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In Moskau entfaltete sich der Winter in seiner vollen Pracht. Die Vorstellungen des kaiserlichen Balletts lockten die ganze Aristokratie herbei, und im Klub der Adligen jagte ein Ball den andern. Der Fürst Wladimir kaufte für eine Schöne aus Argentina eine Perlenreihe, von der die ganze Stadt sprach; das Geld, das im Sommer -- dank der schweißtriefenden Arbeit der Bauern -- auf den Ackerfeldern, ferner in den Fabriken Polens und in den Bergwerken des Ural sich angesammelt hatte, ergoß sich klingend und klirrend über die Geschäftsläden. Es war ein sorgloses, den Freuden gewidmetes Leben; es gab weder politische Attentate, noch Pogrome, und die Leute lebten flott in den Tag hinein.
Therese hatte sich in ihrem warmen Neste behaglich eingerichtet. Sie besuchte nicht mehr das Café Metropole, sondern die vornehme Zuckerbäckerei Einem auf der Petrowka. Sie vergaß gänzlich die Madame Amélie und die Lencsi und verzichtete auf den Traum, Solistin zu werden. Wozu auch? Sie würde doch ihr ruhiges und angenehmes Leben nicht gegen ein Dasein voller Aufregungen vertauschen, sondern Rubel auf Rubel legen und sobald sie genug Geld hatte, alle Schulden, die sie daheim hatte, bezahlen, dann noch einige Jahre in Moskau bleiben; nachher aber wollte sie heimreisen und sich in Budapest als unabhängige Dame niederlassen. Um die Moral, um die Meinung der Leute würde sie sich nicht kümmern. Die Welt hätte sie Hungers sterben lassen. Die Leute schimpfen über die Sittenlosigkeit, aber die sittliche Armut beachten sie nicht, oder wenn doch, so blicken sie verächtlich auf sie herab. Jetzt hatte sie monatlich achthundert Rubel, wovon sie dreihundert weglegte; sie bekam Kleider, Juwelen, sie hatte eine schöne Wohnung und es kam noch die Zahl der reichen Geschenke hinzu. Sie würde immer darauf bedacht sein, nicht geldgierig, habsüchtig zu erscheinen, doch sie würde durch Liebenswürdigkeit und Klugheit an das Ziel gelangen. Sie wollte leidenschaftlich sparen, was früher nicht der Fall war. Es bereitete ihr eine kindische Freude, die Rubelnoten in die Sparkasse zu tragen; nach Hause hatte sie nur ein einziges Mal vierzehn Rubel für das Klavier gesandt. Würde das ein Freudentag werden, wenn sie mit Geld beladen plötzlich heimkehrte und ihre Mutter von Szent-Lörincz nach Budapest zurückführte; dort würden sie leben, bis jemand kam, der sie heiratete.
Nur wenn sie hieran dachte, wenn sie des Unbekannten gedachte, der sie abholen soll, hatte sie die Empfindung, nicht so zu sein wie die anderen Mädchen, daß die unschuldige Armut über ihr stehe, daß sie für Jurakowski, für Wolkow zahlen, büßen müsse. Es erfaßte sie die Rührseligkeit der Ausgehaltenen, der Vengerkas, die alle so denken. Die gesellschaftlichen Schranken und Sitten sind von solch gewaltigem Zauber, daß die außerhalb derselben Stehenden sie in Ehren halten und Sehnsucht darnach tragen.
Wolkow konnte sie nicht zur Frau nehmen, übrigens würde sie ihn nicht heiraten. Wohl war er zärtlich und fein; was ihr aber an ihm nicht gefiel, war, daß er so verträumt war und so leise sprach. Er hatte keine rechte Kraft, kein Blut, als wäre er gar nicht von dieser Welt. Und sie konnte ihm nicht verzeihen, daß er sie zu seiner Frau hinausgeführt und sie ihr gezeigt hatte. Er erläuterte ihr vergeblich, wie tiefmenschlich und rührend schön das sei, sie begriff es nicht.
»Weißt du, Margarete,« erzählte sie ihrer Freundin, »ich wurde schamrot und habe mich vor der armen, kranken, alten Frau so geschämt.«
Margarete war die offizielle Geliebte eines Freundes Wolkows, des Nikolaj Kurz. Dieser kurländische Deutsche mit den farblosen Augen und dem sommerfleckigen Gesichte hatte in Moskau eine Fabrik für Bade- und Wasserleitungs-Einrichtungen. Er war kein junger Mann mehr, viel älter als Wolkow, nahe an die Sechzig. Er hob Margarete aus dem Vengerski-Chor der Strelna heraus und liebte sie mit der ganzen Wärme seines dicken, asthmatischen Wesens. Margarete, eine kleine, dicke Blondine, fühlte sich schon ganz als Russin und war schon seit langen Jahren nicht zu Hause gewesen. Ihr Vater war Kellner in einem Café der Budapester Ringstraße; später ging er nach Amerika und man hörte nichts mehr von ihm.
Und doch wäre er stolz auf seine Tochter gewesen, aus der eine Dame der Gesellschaft geworden war. Sie hatte eine schöne Wohnung und lebte ruhig und zufrieden wie Therese, mit der sie durch Vermittlung ihres Freundes Bekanntschaft schloß. Die ausgehaltenen Vengerkas hatten so ihren eigenen Kreis. Sie verkehrten nicht weiter mit den Mitgliedern des Chors, sie standen schon höher, vergaßen ihre Vergangenheit und verkehrten nur untereinander. Sie soupierten mit ihren Freunden im Restaurant der »Eremitage«, kamen am Nachmittag bei Cadet oder Einem zusammen, erschienen bei den Pferderennen in ihren eigenen Wagen. Jede hatte ihren Schlitten, und wenigstens einmal wöchentlich besuchten sie einander.
Für heute nachmittag hatte sich Margarete bei Therese Wolkow angesagt. Zufällig war auch Wolkow in Moskau und Nadinka bereitete sich für den Nachmittag vor. Die Ungarmädchen bekamen eine ungarische Jause, Schokolade, belegte Brötchen und Süßigkeiten. Waren sie beisammen, so war der Samowar verpönt; sie spielten Budapest und spielten nach der Jause mit ihren Freunden Makao. Sie trieben allerlei Narrheiten, die Männer unterhielten sich dabei und verloren ihr Geld in bester Laune.
Um vier Uhr klingelte es im Vorzimmer und Margarete trat mit Nikolaj Kurz ein. Margarete strahlte vor Freude und in den Mienen des Nikolaj Kurz lag eine besondere Feierlichkeit.
Therese trug ein japanisches Seidenkimono, Wolkow einen Muschik-Anzug, Margarete eine Straßentoilette nach der letzten Mode, Nikolaj Kurz ein schwarzes Jakett und eine gestreifte Hose. Trotzdem er schon zehn Vorväter hatte, die in Rußland lebten, blieb er doch ein echter Deutscher. Seine Weste spannte sich auf seinem Bauche, als wäre sie über ein Bierfaß gezogen; seine dicke Goldkette funkelte etwa einen Viertelmeter vor seinem dicken Doppelkinn; seine grauen Haare waren rückwärts kurzgeschoren, die Stirne war bis zum Hinterkopf von schwachem Schweiß bedeckt. Er sprach rasch und schnaubend, war die verkörperte Güte, bat fortwährend um Entschuldigung. Sein Gesicht ähnelte dem eines dicken Buldogg, um die Schläfen herum war er voller Sommerflecke. Er war ein großer, gutmütiger, dicker Hund.
Er küßte Therese die Hand, klopfte Wolkow auf die Schulter und setzte sich.
»Eine große Neuigkeit!« sprach plötzlich Margarete die Therese ungarisch an.
»Nye ... nye vengerski«, unterbrach sie Nikolaj Kurz plötzlich.
»Fürchtest du etwa, verkauft zu werden?« meinte Wolkow lachend.
»Ich bin schon verkauft! ... das heißt, sie hat mich verkauft!« seufzte der Alte schmerzlich.
»Was soll das heißen?«
»Ich wage kaum, es zu erzählen ... ich schäme mich so ...«
»Gewiß hat er etwas sehr Liebes und Gutes getan!« meinte Therese, ihn am Kinn zupfend.
»So einen goldigen Kerl gibt's in ganz Rußland nicht! ... Was?« sagte Margarete, ihn in der Mitte der Stirn küssend.
»Da bin ich wirklich neugierig,« sprach Wolkow.
»Ihr werdet mich auslachen ... Aber der Mensch ist schwach und diese kleine Teufelin so schlimm ...« sprach er und klopfte Margarete auf die vollen Schenkel. »So wie ihr uns da seht, machen wir eine Abschiedsvisite.«
»Reist ihr fort? Fährst du vielleicht nach Hause, Margarete?«
»Nein ... es ist viel schlimmer ... viel schlimmer ...«
»Viel besser ... viel besser!« sprach Margarete, sich dankbar an ihren dicken Hund schmiegend.
Jetzt sprach Wolkow:
»Nikolaj, du bist sehr weich und zur Rührseligkeit neigend ... Wahrscheinlich willst du sie heiraten ...«
»Das nicht ..., aber ich verheirate sie.«
Es wurde still im Zimmer. Therese begriff nicht, was geschehen war. Wolkow wurde plötzlich ernst und nachdenklich, Margarete lehnte den Kopf zärtlich an die breite Schulter Nikolajs ... Aus dem benachbarten Zimmer hörte man das Ticken der Pendeluhr deutlich herein.
Therese brach das Schweigen:
»Als ich die Theaterschule besuchte, nannten wir solch wirkungsvolle Stellen »dramatische Wendungen«. Ich gratuliere dir, Margarete. Also du sollst heiraten. Ist er ein Ungar?«
»I, wo denn?« antwortete Margarete kopfschüttelnd.
»Also Russe.«
»Ja ...«
»Reich?«
»Nein ...« sagte Margarete, den Kopf abermals schüttelnd und einen Kuß auf Nikolajs Glatze drückend.
»Mein Hündchen gibt die Mitgift, dreißigtausend Rubel.«
»Bravo, Hündchen, das war hübsch von Ihnen«, meinte Therese begeistert. »Der Kavalier bleibt immer Kavalier.«
Wolkow zündete eine Zigarette an, was bei ihm stets ein Zeichen von Nervosität und Grübelei war. Er rauchte selten; nur dann, wenn ihm etwas nicht in den Kram paßte. Er sprach kein Wort und blies große Rauchwolken vor sich hin. Endlich sprach er in dem gewohnten leisen, entschiedenen Tone:
»Aber Nikolaj, wenn du sie liebst, wie kannst du sie an einen andern verheiraten? Und wenn sie dich geliebt hat, woher kommt denn der andere?«
»Er kommt halt ... Er kommt nur so auf einmal ...« erwiderte Nikolaj sehr rasch. »Er kam plötzlich zum Vorschein und ich liebe sie so sehr, daß ich nicht anders handeln kann. Damit du nicht an einen Ritterroman denkst, will ich dir den Hergang erzählen ... Wie heißt er nur? Ein schnurriger Name ... Wie? Margarete?«
»Nedelko Zoroastrow.«
»Also ... Nedelko Zoroastrow. Den Namen werde ich nie erlernen. ... Es ist nicht hübsch, Finanzfragen zu behandeln, aber mir war es schon seit Monaten aufgefallen, daß Margarete mit ihrem Monatsgelde nicht auskam ... Was, Margarete? Ich war nie argwöhnisch oder eifersüchtig, aber ich will doch immer wissen, was mit dem Gelde geschieht ... Meine Vorfahren waren Deutsche ... Das Geld verrät eben alles, das Geld sagte mir auch da, daß es beginnt, nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Woher das kam, mußte ein so erfahrener Geschäftsmann wie ich bald herausfinden.«
Er sprach rasch, schnaubte geräuschvoll, streckte seine kurzen Beine von sich, so daß sein Bauch förmlich nach vorwärts sprang; wie das bei dicken Leuten schon ist, schien die ganze Gestalt mehr schief zu liegen, als zu sitzen ...
»Und als Margarete am Zwanzigsten des Monats wieder einmal kein Geld hatte, nahm ich sie ins Gebet. Was geht denn da vor? Ich will alles wissen, ich mag nicht hinters Licht geführt werden. Sieht man klar, so ist man nicht mehr dumm. Und nach etwa zehn Kreuzfragen kroch der ... wie heißt er nur?«
»Nedelko Zoroastrow ...«
»Ja ... der Nedelko Zoroastrow kroch heraus. Hörer der Medizin. Sie wurden in einem Spital miteinander bekannt, wo eine Ungarin lag ... Er ist ein trefflicher Student und absolviert jetzt den letzten Jahrgang. Sein Vater ist ein armer Schmied irgendwo in Kirensk, in Sibirien. Ich ließ den Jungen kommen ... er ist ein verträumter Tolstoianer mit langen Haaren. Er will nicht in der Stadt bleiben, er sagt, der Arzt soll dort leben, wo viele arme Leute wohnen, und wo es wenige Ärzte gibt. Er will nach Kirensk zurück. Und diese da? Sie hat sich in ihn verliebt. Sie kaufte ihm Bücher, Stiefel, zahlte die Prüfungsgelder, kaufte Instrumente, damit der Zoroastrow Präparate machen konnte ... Würde man ihr derlei zumuten? Unerhört! Ich war ganz gerührt davon.«
Er erhitzte sich während der Erzählung. Man sah ihm sein Alter sonst nicht an, aber jetzt, als seine Stimme vor Rührung weicher wurde, verriet sich sein Alter. Hündchen war ein lieber, alter, weichherziger Mann. Er blickte um sich, als wollte er die Liebe sammeln, die Margarete für ihre Güte und Zärtlichkeit gebührte. Sie streichelte sein feistes Gesicht.
»Mein Gott, ich kann doch nicht so selbstsüchtig sein, dem Glücke der jungen Leute im Wege zu stehen? Zoro ... oder wie er heißt, hat sich in sie verliebt, das ist selbstverständlich. Er ist ja jünger als ich, und so will Margarete ihm folgen. Aber, lieber Freund, sicher ist, daß bisher nichts zwischen ihnen geschehen ist. Was, Margarete?«
Er sprach diese Worte mit so viel ehrlicher Überzeugung aus, daß Therese sich nicht meistern konnte und in ein helles Gelächter ausbrach.
»Was lachst du? Glaubst du es vielleicht nicht? fragte Margarete mit erheuchelter Entrüstung, Therese in den Arm zwickend.
»Ich lache, weil Hündchen so allerliebst erzählen kann ... Weiter, weiter, Sie Zuckerlmensch.«
»Weiter geht's nimmer. Ich kann ja die Bade- und Wasserleitungseinrichtungen doch nicht ins Grab mitnehmen. Liebt sie ihn, so mag sie ihn heiraten. Sie bekommt von mir eine Mitgift von dreißigtausend Rubeln; dort in Sibirien ist das viel Geld. Dich, Margarete, bitte ich, in Sibirien das Wundermittel zu kaufen, das aus dem Geweih des Renntiers bereitet wird ... Es gibt dem Menschen die Jugend wieder, ich werde die Weiber von neuem lieben können! ...«
»Hündchen, du bist lieber und jünger als alle Jungen zusammengenommen und ich bin ein undankbares Schweinchen, aber du verzeihst mir, nicht wahr?«
Sie umarmte ihren dicken Freund, Therese streichelte ihn von der anderen Seite her, so daß die kugelrunde Güte vor Rührung beinahe Tränen vergossen hätte. Er empfand die metaphysische Freude, ein gutes Werk getan zu haben.
»Die Hochzeit findet nächste Woche statt; ich habe die Ehre, euch einzuladen!«
Mit diesen Worten Margaretens schloß der Nachmittagsbesuch. Therese rief ihr nach:
»Morgen mittag besuche ich dich ... du mußt mir alles erzählen.«
Sie ging in das Zimmer zurück. Wolkow stand am Fenster und betrachtete die Glasscheibe, als wollte er hinter ihr seine eigenen Gedanken suchen.
Therese trat hinter ihn und klopfte ihm zärtlich auf die Schulter:
»Ho! ... erwache! ... was ist's denn?«
Der Mann wendete sich um und blickte innig, doch schmerzlich Therese in die Augen. Dann legte er die Hand um ihren Leib und führte sie zu einem Fauteuil, setzte sich und zog sie in den Schoß.
»Die Geschichte Nikolajs ist hübsch, nicht wahr?«
»Sehr lieb,« erwiderte sie heiter.
»Und glaubst du nicht, daß zwischen ihr und Zoroastrow doch etwas gewesen sein muß?«
»Ich glaube nicht ... möglich ... aber warum?«
»Weil es eines schönen Tages jedem so ergehen kann ...« und leise fügte er hinzu: »auch mir ...«
»Willst du dich mit mir zanken, dann sprich nur so. Sollte einer kommen, der mir besser gefällt, so werde ich mich nicht schämen, es dir zu sagen.«
»Also kann einer kommen?«
Er drückte ihr die Hand in derselben Weise wie damals in der Yard. All sein Leiden, seine ganze Kraft war in diesem Händedruck enthalten. Seine Stimme wurde verschleiert, dumpf und ein Nebel senkte sich ihm auf die Augen.
»Also es kann, es kann einer kommen?«
»Wie dumm bist du doch!«
»Nein. Das ist es, was ich fürchte. Wir Männer gehen ahnungslos in der Welt herum, irgendwo, in einem entlegenen Winkel der Welt gibt es ein Weib, das wir lieben, für das wir leben und kämpfen ... Aber ewig haben wir das Gefühl, daß einer kommen kann. Dieser Gedanke träufelt sich tiefer als irgendein Gift in die Seele ... Therese!«
Er ließ den Satz unvollendet und blickte nachdenklich, traurig vor sich hin. Noch nie hatte Therese ihn so gesehen, noch nie hatte er so angsterfüllt und eifersüchtig gesprochen. Die Erzählung Nikolajs hatte ihn verwirrt und seinen Argwohn wachgerufen. Das Mädchen empfand beinahe Mitleid für ihn, als der mächtige, starke Mann so von Zweifeln geplagt dasaß und den unsichtbaren Faden suchte, der da ist und doch nicht da ist.
Wolkow wandte ihr ganz langsam den Kopf zu und fragte sie zum ersten Male im Leben:
»Liebst du mich?«
Therese war betroffen. Sie konnte nicht gut heucheln. Da sie Wolkow nicht liebte, konnte sie ihm nicht Empfindungen vorgaukeln. Sie war ihm gut, sie war ehrlich und folgsam, sie erfüllte ihr Versprechen, war seine Freundin. Aber sie konnte es nicht über sich bringen, ihm zu sagen, daß sie ihn nicht liebe. Hier konnte nur eines helfen.
»Was soll ich auf diese Frage antworten? Ich könnte doch nur mit Worten erwidern. ... Und doch ist etwas da, was viel mehr bedeutet ... Schon seit Tagen bereite ich mich darauf vor, aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen soll. Ich glaube, ich werde ein Kind bekommen.«
Sie sprach einfach und ruhig.
Doch Wolkows Gesicht erstrahlte in der Röte der plötzlichen Freude, er sprang auf und drückte Therese glücklich an sich, er hob sie empor.
»He! ... He! ... Haha!« schrie er ohne Zusammenhang und er lachte glücklich. »Ist es wahr? Ist es auch wahr?« frug er zehnmal nacheinander aufgeregt. »Therese! ... Therese!«
Tränen brachen aus seinen Augen, seinen tiefen, ehrlichen Männeraugen hervor; sie sah, daß die Empfindung aus seinem Innersten hervorquoll.
»Ach, welche teure Worte! ...« sprach er ganz selig, indem er Therese lange und innig küßte. »Sag' es noch einmal, ich will es hören, nochmals hören.«
Und Therese wiederholte:
»Schon seit zwei Wochen weiß ich, daß ich ein Kind haben werde ...«
»Und erst jetzt, erst jetzt sagst du es mir! Zwei glückliche, wunderschöne Wochen haben wir da verloren! Aber nichts ... es tut nichts ... Der Augenblick, den ich soeben durchlebte, übergoß mich mit den Freuden vergangener und kommender Zeiten ... Zeige dich, zeig' dich doch! ...«
Er stellte Therese in die Mitte des Zimmers, nahm sie in die Arme, maß sie mit einem zärtlichen Blicke vom Scheitel bis zur Sohle und meinte lächelnd:
»Es ist noch nichts zu merken ...«
»Du Närrchen!« rief sie lachend.
Die schwärmerische, hingebungsvolle Seligkeit Wolkows gefiel ihr sehr.
»Morgen reise ich nach Hause ... zu meiner Frau ...« sprach er. »Ich will es ihr erzählen, sie wird gewiß auch glücklich sein. Später, wenn die Zeit kommt, wirst du ebenfalls zu uns kommen und die letzten Monate dort verbringen. Es wird ein Mädchen sein. Ich will ein Mädchen haben, sie soll sein wie ihre Mutter. ...«
Und er umarmte sie von neuem, als wollte er ihr seine eigene Kraft, das eigene Leben geben.
»Wein, ich will Wein trinken«, rief er schließlich laut und heiter, »und Wiegenlieder will ich hören. Heute abend gehen wir in die Yard, um den Zigeunerchor zu hören.«
Der Gedanke gefiel auch ihr. Seitdem Sudakow den ungarischen Chor hinauswarf, war sie noch nicht dort gewesen. Einmal war sie im Café Metropole, wo sie erfuhr, daß keine Versöhnung stattgefunden hat und Amélie den halben Chor in den Morgenstunden in den »Traktiren« singen ließ, wo die Lumpen Moskaus nach den Vorstellungen der Yard und der Strelna zu zechen pflegen. Die andere Hälfte des Vengerski-Chors gab in großen Speisesälen und Klubs Konzerte. Aber sie wußte nichts davon, was in den letzten Wochen mit dem Vengerski-Chor geschehen ist.
Am Abend beschlossen sie, in der Yard zu nachtmahlen. In Pelze gehüllt -- Wolkow gab jetzt besonders acht auf sie! -- glitten sie auf dem klingelnden Schlitten über die Petrowka; im Tore der Yard hob sie der mächtige Portier im Riesenpelz ehrerbietig aus dem Schlitten, aber sie hatte noch Zeit genug, auf die andere Seite hinüberzublicken, wo die unansehnliche Heimstätte der Vengerkas zwischen den anderen Häusern verborgen dastand. Wie oft war sie über die kotige Gasse gelaufen, wie viele arme Vengerkas waren schon auf dem kurzen Wege hin- und hergetrippelt! Sie setzten sich in der ersten Reihe, in der Nähe des Orchesters. Die Musikanten stimmten noch ihre Instrumente, Jurakowsky war noch nicht im Saale. Zu Ehren des großen Tages bestellte Wolkow gleich Sekt. In den Logen saß noch kaum einer. Der Proswoditl machte die Runde und verneigte sich vor Wolkow, der früher häufig hier Gast war, seit einiger Zeit aber ausblieb. Der Geschäftsführer glaubte, er sei vielleicht aus dem Grunde ausgeblieben, weil der ungarische Chor hinausgeworfen wurde. Er trat zu ihrem Tische.
»Guten Abend, Herr Wolkow. Der Herr Direktor hat sich vor drei Tagen mit dem Vengerski-Chor versöhnt. Sie singen ja schon wieder, und es sind neue Mädchen von Budapest gekommen.«
Der Vorhang ging in die Höhe und die Truppe der Madame Amélie strömte auf die Bühne, eine schäbige, müde Herde. So gelangweilt, mit einem so erzwungenen Lächeln stand auch sie auf der Bühne? Sie suchte mit den Augen Karoline und fand sie auch. Also sie kam zurück? Aber was geschah mit Lolita? Alle sind ja da, dort die Manci, dort die Irene. Sie tragen neue Kostüme, die sie vielleicht in ihrer Freude über die Versöhnung angeschafft haben. Die Armen! jetzt beginnen sie zu singen.
Das Lied: »Nádfedeles kis házikóm leégett az éjjel!« ertönt, dann folgt gleich »An der schönen blauen Donau«, dann der Tanz Mancis und eines neuengagierten jungen Mannes. Vielleicht haben sie Therese bemerkt, denn sie stoßen sich mit den Ellbogen und Karoline scheint ihr lächelnd zugewinkt zu haben. Aber Therese vermag nicht mehr die Vorstellung zu verfolgen, ihr Herz pocht stürmisch, rasch setzt sie das Glas an die Lippen, um ihren Schrecken, ihre Verlegenheit zu bemänteln. Jurakowsky war eingetreten und nahm auf dem Stuhle des Kapellmeisters Platz. Er warf das rechte Bein nachlässig über das linke, wandte sich halb um und musterte das Publikum. Wie schön er auch heute abend war! Schade, daß sie ihn seither nicht gesehen! Dann würde sich der Arme da neben ihr umsonst freuen, dann wäre vielleicht Jurakowsky Vater des Kindes? ...
Der Grieche ließ den Blick über das Publikum schweifen ... jetzt war er bei ihnen angelangt ... Therese erbleichte, ihre Lippen erzittern kaum merklich; doch Jurakowsky verzog keine Miene, er blieb regungslos wie eine Statue, er winkte nicht, er zwinkerte nicht einmal. Als alter Theatermann wußte er, daß es sich nicht schickt, daß es gar nicht rätlich ist, ein Mädchen zu grüßen, das mit ihrem Freund erschienen ist. Es wäre töricht, seine Aufmerksamkeit, seine Eifersucht wachzurufen. Die Banditenehre läßt dies nicht zu.
Der ungarische Chor entfernte sich endlich, der Kapellmeister begann zu dirigieren. Therese beruhigte sich. Es fiel ihr ein, daß die Mädchen jetzt unten im Halbdunkel ihr Abendbrot verzehren. Sie wäre gerne hingegangen, um mit den Mädchen zu sprechen, aber sie wollte Amélie nicht der Ehre würdigen, sich mit ihr einzulassen.
»Willst du hier speisen oder oben im Kabinett?« frug sie Wolkow. »Wie? es wäre ganz nett! Ich möchte mit der Karoline sprechen, lassen wir den ungarischen Chor mal blasen ... Endlich bin ich ein tüchtiges Geschäftsmädel geworden. Es ist erst zehn Uhr und ich lasse schon den Chor blasen.«
Sie lachte über den guten Einfall.
Sie gingen in das Kabinett Nr. 5, wo sie am Tage ihrer Ankunft gewesen waren. Sie sah im Geiste die schweigsame, ernste Russenfamilie, die sich Lieder vorsingen ließ.
Beide nahmen Platz, bestellten das Abendbrot und erwarteten den ungarischen Chor.
Therese beschloß, sie nicht »blasen zu lassen«, sie wollte sich mit keiner einlassen, bloß eine Unterredung mit Karoline haben, die ihr ja alles erzählen würde.
Der Kellner des Kabinetts ließ den ungarischen Chor in das Kabinett 5 bestellen.
»Wer zum Teufel will den Chor schon zu so früher Stunde haben?« meinte Amélie. »Gewiß ein gemütlicher Herr!«
Die Mädchen verzehrten ihr Abendbrot in aller Hast, der Inhalt des fettigen Papiers verschwand im Nu; »Eilet! eilet!« schrie Lencsi; alle drängten sich auf der Treppe, um rascher hinaufzukommen; einzelne hatten noch Knochen in der Hand; endlich waren sie vor der Tür, wo sie, wie eine das Peitschenknallen des Viehhirten erwartende Herde, stehen blieben. Amélie ließ den Blick prüfend über die Truppe schweifen; sie selbst ging nicht hinein, sie wollte bloß sehen, ob alles in Ordnung wäre.
»Marsch!« sagte sie, worauf die Tür aufging und die Mädchen hineinströmten. ...
Therese saß, wie einst Julchen Rubinvejer, in der Mitte des Kabinetts vor dem gedeckten Tisch. Sie war bleich und erregt; vor den armen Mädchen wollte sie nicht prunken, indes hätte sie Frau Amélie doch gerne geärgert.
Als die Mädchen Therese erblickten, setzten sie sich, den Regeln des Kabinetts entgegen, nicht nebeneinander nieder, sondern scharten sich lebhaft um sie.
»Virginia! Virginia! ... Wie geht es dir? ... Welche Überraschung ... Wo wohnst du? Wir dachten, du wärest schon nach Hause gereist!« klang es in buntem Durcheinander.
Therese hätte die vielen Vengerkas mit all ihrer Bosheit und Herzensgüte am liebsten auf einmal umarmt. In diesen Mädchen schien sie sich selbst zu bedauern, ihre unverwirklicht gebliebenen Träume, die hoffnungslose Jagd nach der Kunst, auf die sie gleich allen diesen Mädchen ausgegangen war. Selbst die letzte Choristin hat sich einmal eingebildet, die Auserwählte zu sein. Und nun ist sie eine Schlacke des geschmolzenen Edelmetalles der Kunst geworden.
Mit zufriedener Miene sah und hörte Wolkow dem Treiben zu. Erst wenn die Mädel das wüßten, was er weiß!
»Kinder, ihr braucht nicht zu singen, ich wollte euch ja bloß sehen ... Der Alte wird euch hundert Rubel geben, davon gehören fünfunddreißig »der gnädigen Frau Direktrice« -- sie sprach diese Worte höhnisch buchstabierend aus -- und fünfundsechzig könnt ihr unter euch aufteilen. Karoline bitte ich, das Abendbrot mit uns zusammen zu nehmen ...«
»Besten Dank, gute Nacht, Servus, auf Wiedersehen!« riefen sie durcheinander, worauf sie das Kabinett verließen, um das Geld zu verteilen und die Reste des Nachtmahls zu verzehren.
»Wer war drinnen? Wieviel habt ihr bekommen?« fragte die »wachthabende« Lencsi.
Als sie die große Neuigkeit erfuhr, lief sie zur Madame Amélie hinunter, die sofort nach Hause eilte. Sie wollte etwas herüberholen.
»Ich will der Kleinen eine Überraschung bereiten! ...«
Inzwischen saß Karoline an dem Tische Theresens und erzählte:
»Weißt du, mein Herz, der Russe ist ein ganz eigentümlicher Mensch; so auch der Sudakow. Er selbst hatte die Empfindung, schonungslos gewesen zu sein und daß die Mutterschaft ... etwas anderes sei ... und nicht verletzt werden dürfe.«
Therese blickte auf Wolkow, als ob er ungarisch verstünde.
»Gut, aber wie ging die Versöhnung vor sich?«
»Nun, einfach so, daß eben die Ungarin am besten trinken kann. Der Sektkonsum war auf die Hälfte zurückgegangen. Gyagya Monopol kam von Petersburg plötzlich hierher und erkundigte sich bei Sudakow, was denn vorgehe. Dann kam er zu mir. Ich erzählte ihm alles, und er gab mir recht. Weißt du, was dann geschehen ist? Er schimpfte Sudakow zusammen, der mich dann besuchte, alles verzieh und Lolita in einem Erziehungsinstitut unterbrachte. Eine volle Jahresgebühr hat er für sie entrichtet. ... So ist der Russe. Er ist zwar gemein, doch man kann ihm darob nicht grollen. Das andere kam von selbst, wie hielten in der Yard unsern Einzug, und ich bat ihn vor der ganzen Bande um Verzeihung. Jetzt wird weiter geblasen. Aber du? Was ist mit dir?«
»Das siehst du ja!«
»Es ist auch besser so, mein Herz, als ein unstetes Zigeunerleben zu führen. Ich war schon besorgt um dich, denn es wurde schon etwas in Verbindung mit dem griechischen Gaukler über dich getratscht.«
»Um Gotteswillen, gibt acht ...«
»Aber wir sprechen ja ungarisch. Was weiß denn der da, was »griechischer Gaukler« bedeutet.«
Sie lachten laut und Therese hob ihr Glas in die Höhe, um mit Wolkow anzustoßen.
»Prosit! Du bist ein guter Mensch!«
Der Wein, die Stimmung in der Yard hatte Wolkow merkwürdigerweise zum Schweigen gebracht. Er schwieg, doch fühlte er sich sichtlich wohl. Er ließ den Zigeunerchor kommen und das Wiegenlied singen, das der Kosak seinem Söhnlein vorsummt, bevor er gegen den Türken ins Feld zieht.
Er faßte Therese sanft bei der Hand und gab sich ganz der Melodie hin. Und als das Lied zu Ende, war sein Blick umflort, er lehnte den Kopf langsam auf die Schulter Theresens und küßte ihren Nacken. Er war glücklich, er fühlte sich Vater.
Sie beschenkten die Zigeuner, Karoline und trafen Anstalten, den Heimweg anzutreten.
Auf dem Korridor trafen sie Madame Amélie.
»Guten Abend, mein Täubchen!« rief sie Virginia entgegen, als sie jene erblickte. »Schau, schau, welch feine, prächtige Dame aus ihr geworden ist. Sie haben recht behalten, mein Schatz! Es wäre ein Unsinn gewesen, für dreißig Rubel den Chor zu blasen, wenn Sie leben können wie eine Prinzessin. ... Ja, richtig! Ich habe da etwas bei mir. Ich glaube, es wird Sie interessieren ... Hier, mein Kind. Aber nun muß ich forteilen, ich habe sehr viel zu tun.«
Sie drückte Therese einen kleinen Zeitungsausschnitt in die Hand und eilte davon. Am anderen Ende des Korridors lauerte Lencsi auf, um ihr berichten zu können. Therese stand im Pelz, die Gummischuhe an den Füßen, wie eine Reklamepuppe im Schaufenster eines vornehmen Kürschnergeschäftes, reisefertig da; sie blieb stehen und las die Nachricht in der Rubrik »Gerichtshalle«:
Die Defraudantin fiel bei der Schlußverhandlung in Ohnmacht.
Eine Frau, die einmal bessere Tage gesehen hat, Frau Dr. Dezsö Ladány, stand gestern vor dem Gerichtshofe. Sie war angeklagt, ein gegen Ratenzahlungen gekauftes Klavier verpfändet und somit zum Schaden des rechtmäßigen Besitzers, des Instrumentenhändlers, veruntreut zu haben. Da die Witwe des Gymnasialprofessors die ihr zur Last gelegte Schuld nicht geleugnet hat, wurde sie zu einer zweimonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Bei der Verkündung des Urteils ereignete sich eine peinliche Szene. Die Verurteilte fiel lautlos zusammen, so daß man im ersten Augenblick glaubte, sie sei gestorben. Später erholte sie sich und schleppte sich, großes Aufsehen erregend, am Arme des Gefängniswächters über den Korridor des Gerichtsgebäudes.
Therese wollte im ersten Augenblick ihren Augen nicht trauen. Unter einem funkelnden Leuchter blieb sie nochmals stehen; sie zitterte am ganzen Leibe, übersprang mehrere Zeilen, begann von neuem zu lesen, war bleich, starr, sie empfand eine schmerzhafte Kälte. Sie fühlte den Kopf wie zwischen Eisenklammern eingezwängt und starrte in Wolkows Gesicht, als ob er ein Fremder wäre.
Der Bauer erschrak.
Therese verzog die Miene zu einem erzwungenen Lächeln.
»Nichts ... Eine Nachricht aus dem Theater, dessen Mitglied ich gewesen ... Ein Todesfall ... eine liebe Freundin ist gestorben ...«
Und als sie das Wort »gestorben« aussprach, füllten sich ihre Augen mit Tränen, ihr Kinn fiel herab und ihre Tränen flossen in gerader Linie über ihr Gesicht.
Lencsi hatte die Szene von ihrem Versteck aus mit Schadenfreude beobachtet, und sie gefiel ihr besser als die schönste Theatervorstellung. Die Dame, die vornehme Dame im Pelz, die neue Prinzessin stand schluchzend im Korridor der Yard, während unten das Orchester schmetterte, das Jurakowski mit erobernden Gesten leitete.
Sie wußte gar nicht, wie sie nach Hause gekommen war und was Wolkow ihr bei dem Abschied gesagt hatte. Sie vergaß, die Vorzimmertür zu schließen und die aus ihrer Nachtruhe aufgescheuchte Nadinka mußte sie schließen, weil ein kalter Luftzug durch die Wohnung ging, wo Therese sich in ihrer Abendtoilette und im Pelz auf den Diwan warf und wie ein kleines Kind, sich in Krämpfen windend und schluchzend das Wort wiederholte:
»Ma-ma! ... Ma-ma!«
Das Blättchen Papier war in ihrer Hand schon zu einem Fetzen zerknüllt; laut und keuchend, dem Ersticken nahe las sie immer wieder die Unglücksbotschaft; plötzlich sprang sie auf, zerrte mit der Rechten an ihren Haaren, während sie mit der Linken in raschem Nacheinander kleine Schläge führte und halb wahnsinnig, mit stieren Augen, die Worte stammelte:
»Ich bin schuld daran ... ich bin schuld daran ...«
Nadinka hörte ihr Wehklagen, hörte die Worte: »Ma-ma! ... Ma-ma! ...«, sie sah in ihrer Hand den kleinen Zeitungsausschnitt und dachte, die Mutter ihrer Herrin wäre gestorben. Sie ging hinein und war bestrebt, Therese liebevoll zu trösten, indem sie ihr russische Worte ins Ohr flüsterte, aber Therese wollte jetzt fremde Töne nicht hören und hieß sie, sie allein zu lassen.
»Ich habe meine Mutter einsperren lassen ... ich habe meine Mutter einsperren lassen ...« flüsterte sie mit bläulichen, zitternden Lippen. Sie stellte sich, ohne zu wissen, warum, vor den Spiegel, als wollte sie die Selbstquälerei dadurch verschärfen, daß sie ihren Schmerz nicht nur fühlt, sondern auch sieht.
Sie entledigte sich mechanisch ihrer Kleider und legte sich nieder. Nadinka hatte die Gewohnheit, die Rollbalken des Schlafzimmers stets herabzulassen, so daß es im Zimmer ganz finster war. Therese zündete keine Lampe an und schlich in das Bett. Es war für sie eine Nacht der Mörder und Missetäter; der Schlaf mied ihre Augen, sie fieberte, in ihrem überhitzten Gehirn trieb ein Traumgesicht das andere, sie sah ihre Mutter in ihrer ärmlichen, schwarzen Kleidung vor dem Gericht stehend, sie erinnerte sich ihres flachen Hutes, der ganz schief auf ihrem Kopfe saß und herabzugleiten drohte; dann glaubte sie plötzlich die Stimme der Mutter zu hören, als würde sie ihr aus der Ferne, aus dem dunklen Gefängnis zurufen: »Zur Hilfe!«
Und die unglückliche, zerschlagene, zu Tode gepeinigte Vengerka brach in Schluchzen aus, das Weinen schüttelte ihren ganzen Leib, so, wie noch nie seit ihrer Kindheit. Gleich einem Wasserfall entquoll ein Strom des Schmerzes und der Bitterkeit ihrem Innern; das Meer von Strebertum, Hochmut, Trotz, Schmerz, Schmutz, durch das sie waten mußte, durchbrach alle Dämme; sie fühlte sich wie ein hilfloses, schwaches Kind und wurde von der unwiderstehlichen Sehnsucht erfaßt, nach Hause zu eilen, nur nach Hause.
Ja! sie blieb keinen Augenblick länger in Moskau. Sie ließ die bequeme Wohnung, Wolkow, alles im Stich ... Sie erschrak da. Das Kind fiel ihr ein. Es war unmöglich, ihre Schande nach Ungarn mitzunehmen. Die Mutter hatte genug an der einen Schande, die andere mußte aus der Welt geschafft werden, noch bevor sie das Licht der Welt erblickte. Sie wollte die Dienerin, die Sklavin ihrer Mutter sein, die Füße dieser Märtyrerin küssen, die den Leidensweg in das Gefängnis gehen mußten. Gleich am Morgen würde sie in die Bank gehen, ihre zweitausend Rubel holen und dann zu einer Akuscherka eilen ... Von den Mädchen wußte sie, wo sie wohnte ... Sie würde sich vom Kinde befreien lassen ... Das war in zwei bis drei Tagen geschehen und dann eilte sie nach Hause. Ja, das mußte sie tun ... Sie stieß die Decke von sich, setzte sich im Bette auf, zündete die Lampen an, trieb Nadinka an und begann zu packen. Sie ließ den Koffer in das Zimmer schaffen und leerte die Schränke ... Sie wollte eilig alles vorbereiten, um reisefertig dazustehen, sobald die Sache erledigt sein wird. Fort, fort von hier! Nadinka wußte sich nicht zu erklären, was da vorginge ... Gewiß war ihre Mutter gestorben. Zärtlich, im Tone einer Mutter sprach sie auf die Herrin ein, sie streichelte und küßte ihre Hand. Therese aber trieb sie barsch an:
»Sklare! ... Sklare! ...«
»Rasch, rasch!« Das Wort hatte sie noch in der Yard erlernt, als sie ihren Rock und ihre Schneeschuhe rasch vom Garderobier verlangen mußte. Nun waren ihre Kleidungs- und Wäschestücke wieder beisammen. Die Bank wurde um neun Uhr geöffnet ... bis dahin wartete sie. Es war erst fünf Uhr des Morgens, aber sie war schon angekleidet. Sie setzte sich in einen Stuhl, wo sie vor Müdigkeit und Aufregung einschlief.
Um acht Uhr wurde sie durch schrilles Klingeln aus dem Schlafe gestört. Sie sprang auf die Beine. Es war ein Brief Wolkows.
Oh, der wackere, der kluge Wolkow! »Liebes, gutes Mütterchen,« schrieb er ihr, »ich hielt es gestern abend nicht für schicklich, diese Sache vorzubringen. Es ist aber auch so schwer, derlei mündlich zu erledigen. Ich weiß sehr wohl, daß eine Frau ... kleine, einzige Mama ... in solcher Lage gar manches anzuschaffen hat. Ich sende also tausend Rubel, die Du in Gesundheit verausgaben kannst. Jetzt reise ich nach Hause, will die Nachricht meiner Frau selbst überbringen und dann zu Dir zurückfliegen ...«
Therese hatte nicht einmal die Zeit, Wolkow zu bedauern. Wenigstens mußte sie nicht warten, bis die Bank geöffnet wird. Ihre Handtasche war mit einigen Wäschestücken und Toilettegegenständen schon vorbereitet. Sie lief hinunter, ließ einen Schlitten halten und gab dem Kutscher die Adresse der Akuscherka an.
Wenige Minuten später läutete sie bei ihr an.
Das ganze Haus schlief noch. Eine schläfrige Magd hatte sie im Vorzimmer empfangen und einige Minuten hernach erschien in einem hastig angezogenen Negligé eine behäbig watschelnde Frau.
»Guten Tag, guten Tag, Fräuleinchen! Gewiß ist etwas nicht in Ordnung! Wenn Sie schon so zeitig hier sind, müssen Sie es eilig haben. Bitte hineinzuspazieren.«
Aus dem finsteren Vorzimmer traten sie in ein größeres Zimmer, das mit einem großen, dicken, in Deutschland erzeugten Teppich belegt war; einige Plüsch-Fauteuils, schwere Vorhänge, mehrere Ölgemälde, über der Tür das obligate Heiligenbild und ein Öllämpchen.
»Sie wissen ja, weshalb ich komme ...« sprach Therese.
»Gewiß, liebes Fräulein. Aber bei mir ist jetzt alles voll. Alle meine Zimmer sind besetzt, überdies erwarte ich für heute oder für morgen die polizeiliche Visite ... Wenn das Fräuleinchen nur zehn Minuten auf mich warten will, so wollen wir zu einem ausgezeichneten Damsky Doktor geben, der alles in Ordnung bringen wird ...«
»Ist er geschickt?«
»Aber, Fräuleinchen?« erwiderte die dicke Hebamme ganz beleidigt. »Wenn ich ihn empfehle, können Sie ganz beruhigt sein. Der versteht sein Fach. Man muß ihm zweihundert Rubel zahlen.«
Sie hielt plötzlich inne und blickte Therese mit gespannter Erwartung ins Gesicht.
»Gut«, erwiderte diese mit müder Miene.
»Aber nur für die Operation allein. Außerdem bekommt er hundert Rubel dafür, daß Sie zwei Tage dort liegen, Kost und Pflege bekommen ... ich bin die erste Pflegerin. Mir gebühren bloß dreißig Rubel ...«
Therese hörte die Ziffern, das Schwatzen der Alten, aber von alledem interessierte sie nur das eine, daß sie zum Damsky Doktor gehen muß.
»Gehen wir ... beeilen Sie sich ...«
»Gleich, gleich, Fräuleinchen.«
Die Akuscherka verschwand und Therese wartete mit gesenktem Kopfe, in trübe Gedanken versunken. Ihr war, als ob ein trockener, ausgepreßter Schwamm an der Stelle ihres Gehirns wäre, jeder einzelne Gedanke schnitt ihr tief ins Herz, und eine unsichtbare Macht zwang sie, fortwährend an die Mutter zu denken, die im Gefängnis saß, vielleicht allein, vielleicht in der Gesellschaft von Straßendirnen. Sie brach beinahe in krampfhaftes Schluchzen aus, als ihr Frau Tomcsányi einfiel. Der Blitz hätte sie treffen sollen, als jene sie zum ersten Male nach Hause begleitete!
»Wir können gehen!« sprach die Akuscherka.
Therese fuhr erschrocken zusammen.
Sie bestiegen einen Wagen -- keinen Schlitten -- und unterwegs hörte die glattzüngige, plumpe Fleischmasse im Pelze nicht auf, zu schwatzen. Nach einigen Minuten hielten sie vor einem kleinen gelben Hause. Es war ein einstöckiger Bau; neben dem Haustor war eine Tafel befestigt mit der Aufschrift:
Leon Steiner
Damsky Doktor
Das Tor war geschlossen. Auf ihr Klingeln wurde es geöffnet und sie stiegen die Treppe hinan und wurden durch eine Zofe, die russische Nationaltracht trug, in das Empfangszimmer geleitet. Kurz darauf standen sie vor einem spitzbärtigen Herrn, der einen langen weißen Rock und einen goldumränderten Kneifer trug.
Er begrüßte die Akuscherka und wendete sich dann an Therese, die er im natürlichsten Tone der Welt fragte:
»Seit wieviel Monaten fühlt sich das Fräulein Mutter?«
»Seit drei Wochen ...«
»Nun, dann ist ja das Ganze eine Kleinigkeit. Madame hat Ihnen offenbar schon gesagt: zweihundert Rubel. Bitte im voraus zu zahlen. Nicht etwa, als ob ich kein Vertrauen hätte, aber ...«
»Bitte«, sprach Therese leichenblaß und zum Äußersten entschlossen. Sie legte das Geld auf den Tisch.
»So. Jetzt bitte ich Sie, in Ihr Zimmer zu gehen und sich dort umzukleiden ... Dann wird Madame Sie in das Ordinationszimmer begleiten.«
Sie gingen über einen schmalen Seitenkorridor in eine kleine Stube, in der es nur ein Bett, ein Spind und einen eingebauten Waschapparat gab. Madame kleidete Therese aus und ließ sie ein Negligé anlegen. Irgendwo in der Nachbarschaft sang ein junges Mädchen Skalen und bearbeitete dabei das Klavier.
Der Ordinationssaal war ein gewöhnliches Zimmer mit einer großen stuhlartigen Lagerstätte in der Mitte.
Der Damsky Doktor hatte sie schon erwartet.