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»Sage dem Schneider, daß wir erst am Ersten des nächsten Monats zahlen.«
»Aber die Jungen brauchen ihre Kleider und wenn wir die alten nicht bezahlen, macht der Schneider keine neuen Anzüge.«
»Woher soll ich denn das Geld nehmen? ...«
»Weiß ich? ... irgendwo muß es sich finden ... Sie können doch nicht in löcherigen Hosen das Gymnasium besuchen.«
»Man kann sie ja flicken. Auch ich habe das Gymnasium in geflickten Kleidern besucht, und es ist doch etwas Rechtes aus mir geworden.«
Dieses Gespräch fand zwischen dem Richter Safranek und seiner Frau während des Frühstücks statt. Den Rahmen dazu lieferte eine einfach bürgerlich eingerichtete vierzimmerige Wohnung auf dem vierten Stock eines Budapester Miethauses: die Kinderstube, das Schlafzimmer der Eltern, das Speisezimmer und ein Herrenzimmer mit einer Ledergarnitur, das zugleich als Salon diente, wenn Gäste kamen. Der Bücherkasten war voller rechtswissenschaftlicher Werke, die jüngste Prozeßordnung lag auf dem Schreibtische -- dieser neue Minister ließ die Gesetze über Hals und Kopf förmlich fabrizieren! -- und von der Wand blickte das Bild des berühmten Desider Szilágyi unter dem Glase mit strenger Miene auf den Beschauer hernieder.
»Der ... der da war der große Minister!« pflegte Safranek zu sagen.
Es war ein kalter Regentag, und der Regen war kaum auf das Pflaster gefallen, so fror er auch schon.
»Die Galoschen darfst du nicht im Amte lassen!« rief ihm die Frau nach.
»Gut, gut ...«
In der Linken die Aktentasche, in der Rechten den Regenschirm haltend, ging der Richter Safranek auf das Amt. Da er unweit des Justizpalastes wohnte und es noch nicht halb neun Uhr war, trat er in das Café Seemann ein, das die unverheirateten Richter zu besuchen pflegten; er wollte ein wenig die Blätter durchschauen.
In der Alkotmány-Gasse streiften berittene Wachleute und Gendarmen umher, und vor dem Parlament sah man einen Wald von Bajonetten. Der Ministerpräsident Stephan Tisza hatte die Obstruktion mit Bajonetten und Gendarmen niedergebrochen.
Schon vor zehn Jahren hätte das geschehen sollen!« murmelte Safranek, als er, ohne Rock und Hut abzulegen, mit den plumpen Gummischuhen an den Füßen sich am Stammtische der Richter niederließ.
»Wieso denn! Bald wird der Gendarm auch in den Verhandlungssaal des Richters eintreten, um den renitenten Richter, der ein der Regierung mißliebiges Urteil fällt, hinauszuschleppen!« rief erregt Kardos, ein hervorragendes Mitglied der neuen Juristengeneration.
In erregtem Tone streitend traten sie den Weg in das Amt an. Vor dem Tore des Gerichtspalastes wurden sie von dem Portier ehrerbietig begrüßt. Langsam schritten die Richter die Treppe empor. In den Korridoren sah man überall herumlungernde Gestalten, die auf die Verhandlung warteten. Angehende Advokaten schossen geschäftig hin und her, auf den Bänken hockten verschiedene Zeugen, die die Vorladungen in der Hand halten, bis der Diener sie ihnen abnahm.
»Gibt's was?« fragte einer der Richter Safranek.
»Ach nein, lauter Hühnerdiebstähle ...«
»Dann habe ich ja Zeit, die Akten drinnen durchzustöbern.«
Im Verhandlungssaale harren zwei, drei armselige Gestalten, die vom Regen und Nebel, von der Kälte hineingetrieben worden sind. Der eine liest eine Zeitung, der andere neigte den Kopf zur Seite und wollte ein wenig schlummern, um die Nachtruhe zu vervollständigen; es mochte aber auch sein, daß er die ganze Nacht schlaflos verbracht hat.
Die elektrischen Signalglocken ertönten in allen Korridoren und Räumen des mächtigen Gebäudes: es war neun Uhr.
Eine der Stiegen mündete auf ein Gittertor; dort waren die Untersuchungs-Häftlinge interniert. Schleichende Tritte näherten sich auf der Treppe, der Schlüssel drehte sich knarrend im Schloß, die Tür ging auf und es erschien eine Frau in schwarzem Kleide, hinter ihr der Gefangenenwächter. Das Gesicht der Frau war bleich, ihr Haar glatt nach rückwärts gekämmt und auf dem Kopfe hatte sie einen schief aufgesetzten, flachen Hut, der durch eine Hutnadel schlecht und recht festgehalten wurde. Sie trug schwarze Spitzenhandschuhe, die sie noch zu Lebzeiten ihres Mannes bekam; die Finger waren schon zerfetzt, aber sie hatte die Handschuhe dennoch angelegt, denn vor Gericht mußte man anständig erscheinen.
Witwe Dezsö Ladány. Neben der bleichen, hageren, verdorrten Gestalt erschien der wohlgenährte Wächter doppelt so groß. Er hatte kurzgeschorene, borstenartige blonde Haare, einen martialisch aufgezwirbelten Schnurrbart, dichte buschige Augenbrauen; indem blickten seine blauen Augen sanft drein und sein gelockerter Gürtel schlotterte ihm unter dem Bauch, daß einem um die Sicherheit seines Säbels bange wurde.
Witwe Dezsö Ladány ging gerade und aufrecht über den Korridor. Im Bewußtsein ihrer Unschuld hatte sie keine Angst vor der Verhandlung. Es war doch unmöglich, daß man sie, die Witwe eines Professors, wegen eines Klaviers verurteilte, das sie nichts anging. Es war schon ein himmelschreiendes Unrecht, daß sie seit einem Monate und zwanzig Tagen hier festgehalten wurde. Durch ein Vorzimmer wurde sie in ein Zimmer geführt, das die Aufschrift trug: »Zimmer für die Angeklagten. Mit den Angeklagten darf niemand ohne Erlaubnis sprechen.«
Was hatte sie denn verbrochen, daß man mit ihr nicht einmal sprechen darf? Plötzlich erschrak sie; sie dachte daran, daß in diesem Zimmer sonst vielleicht Mörder saßen, daß auch solche Leute durch jene Flügeltür in diesen Saal getreten waren, die dann zehn Jahre hindurch hinter Schloß und Riegel saßen. Es schnürte ihr die Kehle zu, sie mußte wider Willen husten.
»Haben Sie sich erkältet?« fragte der Wächter teilnahmsvoll.
»Nein. Es ist nur ein Anfall.«
»Fürchten Sie sich gar nicht. Wenn Sie nichts getan haben, wird Ihnen auch nichts geschehen.«
»Ich fürchte mich auch nicht.«
Sie traten in den Saal. Die drei Gestalten in dem für das Publikum bestimmten Raume blickten auf.
»Das dürfte kaum interessant werden«, sagte der eine.
»Gehen wir lieber zur Schwurgerichts-Verhandlung«, meinte der andere.
Die beiden entfernten sich; der Schläfrige schloß die halbgeöffneten Augen und schlief weiter.
Witwe Dezsö Ladány setzte sich auf die Bank der Angeklagten, neben ihr stand der blonde Riese. Ein Diener legte mehrere Akten auf den Tisch des Staatsanwalts; dann trat der Schriftführer mit einem Zahnstocher im Munde ein ... Die Angeklagte beachtete er gar nicht ...
»Stehen Sie auf!« flüsterte ihr der Wächter plötzlich zu.
Die gegenüberliegende Tür ging auf und vier Herren traten ein.
Der erste war Safranek, hinter ihm kamen Gutfreund und Pálos, die beiden Beisitzer, als letzter der Staatsanwalt, ein hochgewachsener, stattlicher Mann mit aufwärts gekämmten, schütteren Haaren, schwarzen Augen, die einen stechenden Blick hatten, und englisch gestutztem Schnurrbart: Béla Vértessy, ein Mann, der mit der Regierungspartei durch dick und dünn ging. Er pflegte in politischen Prozessen zu fungieren.
Der Gerichtshof setzte sich, der Wächter zupfte an dem Rock der Witwe Dezsö Ladány, und auch sie setzte sich. Es trat eine wenige Minuten währende Pause ein. Es wurde in den Akten herumgeblättert, Safranek, Gutfreund und Pálos blickten der Reihe nach in die Schriftstücke. Die Angelegenheit war so unbedeutend, daß es sich nicht lohnte, in die Akten schon vorher Einsicht zu nehmen.
Die Tür wurde hastig geöffnet und ein bebrillter, blatternarbiger Herr trat eilig ein: Dr. Incze, der Rechtsanwalt des Privatklägers.
»Verehrter Herr Präsident, geehrter Gerichtshof, ich bitte um Entschuldigung, eine unaufschiebbare Verhandlung ...«
»In Ordnung ...« murmelte Safranek.
Jetzt erst blickte er die Angeklagte an.
»Kommen Sie näher.«
Witwe Dezsö Ladány erhob sich und ging in die Mitte des Zimmers. Ihr Herz pochte laut und ihr Blick verschleierte sich.
»Machen Sie nur laut und ohne Furcht Ihre Aussage ... Verstehen Sie?«
»Jawohl ...«
»Ihr Name?«
»Witwe Dezsö Ladány, Gattin eines gewesenen Gymnasial-Professors ...«
Safranek dachte daran, wo er das Geld für die Kleider der Kinder auftreiben solle ...
»Geboren?«
»In 1858 zu Szolnok ...«
»Religion?«
»Reformiert ...«
»Vermögen?«
»Ich habe keins ...«
»Sie sind angeklagt, das auf Ratenzahlung gekaufte Klavier von Koch und Kooselt nur zu dem Zwecke gekauft zu haben, um es ... zu vermieten und das also empfangene Geld ... zu unterschlagen.«
»Das ist nicht wahr!« platzte die Angeklagte heraus.
Die Richter, der Staatsanwalt blickten um sich. Die Angeklagte hatte keinen Verteidiger.
»Na ... na ...« fuhr Safranek überrascht auf. »Wer ist denn Ihr Verteidiger?«
Der Schriftführer fuhr dazwischen:
»Dr. Eugen Krehn war ex offo zum Verteidiger bestimmt. Aber er war nicht gekommen.«
Freilich, die Blätter schrieben nichts über den Fall. Es lohnte sich nicht ... Die vielen Streber!
Der Präsident klingelte und wartete mit der Glocke in der Hand, bis der Diener in brauner Attila in der Tür erschien.
»Gehen Sie, bitte, auf den Korridor hinaus und fangen Sie einen Advokaten. ... Inzwischen hebe ich die Verhandlung auf.«
Er wandte sich an die Beisitzer:
»Es bedarf doch einer Pause von fünf bis sechs Minuten, bis der Advokat den Fall kennen lernt.«
Der Gerichtshof entfernte sich. Frau Witwe Dezsö Ladány setzte sich empört neben den Wächter.
»Ich verwahre mich dagegen, daß der Präsident mir eine Veruntreuung zumutet. Ich bin Witwe eines Staatsbeamten.«
»Gut ... gut ...« meinte der Wächter, »das ist ein Ort, wo man sich nicht beleidigt zu fühlen braucht. Hier werden noch ganz andere Beleidigungen gesprochen ... zum Schluß kommt aber die Wahrheit doch an den Tag.«
Der Diener kehrte mit einem kleinen jungen Mann zurück, dessen Augen blitzten.
»Bitte, sich einstweilen mit der Angeklagten zu befassen, ich werde Sie sogleich anmelden.«
Der kleine Schwarze wendete sich an Frau Ladány.
»Ich werde Sie verteidigen, gute Frau ... Was wird Ihnen denn eigentlich zur Last gelegt? Bitte, Herr Kollega?« frug er den Vertreter des Privatklägers.
»Nichts ... eine sehr klare Angelegenheit ... Ein gemietetes Klavier ... Unterschlagung des gemieteten Objektes ...«
»Na ja ... Anerkenntnis und rechtsverbindliche Mieterklärung?«
»Die gewohnte ...«
»Freilich ... freilich ...«
Damit war die Sache auch schon erledigt. Der Verteidiger glaubte, in der Sache klar zu sehen. Frau Ladány wollte sprechen, die Sache erläutern, doch der Advokat unterbrach sie.
»Nicht zu viel reden, damit verderben Sie nur die Sache. Was sich tun läßt, werde ich tun.«
Damit nahm er hinter ihr Platz.
»Ich bin unschuldig!« stöhnte die arme Frau.
»Nun, es wird ja auch nicht so arg sein ... Nur nicht so viel reden. Es ist nicht gut, den Präsidenten zu reizen.«
Neuerdings ging die Tür auf und der Gerichtshof erschien wieder. Alle erhoben sich, dann setzten sie sich.
»Die Verteidigung?« fragte der Präsident.
»Dr. Béla Bernát ... Aber, verehrter Herr Präsident, um dreiviertel zehn Uhr habe ich eine Verhandlung ...«
»In zehn Minuten werden wir fertig sein ... Bitte, die Angeklagte.«
Die schwarze, magere, bleiche Erscheinung stand wieder vor dem Tische des Präsidenten.
»Sprechen Sie laut und verständlich.«
»Jawohl.«
»Also, wie hat sich die Sache zugetragen?«
»Als mein Mann, der Gymnasialprofessor war, starb ...«
»Warten Sie ... warten Sie ...«
Safranek blätterte in den Akten nach ...
»Ihr Mann starb vor neun Jahren, das Klavier haben Sie vor ungefähr vier Monaten gekauft. Sie müssen ja nicht bei der Geburt Noah anfangen ... So sind die Frauen ...«
Und er wandte sich nach rechts und links, als würde er mit den Beisitzern sprechen. Diese schwiegen gelangweilt und hörten kaum zu ...
»Man ist erfüllt von den besten Absichten und Sie kommen uns mit Dingen, die sich vor neun Jahren ereignet haben ... Es ist besser, wenn Sie nichts reden. Ich werde Sie fragen ... Verstehen Sie?«
»Jawohl.«
»Haben Sie das Klavier gemietet?«
»Ja.«
»Haben Sie diesen Vertrag unterschrieben?«
Und er zeigte ihr das Blatt Papier, das ihre Unterschrift trug. Es mußte durch sie unterfertigt werden, weil Therese minderjährig war.
»Jawohl.«
»Wieviel mußten Sie für Miete monatlich bezahlen?«
»Vierzehn Kronen.«
»Haben Sie sie bezahlt?«
»Ich hätte sie gezahlt, allein meine Tochter ließ sich nach Rußland anwerben und sie versprach mir, das Geld zu senden.«
»Na freilich ... wir kennen ja diese russischen Engagements. ... Und wo ist das Klavier jetzt?«
»Bei dem Lagerhalter ...«
»Wieviel zahlen Sie ihm für Lagerzins?«
Die unglückliche Frau stammelte erschrocken:
»Nein ... gar nichts ... er hat mir Geld für das Klavier gegeben ...«
»Nun also! ...«
Safranek hob beide Hände, um sie dann auf die Schenkel fallen zu lassen.
Er wandte sich von neuem an die Beisitzer.
»Wünschen Sie etwas zu fragen?«
Gutfreund und Pálos murmelten unverständliche Worte und schüttelten den Kopf.
Um seinen guten Willen, zugleich aber auch das Hoffnungslose dieses Bagatellprozesses darzutun, sprach der Präsident zu Frau Ladány in väterlichem Tone:
»Nicht wahr, Ihre Tochter wollte Schauspielerin werden?«
»Ja.«
»Nicht wahr, es kam ein Agent zu Ihnen, der Sie überredete, das Klavier zu kaufen, da Sie kaum etwas dafür zu zahlen hätten?«
»Nein ... meine Töchter ging zum Klavierhändler, um das Instrument zu kaufen.«
»Also, meine Herren, strengen wir uns nicht an ...« meinte Safranek mit einem verächtlichen Handwink. »Das ist ja eine ganz kleine Angelegenheit ... das typische Ratengeschäft. Solange es so bleibt, wird es nicht anders werden ... Ich bitte den Herrn Staatsanwalt.«
Der trockene, elegant gekleidete Staatsanwalt erhob sich und sprach nach einem leisen Husten:
»Euer Wohlgeboren, Herr Präsident, geehrter Gerichtshof! Der Fall ist ganz einfach und alltäglich. Leute, die in Nöten sind, bedienen sich, um zu Geld zu kommen, des folgenden Mittels: sie kaufen teurere Objekte auf Abzahlung und kaum wird der teure Gegenstand ins Haus geliefert, verkaufen sie ihn. So handelte auch die Angeklagte, diese Witwe eines Gymnasialprofessors, die, anstatt sich eines der bürgerlichen Stellung ihres verstorbenen Mannes angemessenen anständigen Lebenswandels zu befleißigen, ihre Tochter nach Rußland gesandt hat und wegen der Verpfändung des Klaviers vor dem Gericht steht. Ich weiß nichts zu ihrer Entschuldigung vorzubringen und bitte, sie gemäß § 355 des Strafgesetzbuches wegen des Verbrechens der Veruntreuung zu verurteilen.«
Er trug in seine kurze Rede so viel Geringschätzung und Verachtung hinein, daß Frau Ladány in lautes Schluchzen ausbrach ...
»Gnädiger Herr ... Ich bin unschuldig ... Ich habe meine kleine Pension ganz für meine Tochter ausgegeben ... man hat uns betrogen ... zugrunde gerichtet. ...«
Die gelangweilten Beisitzer blickten verwirrt, mit betroffener Miene auf die Unglückliche ...
»Weinen Sie nicht, weinen Sie nicht,« tröstete sie Safranek, »Sie haben ja das Ärgste schon hinter sich ... Ich bitte den Herrn Verteidiger.«
Dr. Béla Bernát stand auf und hüstelte verlegen. Das Wichtigste war ihm, seine eigene Person in den Vordergrund zu rücken, zu betonen, daß er eine Angelegenheit verteidigt, von der er vor zehn Minuten noch keine Ahnung hatte.
»Euer Wohlgeboren, Herr Präsident, geehrter Gerichtshof! Der von Amts wegen bestellte Verteidiger ist nicht erschienen und so wurde ich vom Korridor hereingerufen, damit ich die Verteidigung der Witwe Dezsö Ladány übernehme. Im Nu war ich mit dem ganzen Fall im klaren. Es handelt sich um einen bekannten Kniff der Ratengeschäftsleute. Die Instrumentenhandlung hat die Witwe Dezsö Ladány ›eingefädelt‹.«
»Euer Wohlgeboren, Herr Präsident, geehrter Gerichtshof!« fuhr der Advokat des Privatklägers erregt dazwischen, »ich bitte die kaufmännische Ehre meines Klienten in Schutz zu nehmen ...«
Safranek blickte auf den Dr. Bernát und sein Ton klang härter und strenger:
»Angeklagte erklärte, es sei kein Agent bei ihr gewesen, der Herr Advokat hat daher einen ungerechtfertigten Verdacht ausgesprochen. Wegen dieses illoyalen Verhaltens muß ich Sie zur Ordnung rufen ... Fahren Sie fort ...«
»Den Ordnungsruf nehme ich dankend zur Kenntnis«, fuhr Bernát fort. »Doch wir sahen die Tränen der Mutter, wir hörten ihr Schluchzen. So kann nur eine Mutter schluchzen, die ihr ganzes Leben, ihre Pension ihrem Kinde geopfert hat. Nicht einmal die vierzehn Kronen für monatliche Miete kann sie bezahlen. Möge der geehrte Gerichtshof einen Blick in dieses abgrundtiefe Elend werfen und dann sein Urteil fällen. Möge er erwägen, wie sehr die arme Frau ohnehin schon bloßgestellt und beschämt ist, und daß die Untersuchungshaft schon an und für sich eine Strafe ist, die bereits das Höchstausmaß für ein Delikt dieser Art bedeutet. Das Klavier ist ja da und wenn der Pfandbetrag bezahlt wird, steht es ja wieder dem Verkäufer zur Verfügung. Das ist keine Veruntreuung, sondern bloß eine Verirrung, die man nicht streng bestrafen kann, ist es doch ein Grundsatz der modernen Judikatur, daß sie nicht ahnden, sondern bessern will! ...«
Er deklamierte laut und schwungvoll. Gutfreund gähnte, Pálos putzte die Fingernägel, Safranek las die Akten des nachfolgenden Prozesses. Die arme Angeklagte schluchzte, ihr Kinn zuckte.
»Ich bitte daher, die arme Angeklagte freizusprechen.«
Safranek erhob sich, der Gerichtshof folgte seinem Beispiel. Safranek neigte sich nach links und nach rechts und flüsterte den Beisitzern etwas zu. Diese nickten mit dem Kopfe.
»Stehen Sie auf!« flüsterte der Wächter Frau Ladány ins Ohr. »Das Urteil wird verkündet ...«
Frau Ladány erhob sich. Sie war sehr verwirrt, alles um sie herum, die Richter und die anderen schienen wie in Dunst, in Nebel getaucht, die Rede drang von weitem und abgedämpft an ihr Ohr, sie hörte Stimmen, vernahm jedoch keine Worte ... Was wollte man von ihr, warum war sie hier?
Safranek aber rezitierte in einem Atem, ohne eine Spur von Ergriffenheit, ohne Mitgefühl:
»Im Namen Sr. Majestät des Königs! Der kgl. Strafgerichtshof spricht die in Präventivhaft befindliche Angeklagte Wwe. Dr. Dezsö Ladány schuldig und verurteilt sie gemäß § 355 des Strafgesetzbuches wegen des Verbrechens der Veruntreuung zu zwei Monaten Gefängnis, wovon laut § 94 des Strafgesetzbuches ein Monat und zwanzig Tage durch die bisherige Untersuchungshaft abgebüßt erscheinen. Bei der Bemessung der Strafe hat das Gericht den beträchtlichen Schaden als erschwerenden Umstand, dagegen das straflose Vorleben der Angeklagten, ihr Geständnis und ihr großes Elend als Milderungsumstand in Betracht gezogen.«
Frau Ladány stand stumm da, sie starrte vor sich hin und schwieg ... Ihre Knie zitterten, sie glaubte, der riesengroße Saal, das ganze Gebäude müsse über ihr einstürzen ... Dann fiel sie gleich einem kranken Tiere röchelnd, jedoch wortlos und ohne einen einzigen Klagelaut auf den Boden.
Die Richter blickten sie betroffen an. In diesem Augenblicke mochten sie das Gefühl haben, daß es sich in dieser in zehn Minuten abgetanen Angelegenheit nicht bloß um Paragraphen, sondern um ein Menschenkind gehandelt habe.
Der Gefängniswächter trug die ohnmächtige Frau langsam über den Korridor. Der Hut glitt von ihrem glattgescheitelten Haar und blieb an ihrem Nacken hängen.
Pápai, ein Mitarbeiter des »Hiradó«, war gerade auf dem Korridor, und so kam das Urteil in die Blätter.