spöttischen Lächeln zusammen. Er blieb, der er war. Noch war nicht alles verloren, noch war auf eine Wendung des Glücks zu hoffen! – –

Eine Granate schlug sausend in das Biwakfeuer und überschüttete ihn mit glühenden Kohlen und Asche. Das Feuer erlosch.

Er fuhr auf.

Die Nacht sank. Der Lärm der hinsterbenden Riesenschlacht legte sich allmählich. Ringsumher flammten die Biwakfeuer der verbündeten Gegner auf.

Er befahl seinen Wagen, warf sich in die Ecke und gab Berthier Befehl, den allgemeinen Rückzug anzuordnen. Selbst wollte er noch im Hotel de Prusse in Leipzig ein paar Stunden ausruhen und dann nach Weißenfels vorausfahren, nachdem er sich vom König von Sachsen verabschiedet hätte.

Die Rheinbundtruppen unter Macdonald und die Polen Poniatowskis sollten bleiben, die Stadt verteidigen und den Rückzug der Franzosen sichern. Dazu waren sie gut genug.

Am nächsten Morgen drangen die Verbündeten in Leipzig ein. Zuerst die Königsberger Landwehr durch das Grimmaische Tor. Dann Blücher an der Spitze seiner russischen Regimenter in die Hallesche Vorstadt. Yorcks halb aufgeriebenes Korps, das durch seinen entscheidenden Sieg bei Möckern das Schlachtenglück zugunsten der Alliierten gewandt hatte, durfte, zum großen Leidwesen seiner tapferen Preußen, nicht am Schlußsturm auf die Stadt teilnehmen.

Es war nach Halle vorausgeschickt worden, um dort die Saaleübergänge zu besetzen, eine Maßnahme, in der der alte Isegrim nichts als eine Niedertracht Gneisenaus sah, dessen Annäherungsversuch er schnöde abgewiesen hatte. Er hatte Gneisenaus Glückwünsche zum Siege bei Möckern mit einer schroff abweisenden Bemerkung beantwortet. Worauf Gneisenau sich zu der Äußerung verstieg: »mit Yorck verträgt man sich am besten, wenn man mit ihm verfeindet ist!« und ließ seinerseits nichts daran fehlen.

Mit dem üblichen Gepränge und Tamtam hielten der Kaiser von Rußland und der König von Preußen ihren Einzug in die eroberte Stadt. Kaiser Franz blieb – wohl aus Familienrücksichten – der Siegesfeier fern. Der besiegte Franzosenkaiser hatte ihm wohl wiederholt die vernichtendsten Niederlagen und die beschämendsten Friedensbedingungen aufgenötigt. Aber – er war halt sei Schwiegersohn geworde! Und – man konnte ja net wisse!

Der Einzug der beiden anderen Monarchen war dafür um so eindrucksvoller.

Überall, wo ihre Kavalkade durchkam, lagen Tote und Verwundete. Pferdekadaver, zerbrochene Lafetten, Pulverkarren und Marketenderwagen sperrten fast die Straßen. Die Glocken läuteten, die Häuser flaggten, aus allen Fenstern ertönte Freudengeschrei und begeistertes Winken. Hurrarufe, Böllerschüsse und der Gesang der einziehenden Regimenter mischten sich mit dem Gestöhn der Sterbenden und den Hilferufen der Verwundeten.

Auf dem Markt vor dem ehrwürdigen Rathaus war große Parade, Beglückwünschung der Monarchen, Belohnung der nicht gefallenen Helden, Beförderungen, Ordenssegen und Gnadensonne. Ein jeder bekam, was sein Herz begehrte, und alles schwamm in Wonne.

»Die zwei großen und schönen Tage sind verlebt,« schrieb Blücher an seinen Freund Bonin, »den 18. und 19. Fihl der große Coloß wie die Eiche vorm Stuhrm, er der große Tiran hat sich gerettet, aber seine Truppen sind in unsern henden. Poniatoffsky wurde Blessirt und ist ertrunken, man glaubt Angerau desgleichen, Rennie und Lauriston sind gefangen, der erste ist Blessiert, den 19. wurde zu ende des kampffes Leipzig mit Stuhrm und großer uf Opffrung genomen, man wollte Leipzig in brand schißen ich wider setzte mich die Russischen Batterien und sie durften nur mit kugell Schißen. – an meiner seitte drank die Russische Infanterie zu erst in die Stadt, an der anderen seitte die braven Pomern, es wahr ein kampff ohne gleichen, 100 Canonen sind in Leipzig genomen, unsere monarchen, daß heist der ostreische, der Russische kaiser und unser könig haben mich uf öffentligen margte gedankt Alexander drückte mich ans HErtz.«

Und an sein Malchen schrieb der zum Generalfeldmarschall Beförderte, »als Frau Feldmarschallin mußt du nun anstendig leben und sey nur nicht geizig und laß dich was abgehen! – – mit die ordens weiß ich mich nun kein Naht mehr ich bin wie ein alt kutsch Perd behangen, aber der gedanke lohnt mich über alles, daß ich derjenige wahr der den übermütigen tihrannen demütigte.«

Alles jubelte, alles feierte in den überschwenglichsten Ausdrücken den Fall des Kolosses, der solange wie ein Alp auf das Leben der Völker gedrückt hatte.

Der Triumph war teuer erkauft, viel zu teuer, wenn man bedenkt, wie viele Tausende von Menschenleben bei größerer Entschlußfreudigkeit und geringerer Unzugänglichkeit der Regierungen hätten gespart werden können.

Leipzig spie wie ein Vulkan Verwundete in alle Richtungen hinaus, wie der amtliche Bericht eines Arztes sagte. Tausende von Verwundeten wurden nach Halle und anderen angrenzenden Städten von den Schlachtfeldern um Leipzig gebracht. In Leipzig selbst lagen mindestens zwanzigtausend von allen Nationen.

In dumpfen Spelunken, wo kaum zu atmen war, in Kirchen und Schulen, wo der Oktoberwind durch die scheibenlosen Fenster kälteschauernd heulte, lagen die Kranken aufgeschichtet wie die Heringe in ihren Tonnen, alle noch in ihren blutigen Gewändern, ohne Hemden, Bettücher, Decken, Strohsäcke, geschweige denn Bettstellen erhalten zu können.

»Keine Nation ist bevorzugt, alle gleich elend beraten, und dies ist das einzige, worüber sie sich nicht zu beklagen haben«, schreibt derselbe Berichterstatter.

Aufgelaufene, brandige Glieder, gebrochene Arme und Beine, die weder in die richtige Lage gebracht noch geschient und auch nicht amputiert werden konnten aus Mangel an Heilgehilfen und an allen Hilfsmitteln – Kinnbackenkrampf, Starrkrampf, Lähmungen überall – keine Wärter, keine Hilfe, das war der Dank für geopfertes Leben und Gesundheit. Wer nicht aufstehen konnte, mußte im eigenen Unrat faulen.

Im Hofe der Bürgerschule ein Berg aus Kehricht und Leichen, die nackend lagen und von Hunden und Raben angefressen wurden – –

Heldentod nach Heldenleben.

*

Schrum tsim tsim –
schrum tsim tsim –

kratzten die Fiedler lustig und beherzt ihren Bässen, Bratschen und Kniegeigen die ersten drei Schläge des Viervierteltakts ab, daß die Wände wankten und die Kronleuchter klirrten. Der Kapellmeister schlug mit Wucht hinterdrein und hielt seine ungestüm vorwärtsstürmenden Musikanten zurück, was er nur konnte, um das richtige altväterlich gezirkelte Zeitmaß herauszubringen.

Tram taram taram taramta
ramtam tara rara
ramtam tara rara
ramtam – – – – –

zwitscherten und näselten Flöten und Klarinetten. Ihre Töne trippelten hübsch brav neben der altbekannten Melodie einher, die die Primgeiger mit flottem Saltarello in duftigen Umrissen über die Saiten warfen.

Mit unbewußter Grazie, schüchtern und zaghaft, wie wenn ein unschuldiges junges Mägdelein die Fußspitzen züchtig unter dem schützenden Saum ihrer Röcke hervorstreckt, um, die Erde kaum berührend, elfenhaft dahinzuschweben – so präzise, gezirkelt und genau bemessen hüpften die Töne prickelnd hervor, kitzelten die Tanzlust bei alt und jung und brachten den ganzen Saal in Bewegung.

Schrum tsim tsim –
schrum tsim tsim –

Männlein und Weiblein gaben sich die Hände, drehten sich im Kreis, wiegten sich, neigten sich, chassierten nach links, chassierten nach rechts, figurierten, grüßten, lachten, scherzten, vom Licht der tausend Kerzen überflutet, von unzähligen Spiegeln ins unendliche vervielfacht.

Soweit das Auge sehen konnte, Quadrille an Quadrille, streng nach der Regel in ihren Bahnen beharrend und doch in lebhafter Grazie auf dem glatten Parkett lustig und leicht hin und her gleitend.

Bunte Uniformen und schneeweiße Schultern schoben sich zierlich aneinander vorbei. Es war ein Weben, ein Schweben, ein Trippeln, ein Trappeln, ein Klirren von Sporen, ein Blitzen und Funkeln von Sternen und Geschmeiden, bezauberndes Lächeln auf holden Gesichtern, blendende Perlenzähne hinter purpurnen Lippen, zum Beißen und Küssen gleich verlockend, in tiefgründig träumenden Märchenaugen blitzschnelle Abwehr, wenn verstohlenes Drücken und zärtliches Flüstern in heißem Ansturm zu rauben suchte, was erst nach Sitte und Brauch in langer Belagerung erobert werden wollte.

Auf der Estrade an der Längswand stand der König von Preußen mit seinem getreuen Knesebeck und anderen Bevorzugten und blickte zerstreut in das bunte Getriebe.

Ein Lächeln lag über den sonst so griesgrämigen Zügen, und er lauschte belustigt auf die bissigen Bemerkungen, womit das Gefolge meuchlings die Tanzenden bedachte. Ihm bot sich aber auch ein seltsames Schauspiel dar.

Auf dem Ehrenplatz vor dem Thronsessel bewegten sich vier Paare, um die herum sich in achtunggebietendem Abstand ein Ring von Zuschauern gebildet hatte.

Verliebt wie ein junger Leutnant, charmant und geschmeidig, tanzte da Blücher mit dem schönsten Mädchen im ganzen Saal –, ihm gegenüber auf steifen Beinen, würdevoll und ernst, sein alter Waffenbruder und Widersacher Yorck, der sich mühte, recht liebenswürdig zu erscheinen, und dabei verzweifelte Gesichter schnitt. Rechts und links von ihnen vervollständigten Prinz Wilhelm und der Obrist von Katzeler mit ihren Damen die Quadrille. Und Blücher kommandierte, wie sich's gehörte.

» Chassez croisez!
Balancez!
A gauche! –
A droit!
– – –«

kam es mit Donnerstimme unter dem buschigen Schnauzbart hervor, und alles parierte, alles figurierte im ganzen Saal, präzise wie auf dem Paradeplatz, erst im engeren Verband der Quadrillen, und dann, als das Kommando » Grande chaîne!« fiel, zu einer einzigen endlosen Doppelkette vereinigt, die sich in wogender Gegenbewegung um den ganzen Saal ringelte, bis die auseinandergeratenen Pärchen sich wieder zusammengefunden hatten.

»Dem König und Herrn alles Ordensegens spenden wir nun auch einen Stern!« donnerte wieder die Stimme des Feldmarschalls durch den Saal. »Die Kegel ran! Etoile!«

Und in jedes Karree sprang ein junger Offizier hinein, streckte die Hand hoch, die anderen Herren ergriffen sie, und dann ging's in sausender Fahrt um den so geschaffenen Mittelpunkt herum, daß es den Zuschauern auf der Estrade schwindelig wurde.

» Changez les dames!«

In jedem Stern flogen die Damen aus dem Arm ihres Tänzers in den des nächsten und so weiter, bis sie sich wiedergefunden hatten.

»Nun, Exzellenz, warum so steif mit dem Tanzbein?« rief Blücher Yorck zu, der ihm nicht schnell genug vorwärts kam. »Wir sind nicht an der Katzbach, wir sind am Rhein! Da setzt's andere Sprünge! In einer Tour bis nach Paris!«

Yorck fing schon an eine Antwort zu brummen. Blücher schnitt sie ihm aber ab durch ein mit Stentorstimme hingedonnertes: » Grande Polonaise!«

Tram tararam, tam, tam, tam –
tram tararam, tam, tam, tam –

fiel die Musik sofort gehorsamst ein, mit dem gravitätischen Dreivierteltakt der Polacca, und Paar an Paar gereiht, defilierten die Tanzenden mit Anstand und Würde am Thron vorbei und brachten dem gnädig dankenden König ihre Huldigung dar.

Dann wurde Kurs auf die reich besetzten Büfette genommen, um sich dort nach den Anstrengungen des »Feldzuges« zu laben und wieder gefechtsbereit zu werden.

»Bekommen wir bald Frieden, Exzellenz?« lispelte die junge Dame Blüchers und nippte an dem ihr von ihm dargebotenen kühlenden Getränk.

»Ebenso gewiß wie ich heute Geburtstag habe!« antwortete Blücher, der einer jungen Dame gegenüber an alles andere als an Friedensverhandlungen dachte.

»Nun, den feiern wir doch eben!«

»Wir feiern ihn, ja! Aber wir haben heute den vierzehnten Dezember, und ich war so frei, mich erst am sechzehnten auf die Welt befördern zu lassen!«

»Das Glück! Dann können Exzellenz ja übermorgen wieder Geburtstag feiern!«

»Das mache ich mir auch zunutze! Heute hier in Wiesbaden, übermorgen in Frankfurt! Man hat's eben hier mit mir zu eilig gehabt! Und so ist es auch mit dem Frieden! Die guten Leute können es nicht abwarten. Was übermorgen sein soll, nehmen sie schon heute vorweg! Und – wenn wir das nicht zu verhindern wissen – so bekommt der arme Wechselbalg von einem Frieden sein Wiegenfest, ehe er geboren ist, kommt zu früh auf die Welt, taugt zu nichts Rechtem und ist weder dem Sieger noch dem Besiegten zur Freude! Aber, meine Gnädigste, man spielt schon zum Walzer auf! Der Kampf geht weiter. Verlieren wir nicht die Zeit mit Friedensgesäusel! Da stürmt schon unser mutiger Obrist Katzeler zur Attacke heran! En garde! An die Verteidigung!« –

»Der Walzer gehört dem Obristen!« –

»Nun, dann retiriere ich! – Jugend gehört zu Jugend! Aber besiegt erkläre ich mich noch nicht! Küß' die Hand, meine Gnädigste! – Vorsicht, Katzeler! Zu tief in holde Äuglein geschaut, macht leicht straucheln!«

Er blickte dem davoneilenden Paar nach, machte sich dann an das Büfett heran, tat sich gütlich an den dort aufgedeckten Leckerheiten, aß mit einem wahren Bärenhunger und fluchte dabei über den faulen Frieden, mit dem man ihm nach jedem Sieg um die Ohren schlug und der ihm sogar hier im Tanzsaal die Kampfesfreudigkeit verleidete!

Er fluchte respektlos über den König und seine »feigen« Ratgeber, die, Majestät versteht sich ausgenommen, alle miteinander an den Galgen müßten! Immer wieder fielen sie ihm in den Arm, gerade wenn er den Gegner vernichtend treffen wollte. Immer wieder verlängerten sie den Krieg durch ihre Dummheit, Ängstlichkeit und ihre übereilten Maßnahmen! Der Friede wäre längst da und weit vorteilhafter, als sie zu träumen wagten, wenn sie ihm nur nicht immer zur Unzeit mit langgestreckten Hälsen nachliefen!

Aus dem Tanzsaal sprudelten die Melodien herüber, mit heiterem Stimmengewirr und dem Lachen der Tanzenden vermischt. Blücher ging auf die Tür zu. Drüben am Thron standen immer noch der König, der Staatskanzler und ihre Speichellecker.

»Hol' sie der Teufel!« brummte er halblaut. »Denen werd' ich wohl was vortanzen?! Der Kuckuck auch. Zum Tanz aufspielen, das schon eher, wenn sie sich nicht sputen und sich endlich aus dem Dusel aufraffen! Das gibt dann aber eine andere Polka!«

Er verfügte sich nach den entlegenen Sälen, wo fern vom Getaumel trinkfeste Männer Bacchus huldigten. Er tat im Vorbeigehen einen Blick in den Spielsaal, ging aber nicht hinein. Er liebte immer noch das Spiel fast ebenso leidenschaftlich wie die schönen Frauen. Seit Anfang des Feldzuges rührte er aber keine Karte mehr an.

Aufregung und Anregung gab ihm der Krieg zur Genüge. Dazu bedurfte er des Spieltisches nicht!

Er begab sich also in den Keller, nahm unbemerkt im Dunkel einer Nische Platz und ließ sich Wein kommen.

Um den langen Tisch, inmitten des Saales, saßen eine ganze Reihe meistens jüngerer Offiziere mit hochroten Gesichtern in eifrigster Unterhaltung. Sie schimpften, daß es Blücher gar warm ums Herz wurde, und verdonnerten die Diplomaten nach Noten.

»Habt ihr den Metternich gesehen?« rief einer. »Wenn ihr den Fuchs gesehen habt, dann wißt ihr Bescheid. Wir Preußen sollen da immer und immer wieder bluten, nur um den Engländern und den Österreichern die Kastanien aus dem Feuer zu holen! Und nachher werden wir geprellt! Wir haben Napoleon besiegt, haben ihn aufs Haupt geschlagen – und der Herr Metternich hat nichts Eiligeres zu tun, als ihm den Rücken zu steifen! Habt ihr von den Friedensbedingungen gehört, die er jetzt wieder dem Franzmann geboten hat? Friede und Freude, und die Pyrenäen, die Alpen und den Rhein als Grenzen!«

Ein allgemeiner Aufschrei beantwortete die Nachricht.

»Schufte und Gauner sind's, die das befürworten!«

»Es sind hohe Herren, Fürsten und Generäle darunter!«

»An den Galgen mit ihnen!«

»Aufknüpfen das ganze Gesindel! Schwarzenberg und Metternich voran!«

»Sind das Bundesbrüder!«

»Immer hinken sie nach, immer halten sie zurück und tuscheln hinter unserem Rücken mit den Franzosen!«

»Die Österreicher denken nur an ihren eigenen Vorteil! Und den suchen sie in Italien! Da wollen sie sich bereichern! Deutschland ist ihnen gleichgültig!«

»Ob wir frei werden oder nicht, ist denen Wurst!«

»Das ist ein Irrtum! Die Österreicher würden uns gern an Händen und Füßen gefesselt sehen! Nur kein starkes Preußen, nur kein einiges Deutschland! Deshalb paktieren sie und treiben hinter unserem Rücken Kuhhandel mit den Rheinbundfürsten, diesen Verrätern an der deutschen Sache! Sie befestigen jene Könige von Napoleons Gnaden auf ihren Thrönchen, statt sie zum Teufel zu jagen!«

»Ganz recht, und deshalb sollen wir eben nicht ihres Kaisers Schwiegersohn Napoleon kaputt machen dürfen! Deshalb dürfen wir ihm nicht seinen Länderraub nehmen – deshalb ließen sie ihn bei Leipzig entschlüpfen und hinderten uns an der Verfolgung, wo wir ihm so brav an den Fersen hingen. Keinen Mann hätte er heil nach Frankreich zurückgebracht, hätte man uns bei der Stange gelassen! Und die lassen ihn mit ganzen siebzigtausend Mann nach Mainz hinüber!«

»So 'ne Schweinerei war noch nicht da! Die müßten mit Ruten gestrichen werden, die das verbrochen haben!«

»Und jetzt, was machen wir jetzt! Sechs Wochen lang stehen wir schon am Rhein und dürfen nicht hinüber. Unsere Herren Fürsten stehen da und gucken ins Wasser und finden es tief und finden es breit, und schütteln die Köpfe und machen bedenkliche Gesichter. Der König will nicht, der Kanzler will nicht, das Große Hauptquartier will verhandeln, die Russen wollen heim in ihr Land. Keiner wagt den Sprung! Inzwischen wird Napoleon wieder stark – und wir müssen wieder bluten!«

So schrien und tobten sie erregt durcheinander, und der Tabaksqualm legte sich in immer dichteren Wolken über sie und zog in langen Ringeln unter dem Gewölbe hin, durch die Tür hinaus.

Blücher saß unbeweglich in einer Ecke und ließ sich nichts merken.

Am Ende des Mitteltisches, etwas abseits von den anderen, saß allein und schweigend ein großer, starker Kerl in Infanterieuniform und trank in aller Ruhe mit tiefen Zügen einen Schoppen nach dem anderen. Mit jedem Glas wurde sein Gesicht röter und seine Augen stierer. Er schien sich gewaltig zu giften über all das, was die anderen vorbrachten, und kam immer mehr in Wut.

Schließlich fegte er Glas und Kanne vom Tisch herunter, stand auf, zog die Plempe, schwang sie mit beiden Händen hoch über den Kopf und ließ sie mit voller Wucht auf die Tischscheibe niedersausen.

»Borussia!« schrie er, daß es im Saal dröhnte und alles verstummte und sich zu ihm umwandte. »Borussia, wach auf! Von allen Seiten umschleichen dich Feinde! Ringsum lauern falsche Freunde darauf, dich zu knebeln!

Denn du bist das Herz Deutschlands, die Wurzel seiner Kraft, die Quelle seines Blutes und der stählerne Ring, der bestimmt ist, all die deutschen Stämme zusammenzuhalten und stark und mächtig zu machen. Hüte dich vor deinen schwachen Stunden, Borussia, laß dir kein Gift in die Ohren träufeln – wehr dich gegen die Falschheit derer, die ihre Dolche mit Friedenspalmen verdecken! Wehr dich, sonst hast du umsonst geblutet, ohne Nutzen den Kampf um die Freiheit geführt. Ohnmacht, Armut, Knechtschaft, Schmach und Demütigung vor Fremden wird dein sicheres Los! Höre nicht auf den Sirenengesang! Laß deine Knappen mit ihren Schwertern auf ihre Schilde schlagen, daß du die Stimme der Verlockung nicht hörst. Du ließest dich schon zu oft täuschen! Du ließest dich zu Boden werfen, wurdest ausgeplündert und zum Frondienst gezwungen! Und nun, wo der Himmel ein Wunder tat und deine Fesseln löste, wo du weiter nichts zu tun brauchst, als die Hand auszustrecken und zu nehmen, was dein ist, da läßt du dich beschwatzen, auf die Segnungen einer fernen Zukunft vertrösten, wo die Gegenwart dir blüht wie noch nie!

Borussia, wach auf! Sieh in der Sonne den Rheinstrom glitzern! Sieh sein heiliges Band alle deutschen Gaue umschlingen! Frei wälzt er seine Wogen dem Meere zu, an beiden Ufern wieder deutsch, wie er's immer war, wenn du nur wolltest. Laß nur nicht die Welschen an ihn heran! Die bleiben nicht wie du träumend an seinem Ufer stehen! Die werden stets zu neuen Raubzügen hinüberwollen, dir Mark und Blut aussaugen und sorgsam verhüten, daß du jemals wieder zu Kraft und Macht erstarkst! Borussia, wach auf!«

»Die schläft schon nicht, junger Mann!« sagte Blücher, trat aus seiner Nische ins Licht hinaus, ein Glas in der einen, ein paar Flaschen in der anderen Hand, und setzte sich an das andere Ende des langen Tisches. »Denn das ist kein Schlaf mehr! Da gehört ein ganz anderes Wecken dazu, als Sein bißchen Krähen! Da helfen auch nicht die Posaunen des Jüngsten Gerichts! Bei der dicken Schlafmütze, die die Sicherheitskommissariusse der Madame über die Ohren gezogen haben, könnte der Himmel herabfallen, und sie merkte nichts. Die wacht nicht uff. Wir geben ihr wohl mitunter einen Schubs und bringen sie auf die Beine, daß sie Anlauf nimmt und im Schlafe siegt. Und dann fällt sie um und träumt vom ewigen Frieden! Und der Feind, der Herr Napoleon, der niemals schläft und niemals träumt, er lacht sich ins Fäustchen und geht ihr immer wieder durch die Lappen. An der Saale hätten wir ihn jetzt packen können, an der Unstrut auch! Bei Auerstedt, wo er uns schlug, hätte er zur Wiedervergeltung eins auf die Mütze haben müssen – bei Erfurt, wo wir früher einmal vor ihm kapitulierten, bei Fulda, überall wäre er geliefert gewesen, wenn wir bei der Stange geblieben wären und zugelangt hätten. Am Hörselberge hinter Gotha, wo wir nach Jena so brav vor ihm gelaufen waren, da rächten wir uns aber in echt deutscher Weise – da ließen wir ihn ebensogut vor uns laufen, gerade als seine Vernichtung sicher war. Da spielten wir immer noch auf höheren Befehl Blindekuh und sagten uns: ›Nee, da läuft er nich, wo er läuft! Er läuft sicher anderswo!‹ Und kletterten über die Vogelsberge und guckten in das Lahntal hinein und wunderten uns baß, daß er uns nicht den Gefallen tat, uns auch da etwas vorzulaufen.

Und nun sitzt er hinterm Rhein und pflegt seine Frostbeulen und salbt seine wunden Füße. Und wir sitzen diesseits und blasen auf der Friedensschalmei und tanzen und vergnügen uns. Nun ja – hübsch sind ihre Mädchen, das muß ich den Rheinländern lassen! Und ihre Weine – – Na, komme Er her zu mir, junger Mann, brechen wir miteinander dieser Pulle den Hals! Da drin ist Sonnenschein – da drin ist Glut und froher Mut, aber keine solche Wut, wie Er sich wohl aus Seinem Surius drüben angetrunken hat! Sieht Er, schöne Redensarten, die kann ich auch machen! Nun will ich Ihm aber auch vormachen, wie man den Mund hält, wo's gilt, eine Tat für ein Wort zu setzen! Prost! Gieße Er den Rebensaft die Kehle runter! Und keinen Ton dabei – keinen Ton, auf daß Ihm nicht die Galle übertritt. Siebzehn Jahre wollen wir wieder werden, voll guter Laune, Übermut, Tollheit und schwellender Kraft, die singt und jauchzt und sich des Daseins zu freuen weiß. Dann sind wir morgen andere Kerle, und die Welt wird uns neu und frisch und keusch wie eine aufblühende Jungfer, die dem gehört, der sie ohne Federlesens zu nehmen versteht, aber nimmermehr dem Worthelden, der über seinem Gefasel das Zupacken vergißt. Wir tun, was wir tun! Wir lassen Schufte und Gauner Schufte und Gauner sein! Wir haben anderes zu tun, als dem Gesindel Galgen zu errichten und Strafpredigten zu halten! Prost!«

Trotz seinem Schweigegebot versäumte er es aber auch nicht, selbst das Wort zu nehmen und eine Rede zu schwingen, sooft nur der Geist über ihn kam.

Der andere hatte ihm eben nur das Wort aus dem Munde genommen und das ausgesprochen, wovon er just im Begriff war, selbst überzusprudeln.

»Solche Leute muß man beizeiten dazu bringen, den Mund zu halten«, dachte er schmunzelnd. »Denn sagen sie zuviel, dann verderben sie einem nur das Spiel!«

*

Am Neujahrstag in aller Frühe hielt Blücher dann hoch zu Roß auf den Hügeln des Rheinufers bei Caub und blickte in den grauen Tag hinein.

Unter ihm schlängelte sich die dunkle Masse seiner braven Armee über die Schiffsbrücke nach der kleinen Insel mitten im Fluß, wo die alte Pfalz liegt, und weiter nach dem jenseitigen Ufer, die Hügel hinauf.

Die Felsen warfen in immer wachsendem Echo das Hurra und das Freudengeschrei hinüber und herüber und kündeten den Landeskindern jenseits des Rheins: jetzt ist die Schmach getilgt, jetzt seid ihr wieder Deutsche, wie ihr es immer wart und immer wieder werdet, was auch kommen mag.

Dem alten Kämpfer schwoll das Herz vor Freude, er jauchzte mit, und durch die Tränen, die ihm aus den Augen quollen, sah er sieben Sonnen, und alle gingen sie ihm heute drüben, im Westen, auf. Drüben lag befreites deutsches Land! Drüben lief der Feind, was das Zeug hielt –, drüben lag Paris! –

Ein Katzensprung nur, und Paris war sein, die Höhle des Löwen ausgehoben, der Quell alles Unheils verstopft, der Feind der Völker von seiner ragenden Höhe gestürzt! Nichts könnte mehr etwas daran ändern!

Drüben liefen ja die Franzosen – – –

Sie liefen – ließen aber drüben im befreiten Lande eine Grenzwache zurück, der weder Pulver noch Blei etwas anhaben konnte: – den Typhus! Und der machte seine Sache so brav, daß allein vom Yorckschen Korps fünftausend Mann ins Gras beißen mußten. Dem Typhus zur Seite wütete ein noch unheimlicherer Feind: der Meuchelmord, der in jedem Bauernhause lauerte, je weiter man ins rein französische Land drang. Denn es war ja ein schwerer und unverzeihlicher Frevel von den Deutschen, den geheiligten französischen Boden mit Krieg zu überziehen! Wozu waren die deutschen Gaue da? War es nicht seit altersher den Völkern zur Gewohnheit geworden und also zum Recht, dort ihren Hader auszutragen und ihre Streitrosse zu tummeln?! Hatten sie nicht den Deutschen dafür gedankt, indem sie ihr Land nicht nur gnädigst ausplünderten, sondern es auch mit den schönsten Ruinen schmückten?!

Kein Mühsal, keine Gefahr, keine Seuchen, gar nichts vermochte aber das Ungestüm der Schlesischen Armee und ihres Führers zu brechen.

Unaufhaltsam drang sie auf ihr Ziel vor, ob die anderen Heere folgten oder nicht.

An Bernadotte brauchte Blücher nicht mehr zu schleppen, da diesem Helden, nach seiner gloriosen Leistung bei Leipzig, das Kommando der Nordarmee genommen worden war.

Und die Hauptarmee mit ihrem ganzen Troß von Monarchen, Fürsten und Diplomaten, kümmerte ihn zunächst wenig.

Die schleppte sich im gewohnten Tempo, fern vom Schuß, bei Basel über den Rhein nach Frankreich hinein, blieb dort auf der Hochebene von Langres staunend stehen, und bewunderte die sonderbare Eigenschaft dieser Wasserscheide, von dort nach drei verschiedenen Meeren gleichzeitig ihr Wasser lassen zu können.

Von all den Flüssen, die dort ihren Anfang nehmen, trug, wie zu billigen, die Seine den Sieg über die anderen davon.

Aber schon ehe die Hauptarmee ihre schwerfällige Masse nach dem Seinetal in Bewegung setzte, fingen die Diplomaten Österreichs, unter Metternichs Führung, wieder an, dem Schwiegersohn ihres Kaisers auf der Friedensschalmei ein Ständchen zu blasen, und boten ihm die alten Grenzen Frankreichs von 1792 an und den ungestörten Besitz seines Thrones für immer und ewig –, was in unserer Laiensprache so viel wie bis zum nächsten Krieg heißt. Denn Napoleon war ja, wie auch der preußische General von Knesebeck hervorhob –, er war ein förmlich anerkannter und recte gesalbter Monarch – er war Herrscher von Gottes Gnaden und hatte also zum mindesten auf die Gnade der Mitmonarchen einen Anspruch.

Napoleon sah das auch ein, ließ sich gnädigst herbei, mit seinen Überwindern zu verhandeln, und schickte zu dem Zwecke seine Friedensboten nach Chatillon.

Da war es wieder Blücher, der den friedfertigen Kampfgenossen in den Arm fiel – aber in einer von ihm selbst am allerwenigsten beabsichtigten Weise, indem er sich an der Marne gründlich – nicht ein-, sondern fünfmal von Napoleon schlagen ließ.

Denn der Korse, der da seine schönsten Löwensprünge machte und bald dem einen, bald dem andern von den ihn umstellenden Jägern an die Kehle sprang und tüchtig zauste, der fühlte sich wieder als Herr und Gebieter und Bändiger der ganzen Welt.

Er schlug die einzeln marschierenden Korps der Blücherschen Armee nacheinander bei Montmirail, bei Château Thierry, Vauxchamps und Etoges. Er schlug Wrede und Wittgenstein bei Nangis und den Kronprinzen von Württemberg bei Montereau. Und der Kamm schwoll ihm mächtig.

Er sah, wie die Schar seiner Angreifer anfing langsam wieder nach dem Rhein zurückzufluten.

Bald würde er sie da hinüberwerfen und gänzlich vernichten!

Er hörte schon seine leicht erregten Pariser über die Siegesbotschaften und die vielen Gefangenen jubeln.

Sie würden ihm alles bewilligen, der neuen Gloire jedes Opfer bringen! Also keine Rede von Verhandlungen mehr!

Er würde den Völkern wieder den Frieden diktieren, wie sie es von ihm gewohnt waren! Fort mit den Schreibern und Diplomaten mitsamt ihren schlauen Finten und krummen Wegen! Ein Hieb des Schwertes zur rechten Zeit – das bliebe stets die einfachste und wirksamste Diplomatie!

Napoleon bedankte sich also für die Gnade, die ihm die deutschen Fürsten gewähren wollten, lehnte die Unversehrtheit eines verkleinerten Reiches und den Besitz eines nur auf französischem Boden fußenden Thrones ab, rief seine Unterhändler zurück und stand wieder kampfbereit da, mit zermürbten Armeen, aber im vollen Glanz seines Genies und seines Siegerruhmes, drohend, gewaltig, gefürchtet.

Da war's wieder Blücher, der sich nicht blenden und verblüffen ließ. An Genie dem Gegner gleich, an urwüchsigem Temperament ihm überlegen, hielt er stand, wo alles weichen wollte, gebot dem Imperator Halt und lenkte die rückwärtsstrebende Bewegung wieder vorwärts.

Und die Saumseligen folgten schweren Herzens und ergaben sich in ihr Schicksal, die Früchte ihrer Siege pflücken zu müssen.

*

 

» Sa Majesté l'empereur«

stand es mit großen Buchstaben mit Kreide auf einer der Türen im Korridor. An der Tür zwei Gardisten in hohen Bärenfellmützen, die Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett geschultert.

Ein Adjutant kam eiligst die Treppe herauf, den Korridor entlang und auf die Tür zu. Die Wachen präsentierten.

Der Adjutant streckte die Hand nach der Klinke aus. Da öffnete sich die Tür, ein paar Ordonnanzen kamen eiligst heraus, die zusammengefalteten Zettel mit den soeben vom Kaiser diktierten Befehlen in der Hand, salutierten und eilten die Treppe hinunter.

Gleich hinter ihnen trat Napoleon aus der Tür heraus, den grauen Mantel noch offen, den dreieckigen schwarzen Hut auf dem Kopf. In seinem Gefolge waren Berthier und Caulaincourt.

Der Adjutant grüßte.

»Sire, es ist höchste Zeit. Die Kosaken sind in der Stadt!«

Napoleon machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, ging an das Fenster gegenüber und blickte, die Arme über die Brust verschränkt, über die Stadt und die Gegend hinaus.

Wie oft hatte er nicht über diese Hügel, über diesen Fluß, diese Wälder geblickt, als er noch Zögling der Königlichen Kriegsschule hier zu Brienne war!

Von hier aus hatte seine Meteorenlaufbahn ihren blendenden Anfang genommen – hier war das Tor, durch das er ins bunte Abenteuer seines märchenhaften Daseins hinausgeschritten war.

Jetzt mußte er wieder hier durch – zurück ins Ungewisse, mit bitteren Erfahrungen beladen, ohne den unbeugsamen Glauben, ohne das feste Vertrauen auf das Glück, das Berge versetzt. Das Mißlingen war auch bei ihm in den Bereich des Möglichen gerückt, seine Bahn zum Ausgangspunkt zurückgebogen! Mußte er wieder anfangen –, wieder die Schulbank drücken, wie damals, als ihm nichts unmöglich, keine Aufgabe zu schwer erschienen war? Hatte er seine Schulaufgabe fürs Leben schlecht gelernt? Bekam er sie jetzt zur Wiederholung und zum Besserlernen zurück? Wenn er auch noch tausendmal die Kraft zum Umlernen aufbringen würde –, hätte er wohl noch den Mut, die Lust – die Zeit dazu? War's überhaupt der Mühe wert? War nicht alles eitel – nichtig –, zum Überdruß fade?

Aus der Tiefe knallten Flintenschüsse, scharf, schneidend! Sie kamen näher.

Der Kaiser erhob sein Haupt mit einem Ruck, wie ein altes Kutschpferd, das wieder den Knall der Peitsche hört, knöpfte den grauen Überrock zu und ging mit festen Schritten den Korridor entlang, über dessen Steinfliesen die sinkende Winternachmittagssonne ihren bunten Schein goß, und ging rasch die Treppe hinunter, von seinen Adjutanten und Generalstabsoffizieren und auch von den Wachposten gefolgt. Gleich darauf rasselten Hufschläge von Pferden übers Pflaster. Die Flintenschüsse kamen näher, Hurrarufe mischten sich hinein, Stimmengewirr und rasche Tritte auf der Treppe wurden laut.

Dann kamen bärtige Gestalten herauf, die Lammfellmütze schief auf dem einen Ohr, Piken in den Händen, die Säbel am Boden schleifend. Voran ein Offizier, neben ihm der Korporal, eine Liste in der Hand.

Der Offizier zeigte auf die Türen im langen Korridor und sprach bei jeder einen Namen aus. Der Korporal schrieb jedesmal den Namen auf die betreffende Tür.

Sie blieben an der Tür stehen, durch die Napoleon gekommen war. Die Sonne war tiefer gesunken. Ihre Strahlen fielen gerade durch das Fenster und warfen ein buntes Farbenspiel über die Aufschrift.

» Sa Majesté l'empereur!« las der Offizier. »Ist gut! Da brauchen wir uns die Zimmer nicht erst anzusehen. Da kommt der Obergeneral hinein!«

Der Korporal ließ sein Kreidestück, das er schon im Anhieb hielt, auf den Türspiegel fallen und schrieb einen Namen hin.

 

»Feldmarschall Blücher«

 

stand da in großen Buchstaben unter der alten Aufschrift zu lesen.

Ein Wink des Offiziers, und zwei Kosaken stellten sich jetzt rechts und links von der Tür als Posten auf. Die Sonne draußen war schon halb hinter die Hügel gesunken, ihre letzten Strahlen röteten nur noch ein wenig das weißgetünchte Dach. Es dämmerte schon. Der Offizier befahl, die Kerzen in den Laternen auf den Treppenpfosten und an den Wänden anzuzünden, und ging mit seinen Leuten weiter.

Bald danach hallte das ganze Schloß von lauten Stimmen, schallendem Gelächter, Säbelgerassel und Sporenklirren wider. Die Treppe kam's herauf, und bald waren sie da: eine Schar von Offizieren, allen voran der Feldmarschall Blücher, und mit ihm seine Adjutanten: von der Goltz, Graf Nostiz, Gneisenau und andere.

Die Wachen salutierten, die Adjutanten öffneten die Tür, alle traten ein.

Im großen Saale stand noch der Tisch gedeckt. Die Speisen waren unberührt. Bei der Eile des Aufbruchs hatte die Bedienung alles stehen- und liegenlassen, wie es war.

»Der Kaiser sorgt gut für seine Gäste!« rief der Feldmarschall. »Zu Tisch denn! Ich habe einen mordmäßigen Hunger! Die Flaschen drüben auf der Kredenz sehen nicht übel aus. Rasch eingeschenkt! Auf unseren Gastgeber –, auf daß ihm der Deibel bald holt!«

Sie tranken.

Ein Krachen. In der Ecke des Saales barsten die Balken, Schutt und Gips flogen ringsumher. Eine Kanonenkugel hatte eingeschlagen und war durch den Boden weitergegangen.

»Er blieb uns die Antwort nicht schuldig!« lachte Blücher. »Der Kaiser wußte, wo die Suppenschüssel stand, und war wohlerzogen genug, uns nicht hineinzuspucken! Prost Mahlzeit, meine Herren! Der Wein ist gut! Kümmert euch nicht um den Schutt!« rief er den Ordonnanzen zu, die sich gleich daranmachten, aufzuräumen. »Das Haus gehört uns nicht. Wir brauchend nicht zu reparieren!

Laßt es euch gut schmecken, Kinder! Hoffentlich haben's unsere Pferde auch nach Wunsch?«

Der Adjutant, Graf Nostiz, gab zur Antwort, für die Pferde wäre bestens gesorgt.

Er hatte auch alles angeordnet, aber in seiner eigenen Weise, indem er sie nicht in die Stallungen, sondern nur um die Ecke des Schlosses führen und dort gesattelt bereithalten ließ. Denn ihm schien es hier noch nicht ganz geheuer und auch nicht sicher, daß Brienne endgültig in der Hand der Deutschen bliebe und nicht noch von den Franzosen durch einen Handstreich wiedergewonnen werden konnte. Zum mindesten fand er es verfrüht, schon jetzt das Hauptquartier hineinzuverlegen, ehe die Truppen das Glacis fest in der Hand hatten. Aber das Ungestüm des Feldmarschalls war nimmer zu bändigen.

Nostiz ging mit dem Grafen Goltz auf die Terrasse hinaus, blickte in die Dämmerung hinein und dankte gleich dem Himmel, daß er so fürsorglich alles angeordnet hatte. Denn kaum war er draußen, so pfiffen ihm schon die Flintenkugeln um die Ohren, und die Scheiben in den Glastüren gingen klingend in Scherben. Kein Zweifel, der Kaiser war nicht gesonnen, Feinde hier mitten unter seinen Jugenderinnerungen hausen zu lassen.

Er ging schon angriffsweise vor, kaum daß man sich in seinem warmen Neste zur Ruhe gesetzt hatte, und war schon im Begriff, das ganze feindliche Hauptquartier mit dem Feldmarschall und allen durch einen kühnen Handstreich aufzuheben und in seine Gewalt zu bringen.

Sie eilten hinein. Es hielt aber schwer, den eigensinnigen alten Blücher dazu zu bringen, das Schloß, in dem er schon anfing sich wohl zu fühlen, gleich wieder zu verlassen.

Erst als die Schießerei immer näher kam, ließ er sich überreden, hinunterzugehen und die Pferde zu besteigen.

Es war aber fast zu spät. Kaum auf der Straße, galoppierten ihnen fliehende Kosaken mit den Rufen »Franzuski!« entgegen, und hinter ihnen her klabasterten schon flinke kleine Chasseurs mit einer Schnelligkeit, daß die Roßschweife an ihren Helmen wie Schleier hinter ihren Häuptern flatterten.

Mit Not gelang es noch, durch flinkes Einbiegen in eine Nebenstraße über die Felder zu entkommen. Dort aber drehte sich Blücher um, blickte nach der Stadt zurück, wo schon aus allen Fenstern Lichter blinkten, und wo der Lärm des Straßenkampfes immer lauter durch das Dunkel tobte, und sagte: »Bilde dich nur nicht ein, daß du dorten lange ruhig schlafen wirst!«

Als er aber nach einigen Tagen, nachdem er Napoleon geschlagen hatte, wieder nach Brienne kam und ins Schloß hineinzog, um drinnen doch das letzte Wort zu haben, da prangte auf der Tür im Korridor nicht nur über den Worten »Feldmarschall Blücher«, sondern auch unter ihnen die Inschrift: » Sa Majesté l'empereur«.

Stracks nahm er aus der Hand seines Quartiermachers, der schon wieder bei der Arbeit war und von Tür zu Tür pilgerte, die Kreide, machte einen Strich quer durch die Rechnung und schrieb eigenhändig darunter:

» Blücher«.

»Die Fremdenliste wäre nun in Ordnung«, sagte er schmunzelnd, gab ein Zeichen, die Tür zu öffnen, und befahl auch schleunigst, für Speise und Trank zu sorgen. Denn heute sei man bei sich selbst zu Gast, und man müsse doch für seine Gäste sorgen!

»Nachher können wir darangehen, mit dem Herrn Napoleon um das nächste Hotel zu raufen!« fügte er hinzu. »Und mir soll's recht sein, wenn's sein Palais in Paris ist!«

Für heute ließ er sich's aber beim Feldmarschall Blücher in Brienne gut schmecken, und wurde dabei von keinen lose herumstrolchenden Kugeln aus kaiserlichen Flinten und Kanonen mehr gestört.

*

»Heute war man im Hauptquartier knieschwach mit Bescheid«, sagte Yorck halblaut, als er durch den Abend von Laon nach seinem Quartier in Chambry ritt. »Dem Feldmarschall schien es heute nicht sosehr wie sonst daran gelegen zu sein, das Tanzbein zu schwingen!«

Er schlug die Schneeflocken vom Rockärmel, hielt sein Pferd an und blickte über die Gegend hinaus.

Der kurze Märztag neigte sich seinem Ende zu. Durch das dünne Schneegestöber sah man noch, wie durch einen Schleier, die kleine Stadt Laon auf ihrem Felsen aus der Ebene ragen, auf dem Rand des höchsten Plateaus eine Reihe von Windmühlen, die sich scharf gegen den Himmel abzeichneten.

Tausende von Lichtern glitzerten überall. Den Fuß des Felsens säumten die Biwakfeuer von Bülows Preußen. Rechts und links davon, durch die Vorstädte, bis weit über die Ebene hinaus, zeigten Feuer an Feuer die weitere Aufstellung von Blüchers Armee an.

Hinter den Sümpfen, der Stadt gegenüber, auf der Senkung des dort verlaufenden niedrigen Plateaus, rückten die Franzosen heran.

Nach dem unentschiedenen Gefecht bei Craonne, am vorhergehenden Tage, war Napoleon selbst mit seinen Garden den weichenden Truppen Wintzingerodes auf der Straße von Soissons hierher gefolgt und hatte sie aus dem Paß bei Etouvelles über den Ardonbach zurückgeworfen.

Östlich von ihm, auf der Straße von Reims, rückte Marmont auf das gleiche Ziel zu.

Blücher hatte hinter dem Felsen von Laon die beiden russischen Korps Sacken und Langeron als Reserve aufgestellt, um je nach der Kampftage rechts oder links hinter der Stadt vorzubrechen.

Nach seiner Vereinigung mit Bülows über Holland heranmarschierten Truppen war er jetzt Napoleon doppelt überlegen. Er hatte auch vollständige Selbständigkeit von der Hauptarmee erlangt und brauchte sich um die langsamen Bewegungen Schwarzenbergs nicht zu kümmern.

Nichts würde ihn daran hindern können, die letzte Scharte auszuwetzen und dem Korsen die heimtückischen Überfälle an der Marne heimzuzahlen! So hatte er sich heute Yorck gegenüber geäußert, aber nicht in seiner gewohnten energischen Weise, sondern mit einem müden, abgespannten Ausdruck in der Stimme, der seinen Worten geradezu widersprach.

Yorck lachte noch hämisch darüber, als er langsam durch das Schneegestöber weiterritt.

Man war im Hauptquartier sogar mehr als löblich knieschwach geworden! Die »Kraftgenies« und Draufgänger dort, die sonst mit ihrem Ungestüm die Soldaten abhetzten, hatten auf einmal ihre ganze Schwungkraft verloren!

Blücher, sonst die nie versiegende Hauptquelle aller Energie, war über Nacht zusammengeklappt und ein müder Greis geworden!

War es nur eine vorübergehende Abspannung? Oder bereitete sich eine ernsthafte Erkrankung vor?

Ganz apathisch hatte er heute dagesessen, einen Schirm vor den Augen, und hatte fast teilnahmlos zugehört, wie Müffling und Gneisenau den eingefangenen Hannoveraner Palm examinierten, der im Bureau des französischen Generalstabschefs Berthier irgendeine Vertrauensstellung eingenommen hatte, und heute von den Kosaken aufgegriffen worden war.

Er hatte sich nicht einmal geärgert, ja kein einziges Mal geflucht, als dieser ihm bezeugte, die gestrige Affäre bei Craonne hätte eine vernichtende Niederlage für Napoleon werden können, wenn die Preußen diesem, wie befohlen, bei Corbeny in die linke Flanke und in den Rücken gefallen wären. So aber hatte seine Nachhut unter Wintzingerode die ganze Wucht des Angriffs allein auszuhalten gehabt und hatte sich nutzlos verblutet. Und man konnte den Tanz wieder von vorn anfangen.

Dabei wäre der Sieg so kinderleicht herbeizuführen gewesen! Als sich ein paar Husaren und Kosaken auf dem Wege von Fetieux bloß zeigten, hatten die französischen Train- und Artillerieknechte die Stränge durchgeschnitten, alles stehenlassen, und waren davongeritten. Eine regelrechte Panik war schon im Entstehen. Aber die preußische Kavallerie, die man schon glaubte heransausen zu hören, kam nicht! Und aus der sicheren Niederlage wurde so ein unentschiedenes Nachhutgefecht.

Das alles hatte ihnen der gefangene Kommissar Berthiers klipp und klar auseinandergesetzt. Und Blücher hatte keinen Ton gesagt, kein einziges Donnerwetter über die verfluchte Schweinerei losgelassen! Gneisenaus Gesicht war immer länger geworden!

Sie hatten alle beide plötzlich die Sicherheit eingebüßt! Ihre Kraft schien erlahmt zu sein! –

Sonst schoben sie um des großen Zieles willen jedes Bedenken beiseite und zwangen die Soldaten zu den größten Strapazen. Jetzt aber häuften sie Bedenken über Bedenken und waren ängstlich darauf bedacht, ihre Leute zu schonen!

Yorck hatte laut lachen müssen, als Gneisenau ihm in allem Ernst erklärte, man müsse die Truppen schonen, damit der König bei den Friedensverhandlungen noch eine Armee hätte, um sie in die Wagschale werfen zu können! Daran dachte der gute Gneisenau sonst gewiß nicht!

Er war sonst stets von hochfliegenden strategischen Plänen und genialen Entwürfen so erfüllt, daß eine solche Kleinigkeit wie ein Menschenleben mehr oder weniger ihn nicht im geringsten kümmerte.

Und jetzt auf einmal die diplomatischen Schmerzen!

War er kopfscheu geworden, als er die wohlgenährten, gut gekleideten und tadellos ausgerüsteten Soldaten Bülows sah, die trotzdem auf glänzende Siege in Holland zurückblicken durften – und neben ihnen die verhungerten, abgerissenen, zerlumpten Schlesier Yorcks, die wie die »Grasteufel« aussahen, und, ungeachtet aller Strapazen, in der letzten Zeit doch nur Niederlagen gehabt hatten?

Sei's wie es sei, jedenfalls hatte Gneisenau stillschweigend sein Unrecht zugegeben, und das erfüllte Yorcks Seele mit einer stolzen Genugtuung und gab ihr Leichtigkeit und Schwung. Der Widerspruchsgeist, der ihm sonst stets innewohnte, steigerte sich bis zum spitzbübischen Übermut. Er wollte Gneisenau, wollte das ganze Hauptquartier noch mehr ins Unrecht setzen. Jetzt, wo die zauderten und nicht mehr vorwärts wollten, jetzt wollte er. Er, der sie sonst immer zurückhielt, ging ihnen jetzt aus reinem Trotz durch und ließ so das Donnerwetter los, das wegen der Krankheit Blüchers und der schwachen Stunde Gneisenaus im Sturmzentrum selbst zu erlahmen drohte!

Fröhlichen Herzens gab er seinem Pferd die Sporen, kam in sausendem Galopp am Bauernhause in Chambry an, wo er sein Quartier hatte, sprang aus dem Sattel und trat in den Saal hinein.

Um den flammenden Kamin saßen die Offiziere seines Stabes in fröhlicher Runde und lasen mit verteilten Rollen aus Shakespeares Heinrich dem Vierten.

Yorck winkte ihnen zu, sich nicht stören zu lassen, setzte sich auch an den Ofen, starrte zerstreut ins Feuer und lauschte auf das Rasseln der Verse.

»O mein Gemahl, was seid Ihr so allein?«

lispelte mit hoher Fistelstimme ein junger Leutnant die Rolle von Lady Percy hervor. Indes ein dicker Oberst mit tiefem Baß und gewaltiger Inbrunst den Heißsporn Percy mimte und sich gar nicht an sie kehrte.

»Für welchen Fehl war ich seit vierzehn Tagen,
Ein Weib, verbannt aus meines Heinrichs Bett?
Sag', süßer Gatte, was beraubt dich so
Der Eßlust, Freude und des goldenen Schlafs?

*

Ich habe dich bewacht in leichtem Schlummer,
Und dich von eh'rnem Kriege murmeln hören,
Dein bäumend Roß mit Reiterworten lenken
Und rufen ›Frisch ins Feld!‹ Dann sprachest du
Vom Ausfall und vom Rückzug, von Gezelten,
Laufgräben, Basilisken und Kanonen.
Ein schwer Geschäft hat mein Gemahl in Händen.
Und wissen muß ich's, wenn er mich noch liebt.«

»Fort, du Tändlerin –«, brüllte der Oberst den jungen Leutnant an.

Ich lieb' dich nicht,
Ich frage nicht nach dir. Ist dies 'ne Welt
Zum Puppenspielen und Mit-Lippen-fechten?
Nein, jetzo muß es blut'ge Nasen geben,
Zerbrochene Kronen, die wir doch im Handel
Für voll anbringen. Alle Welt, mein Pferd!
Was sagst du, Käthchen? Wolltest du mir was?«

»Ihr liebt mich nicht? Ihr liebt mich wirklich nicht?« lispelte der Leutnant weiter.

»Nein, sagt mir, ob das Scherz ist oder Ernst?«

Worauf der Oberst jäh aufschnellte und verächtlich lachte:

»Komm, willst mich reiten sehen?
Wenn ich zu Pferde bin, so will ich schwören:
Ich liebe dich unendlich. Doch höre, Käthchen:
Du mußt mich ferner nicht mit Fragen quälen,
Wohin ich gehe, noch raten, was ich soll!
Wohin ich muß, muß ich: und, kurz zu sein:
Heut abend muß ich von dir, liebes Käthchen.
Ich kenne dich als weise, doch nicht weiser
Als Heinrich Percys Ehefrau. Standhaft bist du,
– jedoch ein Weib, und an Verschwiegenheit
Ist keine besser, denn ich glaube sicher:
Du wirst nicht sagen, was du selbst nicht weißt!
Und soweit, liebes Käthchen, trau ich dir.«

Sie lasen schlecht, mit falschem Pathos, viel Stimmenaufwand und gewaltiger Mimik. Yorck achtete nicht darauf. Ein ungestümer Tatendrang war rein aus Trotz über ihn gekommen, seitdem er sah, wie zaghaft man im Hauptquartier geworden war. Er wollte jetzt die Zügel aufnehmen, die man dort schleifen ließ, die Führung an sich reißen, einen waghalsigen Coup unternehmen und so mit einem Schlag den Krieg zu Ende führen! Wie, das sah er noch nicht klar. Er fühlte nur bestimmt, im voraus, das große Geschehnis nahen und wurde wieder jung und waghalsig wie jener Brausekopf Percy in Shakespeares Stück. Er würde, wie dieser, weder sehen noch hören können, bis jener Gedanke, der ihn ganz erfüllte, in lebende Tat umgesetzt worden war!

Am andern Morgen war dichter Nebel überall. Es wollte nicht Tag werden.

Man war zum Angriff bereit. Da pfiff es plötzlich den wackeren Kämpfern um die Ohren. Flintenkugeln flogen aus nächster Nähe in die Stadt und in das Lager Yorcks. Wie ein Schwarm Hornissen, so summte und brummte es den Yorckschen um die Ohren, ohne daß es möglich war zu entdecken, woher es kam.

»Das sind die Bienen des Kaiserreiches!« sagte Yorck. »Die kommen herangesummt mit dem Morgengruß vom Kaiser! Die paar Insekten machen aber noch lange keinen Sommer! Wir werden den frechen Kerls von Tirailleurs schon eins auswischen!«

Der Nebel hob sich gegen elf Uhr, und als die Sonne durchbrach und die Gegend erhellte, konnte der Posten oben auf der höchstgelegenen Windmühle melden, daß die Armee Napoleons zu beiden Seiten der Straße von Soissons Aufstellung genommen hatte und zum Angriff vorging. Bald entbrannte auf der ganzen Linie der Kampf. Napoleon konnte aber gegen die Übermacht der Blücherschen Armee nicht an. Es gelang ihm nur, dessen Vorposten aus Etouvelles zu vertreiben und den dortigen Paß über den Ardonbach zu besetzen. Im Laufe des Tages rückte dann östlich von ihm auf der Reimser Straße Marmont heran und suchte gleich um die linke Flanke Yorcks herumzufühlen, mit der deutlichen Absicht, ihm die Rückzugsstraße nach den Niederlanden abzugewinnen. Dem wurde rasch durch Kavallerie begegnet, Yorck zog seine Vorposten aus dem vor seiner Front liegenden Dorfe Athis heraus und ließ es anzünden, um ein verlustreiches Dorfgefecht zu vermeiden.

Von beiden Seiten wurde eifrig kanoniert. Aber der erwartete Sturmangriff der Franzosen unterblieb, und als der kurze Wintertag zu Ende ging, hatte der Feind sich damit begnügt, seinen Aufmarsch zu vollenden und vorteilhafte Angriffsstellungen für den nächsten Tag einzunehmen. Seine Truppen durften sich zur Ruhe begeben. Aber die Ruhe gönnte ihnen Yorck nicht. Er hatte ihre Passivität als ein Zeichen der Schwäche aufgefaßt und sich gleich entschlossen, sie beim Einbruch der Dunkelheit zu überfallen. Er holte die Genehmigung des Oberkommandos ein und traf sofort seine Anordnungen.

»Das Vorrücken geschieht in geschlossenen Kolonnen und lautlos, bis man an den Feind kommt. Es fällt kein Schuß, es wird nur mit dem Bajonett angegriffen« – so lautete sein Befehl.

Alles setzte sich in Bewegung. Vorwärts ging es über den gefrorenen Boden gegen die Linie der feindlichen Feuer bis auf fünfhundert Schritt Entfernung.

Da brach auf einmal ein Höllenlärm los. Auf allen Trommeln wurde Sturm geschlagen, die Trompeten und Flügelhörner schmetterten und tuteten, und mit schallendem Hurra warfen sich die braven Schlesier auf den Feind, der, vollkommen überrascht, an keinen Widerstand dachte, Hals über Kopf floh und alles im Stich ließ. Er wurde kräftig verfolgt. Und nach ein paar Stunden konnte Yorck dem Hauptquartier melden, daß das ganze Korps Marmonts aufgerieben sei, seine gesamte Artillerie und Munition, Tausende von Toten und Gefangenen verloren und auch das anmarschierende Korps Mortiers mit in die Flucht gerissen hatte.

Napoleons Stellung war dadurch verzweifelt geworden. Er stand vor Etouvelles mit wenig über dreißigtausend Mann, seine beiden Flügel waren erschüttert, er hatte einen nunmehr dreifach überlegenen Feind sich gegenüber und den Engpaß von Etouvelles als einzige Rückzugsstraße. Wenn Blüchers Armee ihren Sieg ausnutzte und rasch weiter vorging, so war er verloren, denn er würde sich dann einer Umzingelung nicht mehr entziehen können.

Demgemäß wurde auch zunächst vom Oberkommando disponiert. Bülow und Wintzingerode sollten Napoleon festhalten, die anderen Korps von der Reimser Straße seine rechte Flanke umgehen, Sacken und Langeron um seine linke Flanke herumgreifen und versuchen, ihm die Straße nach Soissons zu verlegen.

Bei Anbruch des Tages war schon alles auf dem Marsch. Yorck triumphierte schon im voraus. Das Manöver konnte nicht mißlingen. Man hatte endlich den Löwen in der Falle! In ein paar Stunden wäre er umringt und vernichtet und der Krieg zu Ende. Alles drängte begeistert vorwärts, sich der Größe der bevorstehenden Entscheidung bewußt, und bereit, das Letzte herzugeben, um sie herbeiführen zu helfen.

Da fiel das eigene Hauptquartier dem ungestüm Vorwärtsdrängenden jäh in den Arm. Gneisenau sandte überallhin Konterorders und befahl, den so rüstig begonnenen Vormarsch einzustellen und in die alten Stellungen zurückzugehen.

Entgegen aller Vermutung war Napoleon zum Angriff geschritten, in der richtigen Voraussetzung, daß ein Feind, dessen Korps er erst kürzlich einzeln geschlagen hatte, es jetzt nicht wagen würde, sie noch einmal voneinander zu trennen, sondern vor allem bestrebt sein müßte, sie einem Angriff gegenüber jetzt sofort zusammenzufassen.

Er versuchte also, als der größere Menschenkenner, den Gegner zu bluffen, und der Versuch gelang.

Die Rückberufungsbefehle Gneisenaus flogen eiligst nach allen Seiten hinaus. Yorck bat, bei der Stange bleiben zu dürfen, er gab gute Gründe, er drohte, er fluchte, aber nichts half! Er, der sonst immer vom Hauptquartier angetrieben werden mußte, tat jetzt sein Äußerstes, um es zur Tat mitzureißen, aber vergebens.

Gneisenau war unerbittlich. Alles mußte zurück. Der sichere Triumph über den »Feind der Menschheit« glitt Yorck aus den Händen. Er mußte gehorchen. Aber in sein Quartier zurückgekommen, befahl er seinen Wagen, ließ seine Koffer hineinwerfen, nahm Platz und fuhr ohne weiteres von seiner Armee fort.

Das ließ er sich nicht gefallen – das machte er nicht mehr mit! Da könnte kommandieren, wer wollte – er hatte es jetzt satt!

Zu dem Ärger, von Napoleon gefoppt zu sein, kamen jetzt bei Gneisenau die Schwierigkeiten mit Yorck.

Die Insubordination durfte nicht hingenommen werden. Aber einem Mann wie Yorck konnte man nicht einfach eine Kugel vor den Kopf geben.

Blücher allein vermochte da Wandel zu schaffen. Und Blücher war krank. Er fieberte, er phantasierte und nahm an allem Geschehen keinen Anteil.

So ruhte alle Verantwortung auf Gneisenaus Schultern. Und dieser sonst vor nichts zurückschreckende Mensch hatte eben seine »schwache« Stunde gehabt.

Daß Blücher einen Sieg nicht bis zum Äußersten ausnützte, das war noch nicht dagewesen! Das ging nicht mit rechten Dingen zu! Das empfand jetzt die ganze Armee. Er war entweder tot oder todkrank. Das stand fest. In beiden Fällen mußte ein neuer Oberbefehlshaber an seine Stelle treten. Das Kommando wäre dann einem von den russischen Generälen zugefallen, und das durfte auch nicht sein.

Die Krankheit Blüchers wurde also verheimlicht. Gneisenau amtierte in seinem Namen weiter – nicht aber, wie sonst, in seinem Sinn. Der Konflikt mit dem tüchtigsten Korpsführer der Armee war da und mußte aus der Welt geschafft werden! Tot oder lebend mußte Blücher auf der Bühne erscheinen und das besorgen. Aber wie das bewerkstelligen, wo der Alte in Fieberphantasien dalag und auf keine Anrede eine vernünftige Antwort gab?!

Gneisenau ging mit Müffling zu ihm hinein.

In einer Ecke des Krankenzimmers brannte, dicht verhangen, eine Lampe. Der Leibarzt Blüchers, Bieske, saß daneben, sanft eingeschlummert. Im Bett wälzte sich Blücher unruhig hin und her, die Augen mit einem alten grünseidenen Damenhut gegen das kaum merkbare Licht geschützt.

Die Augen schmerzten ihn. Ein zitterndes Flimmern lag über der Netzhaut, im Spiel der Farben wogte alles hin und her, Gestalten tauchten auf, drangen von allen Seiten auf ihn ein, schlossen die Glieder, zogen in endloser, dichtgedrängter Schar an ihm vorüber, ernst, langsam und würdig wie zu einer Trauerparade –, Offiziere in Gala-Uniform mit roten Kragen und hohen Blechmützen, die Gesichter ernst und blaß wie der Tod, die Augen geschlossen, feierliche Ruhe in den Zügen, an der Seite jedes einzelnen eine Frau in Trauer, den verschleierten Kopf schmerzvoll geneigt. So zogen sie ohne Unterbrechung an ihm vorbei, wo er draußen auf einem Felsen am Rhein stand. Aus allen Schluchten, aus allen Wäldern, aus allen Tälern ringsumher strömten sie in immer dichteren Scharen an ihn heran und nach dem Ufer des Rheins hinab, stiegen ins Flußtal hinunter und zogen dort weiter, immer weiter gegen die Abendsonne hin. Die Blechmützen glitzerten und blitzten, von den schwarzen Trauerschleiern der Frauen umwallt. – Wie ein Spiel der Wellen im Abendsonnenschein, so flimmerte es vor den Augen, verwob sich in der Ferne mit dem Widerschein auf dem Wasser und wurde zu einem einzigen Strom, der leuchtend und flammend sich weiter den Weg durch die Felsen fraß.

Die Augen schmerzten vom vielen Glanz! Da erhob sich plötzlich eine dunkle Masse dicht vor ihm. Ein Felsen wuchs aus der Erde, hart, eckig und knorrig – kein Felsen – eine menschliche Gestalt war's, mit zwei Köpfen, in Wut verzerrt, die miteinander rauften, daß die ganze Gestalt ins Wanken kam. – Yorck war's!

Blücher frohlockte! Da war er endlich hinter das Geheimnis Isegrims gekommen! Nicht einen –, zweigleich harte Köpfe hatte der alte Kerl, die sich stets widersprachen! Das war des Rätsels Lösung, deshalb war mit ihm nicht auszukommen!

Da fuhr ihm blitzschnell der Gedanke durch den Kopf: Yorck hielt ebenso streng auf Ordnung bei seiner Truppe wie er selbst und duldete keine Troßwagen hinter der Marschkolonne.

»Mein Champagnerwagen!« rief er plötzlich, setzte sich im Bett auf und hielt krampfhaft den alten grünen Hut über die Augen gepreßt. »Mein Champagnerwagen!« Denn er hatte fürsorglich eine Fuhre Champagner direkt von der Quelle nach Hause senden lassen, und er gab seitdem seinen Mitarbeitern keine Ruhe, ehe er nicht diesen Schatz glücklich in Sicherheit jenseits der Grenze wußte.

»Mein Champagnerwagen!« schrie er. »Sorgt nur dafür, daß der Isegrim ihn nicht erwischt. Der bärbeißige alte Kerl hat ja zwei Köpfe! Er hat zwei Mäuler zum Saufen! Er trinkt mir meuchlings den ganzen Krempel aus! Her mit Papier und Tinte! Ich muß es ihm schreiben –«

Müffling legte ihm ein Blatt Papier vor, und rasch, kaum leserlich, kritzelte Blücher ein paar Worte darauf, reichte ihm den Papierfetzen hin und sank ins Bett zurück. Eingedenk Ratkaus, wo dieser ihm auch etwas zum Unterschreiben ans Bett gebracht hatte, rief er ihm noch energisch zu: »Aber ich kapituliere nicht, Müffling, ich kapituliere nicht!«

Dann fiel er ins Bett zurück, blieb liegen und blickte bald Gneisenau, bald Müffling eigentümlich an.

»Komm Er her!« rief er plötzlich. »Näher, nur immer näher, ich will Ihm etwas sagen!«

Müffling beugte sich zu ihm herab, und flüsternd und geheimnisvoll nickend, fing der Alte an:

»Weiß Er was? Ich habe ein Gefühl im Leib, als wäre ich mit einem Elefanten schwanger – es dehnt sich und dehnt sich – manchmal ist's mir, als wäre mir die Stube schon zu eng – ich möchte nur wissen, wie das kommt – und auch, auf welchem Wege ich so'n Ungetüm wohl auf die Welt bringen werde?«

Das wurde Gneisenau zuviel. Entschlossen trat er an das Bett heran. In kurzem, scharfem Ton, der unbedingt die Aufmerksamkeit des Kranken erzwang, erzählte er von der Desertion Yorcks, die unbedingt die sofortige Dazwischenkunft des Oberkommandierenden erheischte, um peinliches Aufsehen zu vermeiden.

Blücher begriff. Die Wut packte ihn, verscheuchte im Nu die Fiebergespenster und machte seinen Geist sofort ganz klar.

»So'n Hundsmiserabler –, so'n Sauverfluchter! Und dabei hat der Kerl ganz recht! Wir sind im Unrecht! Himmeldonnerwetter, klappe ich einmal einen Augenblick zusammen, gleich geht alles schief! Wir hätten verfolgen sollen, Gneisenau – hätten bei der Stange bleiben müssen, wo wir endlich einmal den Kerl, den Korsen, im Sack hatten! Ja, sage Er einmal, Gneisenau, wo hatte Er das mit dem Hangen und Bangen nur plötzlich her? Das kenne ich sonst nicht bei Ihm? Es wäre schon besser, das Fieber hätte Ihn gepackt, nicht mich! Verflucht, daß ich gerade jetzt das Pech haben mußte, dazuliegen. Das muß ich wiedergutmachen. Her mit Tinte und Papier! – Er ist ein altes Ekel, ein ruppiger Hund, der Isegrim! Aber – wie prachtvoll hat er nicht soeben den Franzosen angebissen! – Nun, wo bleibt das Papier? Der Fetzen da taugt –, her damit!«

Er deutete auf seinen Brief, den er vorhin geschrieben hatte. Müffling reichte ihn ihm.

»Da steht schon etwas drauf!« sagte Blücher, der alles bereits vergessen hatte. »Lese Er's mir vor, die Augen schmerzen mir!«

Müffling las.

 

»Mein lieber, alter Freund!

So etwas tun wir beide einander doch nicht an. Was würde die Geschichte dann von uns sagen?

Ihr alter Blücher.«

 

»Betrifft den Champagnerwagen Eurer Exzellenz«, fügte Müffling dann aufklärend hinzu.

Blücher blickte ihn an.

»Ob's Yorck betrifft, ob die Witwe Cliquot, steht jedenfalls nicht drin. Das taugt denn gleich gut für alle beide. Was. soll ich mich da noch abquälen! Schicken wir das ab! Das genügt!«

So dachte auch Yorck, als der mit dem Briefe nachgesandte Kurier ihn noch am selben Tage erreichte. Denn ihn reute schon der übereilte Schritt. Er griff begierig nach der dargebotenen Hand, benutzte die ihm gebaute goldene Brücke, kehrte zu seinem Korps zurück, und alles war in bester Ordnung. Bis auf Napoleon, der aus der Umklammerung entschlüpft war, und hinter dem nun das Kesseltreiben weiterging. Blücher aber fiel in tiefen Schlaf und war von Stund ab fieberfrei. Er blieb zwar noch körperlich schwach, aber gewann sonst schnell die alte Energie wieder und trieb mit dem prachtvollen Feuer seines Geistes alles vorwärts aufs Ziel. Sogar seinen alten Körper bezwang er!

Der konnte zwar nicht in den Sattel hinauf, der mußte sich im Wagen mitschleppen lassen. Halb saß Blücher, halb lag er da, in Pelze eingewickelt, die Augen durch den grünen Damenhut geschützt.

So zog er langsam hinter dem von ihm entfesselten Sturm her und wurde von ihm mitgezogen. Und jetzt gab's keine Hindernisse, keinen Widerstand mehr. Was in den Weg kam, wurde fortgefegt.

Napoleons kecker Versuch, durch einen schnellen Marsch nach dem Rhein die Feinde von seiner Hauptstadt abzuziehen, mißlang.

Die Hauptarmee zauderte wohl wie immer. Schwarzenberg wäre am liebsten zurückgelaufen, als er vom Zug Napoleons hörte, ließ sich aber schließlich doch bestimmen, ihm nur eine Reitertruppe zur Beobachtung nachzuschicken, und folgte dann langsam in Richtung Blücher, vorwärts auf Paris.

*

Am 31. März 1814 hielten der Zar aller Reußen und der König von Preußen an der Spitze ihrer Garden feierlichen Einzug in Paris.

Die Schlesische Armee durfte nicht mittun. Sie hatte die Hauptlast des ganzen Feldzuges getragen, hatte geblutet, gehungert, gefroren, Gewaltmärsche geleistet, Schlachten gewonnen, Festungen erobert, in Schnee und Eis notdürftig auf bloßem Boden biwakiert, von der Katzbach bis zum Montmartre Ungeheures verrichtet. Und jetzt, am Ziel, statt Ehren, Dank und reichen Lohn für alles ertragene Mühsal zu erhalten, mußte sie sich damit begnügen, aus der Ferne einen Blick ins Gelobte Land zu tun. Sie durfte von der Barriere des Montmartres die schöne Seinestadt zu ihren Füßen bewundern, die, von allen Herrlichkeiten und Genüssen der Welt erfüllt, sich dort unten ausbreitete. Sie mußte trockenes Kommisbrot essen und auf den Straßen biwakieren, statt in den Bürgerhäusern einquartiert zu werden.

Und vom König, für den sie geblutet hatten und dessen vornehmste Pflicht es gewesen wäre, aufs beste für sie zu sorgen, von ihm mußten sie hören: ihre Montierung wäre nicht propre genug; sie wäre zu zerrissen und unsauber, um beim feierlichen Einzug in diese glänzende Stadt damit paradieren zu können. Man konnte wohl den Krieg in Lumpen gewinnen, aber nie und nimmer in Lumpen triumphieren. Zum Triumphieren waren die Garden da. Dazu waren sie und ihre Uniformen die ganze Zeit geschont worden. Und, damit sie auch nicht zu spät kämen, um jener Ehre teilhaft zu werden, mußte die Schlesische Armee, die zwei Tage früher ohne Kampf hätte Paris nehmen können, auf Allerhöchsten Befehl einen Umweg um die Stadt machen. Die Folge war, daß die Marschälle Mortier und Marmont noch mit ihren Truppen zur Verteidigung herankommen konnten, und daß noch viel Blut fließen mußte, ehe Paris sich ergab. Auch vom geheiligten Blut der Garden, die sich mit gewohnter Tapferkeit schlugen, als sie endlich mal ran durften.

Blücher machte aus Wut den Einzug nicht mit.

Yorck lehnte auch ab mit der Begründung, er hätte keine Pariser Kleider mit.

Blücher war gesundheitlich wieder obenan. Seine Augen mußten aber immer noch von einem Schirm geschützt werden. Mit dem grünen Damenhut wagte er aber bei all seiner Tapferkeit den Parisern doch nicht zu kommen. Zu Pferd war er noch nicht gewesen. Aber sein Mundwerk war wieder instand, und die Galle funktionierte, wie sie sollte.

Der Einzug war schon seit mehreren Stunden vorüber. Vorher, schon in aller Frühe, hatte der Maire irgendeines Pariser Arrondissements nebst einer Bürgerdeputation bei Blücher vorgesprochen, um ihm ihre ehrerbietigsten Grüße zu Füßen zu legen und ihn zu bitten, die Bürgerhäuser von Einquartierung zu befreien.

Das fand Blücher empörend.

Seinen braven Schlesiern zuzumuten, auf den Straßen zu kampieren, mit Tausenden von reich ausgestatteten Häusern vor Augen! Das ginge doch zu weit.

»Rühle!« rief er seinen Adlatus herbei. »Er kann ja mit denen parlieren! Sage Er ihnen von mir: der Tyrann hat alle Hauptstädte besucht, geplündert und gestohlen. Wir wollen uns so was nicht zuschulden kommen lassen. Aber unsere Ehre fordert das Vergeltungsrecht, ihm in seinem Neste den Besuch zu erwidern, und da wäre es wohl doch nicht zuviel, wenn wir allesamt mit Speise und Trank ordentlich bewirtet und gut einquartiert werden. Wir lassen unsere Gäste nicht auf der Straße schlafen! Da sollen sie nur die französischen Soldaten fragen, wie sie's bei uns gehabt haben! Sage Er's! Nein! Warte! Er ist ein Filou! Ich sag's ihnen selbst!«

Er stellte sich dann breitbeinig vor der Bürgerdeputation auf, bohrte seine Blicke in sie und fing mit weithin schallender Stimme an: »Messieurs!« Und dann war er mit seinem Französisch zu Ende.

»So,« rief er dem Major Rühle zu, nun sage Er ihnen den Rest! Aber ohne Firlefanzen!«

Und er guckte dem Major höllisch auf die Lippen, als der seinen Auftrag erledigte, und begleitete jeden Satz, den dieser sprach, mit so drohenden Blicken auf die braven Pariser Bürger, daß sie darob eigentlich hätten in die Erde sinken müssen, was sie aber lieber unterließen.

Am meisten regte sich Blücher an dem Tage über die Monarchen auf.

Nach dem Einzug hatten sie nichts Eiligeres zu tun gehabt, als sich zu einer Sitzung bei Talleyrand zusammenzufinden, um über das Schicksal Frankreichs, zu dessen Herbeiführung sie selbst so wenig getan hatten, zu beschließen.

Der Zar, der König von Preußen, Nesselrode, Talleyrand und andere traten da zur Beratung an. Aber Blücher, dem in erster Reihe der große Sieg zu verdanken war, wurde nicht gebeten.

Sie beschlossen sofort die Absetzung Napoleons und verwarfen einstimmig die Nachfolge seines Sohnes.

Talleyrand, bis vor wenigen Tagen der getreue Minister und Sachwalter Napoleons, nahm dann das Wort und behauptete dreist: ganz Frankreich sehne sich unaussprechlich nach der Rückkehr der Bourbonen. Man möge den Franzosen ihr geliebtes Königshaus wieder bescheren.

Die Fürsten und ihre Berater staunten. Wo sie durchs Land gekommen waren, hatten sie nirgends eine Begeisterung für das alte Königshaus bemerkt, wohl aber immer noch für den Kaiser.

Sofort hatte Talleyrand ein paar Leute bei der Hand, die Stein und Bein schwuren: das französische Volk in seiner überwältigenden Mehrheit wünsche nichts sehnlicher, als die Schuhsohlen der Bourbonen zu lecken.

Es waren ein paar Leute von jener Sorte, die bei Umwälzungen stets gleich bei der Hand sind, um sich auf irgendeine bemerkbare Stelle vorzudrängen, indem sie tun, als ob eigentlich sie die siegreiche »Bewegung« geleitet hätten, und deshalb als Lohn die lukrativsten Posten beanspruchen könnten. Sie sprachen beredt, sie sprachen tiefbewegt, mit dem Brustton des überzeugten und doch so besorgten Patrioten. Und man war viel zu gut erzogen, um das nicht zu goutieren. Dem guten französischen Volk dürfe man einen mit solcher Inbrunst vorgebrachten Herzenswunsch nicht versagen.

Der König von Preußen saß ganz teilnahmlos da.

Zar Alexander blickte ihn von der Seite an und dachte an Tilsit und an seine Begegnung mit Napoleon auf dem Memelfluß, wo sie mit leichtem Herzen über das Schicksal Preußens hinweggegangen waren. Er dachte an sein Versprechen an den König von Preußen. Und dabei fiel ihm ein, daß er auch heute sein Wort verpfändet hatte und also verhindert war, ohne weiteres der Rückkehr der Bourbonen zuzustimmen. Eine lästige Sache! Aber ein Wort ist ein Wort! Und hätte er es Bernadotte nicht gegeben, er hätte ihm Finnland zurückgeben müssen, um seine und Schwedens Teilnahme am Kriege zu gewinnen! Jetzt war ja der Krieg glücklich gewonnen! Aber trotzdem –

Der Zar ließ also lässig ein paar gleichgültige Worte über Bernadotte fallen und fragte die erlauchte Versammlung, ob es sich nicht empfehle, diesen bei den Franzosen angeblich so beliebten Fürsten mit der Regierung Frankreichs zu betrauen.

Gleich hatte Talleyrand wieder einen anderen Kronzeugen bei der Hand, der hoch und heilig beteuerte, in der ganzen Armee wäre Bernadotte als Mensch und Soldat gleich verächtlich. Man wollte keinen Militär an der Spitze des Staates mehr. Wollte man das, so hatte man ja Napoleon, den ersten Soldaten der Welt, und brauchte keine von seinen Kreaturen zu nehmen.

Wozu denn das ganze Blutvergießen, wenn alles beim alten bliebe?!

Das sahen die Monarchen auch gnädigst ein. Und damit die Sache einen Sinn bekäme – denn die Befreiung Deutschlands genügte den Herren nicht – so stimmten sie also bei.

Da Talleyrand in seinem unerschöpflichen Vorzimmer auch einen Buchdrucker bereitgestellt hatte, dem er den von ihm bereits im voraus aufgesetzten Beschluß der Majestäten übergeben konnte, so durfte das französische Volk schon nach einigen Stunden an allen Straßenecken lesen, was es gewollt hatte und wonach es sich so sehr gesehnt hatte, und wußte also Bescheid, wußte, welche Wohltat es den fremden »Befreiern« verdankte, und wie unaussprechlich glücklich es fortan sein könnte, seinen kriegerischen Tyrannen gegen einen in der einzig richtigen Weise von Gottes Gnaden geborenen einzutauschen. Das heißt – insofern es lesen konnte.

»Darum Räuber und Mörder!« sagte Blücher gallig, als ihm das klägliche Resultat so vieler Opfer mitgeteilt wurde. »Darum haben also die Besten unter uns ihr Leben lassen müssen – darum haben meine Leute sich blutig geschunden und gehungert und gefroren, damit dieses dicke Schwein von einem Bourbonen, dieser Louis dixhuit, auf dem Nachtstuhl seiner Väter soll sitzen können!«

Er lachte grimmig auf, erhob sich und ging hinaus, um seinen Truppen Lebewohl zu sagen.

Denn er machte die Sache nicht mehr mit, er wollte schon heute seinen Abschied nehmen. Weder fragte man ihn um Rat, noch hörte man auf seine Wünsche.

Er hatte hundert Millionen Kontribution von den Parisern allein für Preußen verlangen wollen, um die Armee einzukleiden und ihre rückständige Löhnung auszuzahlen. Aber der König, der es hatte zugeben müssen, daß seinem eigenen armen Volk in den paar Jahren französischer Besetzung anderthalb Milliarden abgepreßt wurden, er wollte nicht so »inhuman« an den Parisern handeln. Das heißt, er wurde zu dieser Weichherzigkeit von seinem lieben Vetter, dem Zaren, angehalten, der sich plötzlich als eingefleischter Freund und Beschützer alles Französischen entpuppte. Der König vertröstete also seinen Marschall mit baldiger Zahlung der rückständigen Löhnung aus den leeren Kassen in Berlin, was diesen noch mehr in Harnisch brachte.

»Wir werden uns noch auf Befehl besiegt fühlen müssen, nachdem wir einen Siegeslauf sondergleichen gemacht haben!« rief er. »Wir werden noch draufzahlen müssen, statt für unsere verwüsteten Fluren und versengten Städte, für unsere geleerten Kassen und gestohlenen Kunstwerke Ersatz zu bekommen! Blutegel müßte man den Franzosen ansetzen, um ihnen das geraubte Geld wieder abzusaugen! Aber nein! Die sollen ihr Land ungeschmälert behalten und den ganzen Raub desgleichen! Hol' sie der Teufel! Na – wenn der König so den ganzen Gewinn verspielt, da fange ich auch wieder mit dem Spiel an! Da wird wieder fröhlich die Karte gebogen! Ich will mal sehen, ob ich den Franzosen nicht wenigstens so einen Teil des vielen Geldes wieder abknöpfe, was er bei uns eingesackt hat! Ich hätte ja gern meine Ruhe! Aber wenn's nicht anders ist – wenn's durchaus sein muß, ich arbeite ja gern fürs Vaterland! Ich nehme von heute ab mein Hauptquartier im Palais Royal!«

Vergnügt schmunzelnd, in der Vorfreude dieses neuen unblutigen Feldzuges gegen den Erbfeind, trat er vor die Front und redete die Leute an.

»Kinder!« sagte er, »jetzt seid ihr die Ohnehosen, aber von der richtigen Sorte – wat een Büx nich ist, aber een Bangbüx ooch nich! Ich hätte gewünscht, daß ihr, dreckig wie ihr nun einmal seid, an der Spitze des Heeres beim heutigen Einzug den Parisern gezeigt hättet, wie ein Sieger eigentlich aussehen soll und was für ein Teufelskerl das ist! Das hätte den Affen wohlgetan! Ihre Leute sind uns oft genug in abgerissenem Anzug gekommen. Sie haben von unseren Bauern Champagner verlangt und sie geprügelt, wenn sie keinen bekamen. Von denen hättet ihr Weißbier fordern und es in der gleichen Münze bezahlen müssen. Was dem einen recht ist, ist dem andern billig. Ich habe für euch sorgen wollen, ich habe Kleider, Geld und gute Quartiere verlangt, es ist mir aber nicht gelungen. Ich setze es noch beim König durch, darauf gebe ich euch mein Wort! Ihr sollt wissen, daß euer Vater Blücher an euch denkt, auch wenn er nicht mehr unter euch weilt. Ich lege heute das Kommando über euch nieder. Es war ein langer Spaziergang, den wir miteinander gemacht haben, von der Katzbach bis zum Montmartre, was soviel wie der Berg der Schmerzen heißen soll. Mancher brave Mann unter euch hat unterwegs ins Gras beißen müssen. Aber wir sind gut miteinander ausgekommen. Ich war mit euch stets zufrieden. Und wenn ich's euch nicht immer recht machte – es war immer gut gemeint und nach bestem Können getan. Aus seiner Haut kann keiner. Ich am allerwenigsten. Und deshalb gehe ich. Denn wenn die Diplomatiker jetzt anfangen zu negoziieren, da ist es für mich Zeit, mich zur Ruhe zu setzen. Wo ich aber meinen Ruhepunkt finden werde, weiß der Kuckuck. Am Ende gibt's für mich hier keinen in dieser unruhigen Welt! Na – gehabt euch wohl, Kinder! Seid vergnügt und denkt einmal zurück an euren alten Marschall Vorwärts!«

Donnernde Hurrarufe beantworteten den Abschiedsgruß, und Blücher rieb sich verstohlen die Augen, als er vom Gefolge begleitet an den Wagen ging.

»Der König hat mich zum Fürsten machen wollen«, sagte er dabei zu seinen Begleitern. »Das ist nichts als Niedertracht! Das ist die Rache dafür, daß ich sooft auf das Fürstengesindel geschimpft habe, das wir überall mit rumschleppen müssen, und das nur jeder freien Bewegung im Wege ist. Ich habe abgelehnt. Ich habe ihm geantwortet, ich hätte nicht so viel Geld, um fürstlich zu leben. Ob er das wohl begriffen hat?« wandte er sich zu den Offizieren mit einem schelmischen Augenzwinkern. »Er ist ja ein höllischer Rechenmeister geworden. Immer noch läßt er mich als Feldmarschall mit Generalleutnantsgehalt leben. Er denkt wohl: du kannst dir mit Belohnung und Vergeltung für den alten Kerl Zeit lassen, er geht wohl ab, und da heißt es: das Kind ist tot, die Gevatterschaft hat ein Ende! Nun, vorläufig tue ich ihm nicht den Gefallen! Er wird schon blechen müssen!«

Er drückte den Offizieren die Hände, setzte sich neben seinen Adjutanten in den Wagen, drückte seinen grünen Schirm über die Augen, ließ die Soufflette aufschlagen und fuhr so, von keinem erkannt, durch die Abenddämmerung, ohne Eskorte, ohne Musik und hurraschreienden Pöbel in das von ihm eroberte Paris hinein.


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