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Sie wohnten in der Feuerwehrstraße, draußen in der Franzstadt. Eine Tafel unter der Toreinfahrt zeigte unter andern folgenden Zettel in einer plumpen, ungelenken Schrift: Witwe Desider Ladány, III. 18. Die Wohnung bestand aus einem Zimmer nebst Küche; Frau Ladány zahlte dafür 480 Kronen Jahresmiete. Im Hause hieß sie allgemein »die Frau Professor«. Der gleichfalls schon verstorbene ältere Bruder ihres seligen Gatten war Universitätsprofessor gewesen, darum ließ sich Frau Ladány die Verwechslung gern gefallen; ja, in gewissen Amtsstuben, wo man ohne Verantwortlichkeit reden darf, gab sie sich selbst ohne Scheu diesen Titel. Ihre bescheidene Pension von monatlich 120 Kronen zeigte aber leider, daß der Gottselige nur Mittelschullehrer gewesen und gar kein Vermögen hinterlassen habe, allerdings auch keine Schulden. Was in der Welt der Mittelschullehrer selten genug ist.
Witwe Desider Ladány verstand es, das Erbe ihres verstorbenen Gatten zu erhalten und hütete sich gleichfalls davor, Schulden zu machen. Sie war einst ein frohes, rundliches Mädchen gewesen, allein die strenge, nach der Uhr geregelte Lebensweise hatte die Fülle ihres Körpers allmählich völlig aufgezehrt. Eine hagere Frau mit gelber Gesichtsfarbe war aus ihr geworden, die immer schwarz gekleidet war und einen Klemmer auf der Nase trug. Ihr Busen und ihre Hüften waren längst verschwunden; wer sie sah, dachte nicht daran, eine Frau vor sich zu haben. Ihr karg bemessenes Ruhegehalt gestattete ihr nicht, sich modern zu kleiden. Wenn sie ausging, zog sie einen einfachen, glatten, schwarzen Rock an; über dem alten, vielfach geflickten, eckigen Mieder eine enge, allmählich zu kurz gewordene Taille, deren vorn eingefallene, fast verschwundene Spitze erraten ließ, daß diese Taille einst für eine Frau angefertigt wurde. Den Hals bedeckte ein schwarzes, im Basar erstandenes Spitzentüchlein, auf dem glatt gekämmten, schon ergrauenden Haupthaar saß ungebärdig schief ein ärmliches Hütchen mit flachen Rändern. Die Nase war dünn, etwas lang, die Augen wasserblau.
Vierzig Kronen monatlich waren für den Mietzins bestimmt, fünfzig Kronen mußten für Nahrung und Zerstreuung genügen. Frau Ladány ging nämlich am sechzehnten Tage eines jeden Monats in irgendein Theater, stets auf die letzte Galerie. Die restlichen dreißig Kronen wurden von den Kosten der Erziehung und Bekleidung ihrer Tochter Therese aufgezehrt. Eine Krone und siebzig Heller verblieb den beiden täglich für ihre Ernährung: das war wenig, aber noch nicht so schlimm. Zum Frühstück konnte man sich ein Täßchen Kaffee leisten, zu Mittag ein wenig Suppenfleisch mit Gemüse, am Abend einen Bissen Wurst zum Brot. Immer dasselbe, ohne Abwechslung.
Therese war ein frisches anmutiges Mädchen. Sie trug stets ein sehr einfaches, schmuckloses Kleidchen von wohlfeilem Zeug; doch was immer sie anzog, saß ihr schön, ihr strahlender Frohsinn vergoldete ihr ganzes Wesen. Leicht schritt sie nach dem Rhythmus der Musik ihrer sorglosen Seele durch das Leben. Ihre Lehrer in der Bürgerschule gewannen sie lieb; sie lernte niemals, machte dennoch ihre Klassen durch, und da sie die Waise eines Professors war, behandelte man sie mit Nachsicht und Wohlwollen. Ihre Mutter hatte so sehr jeden eigenartigen Zug verloren, war so sehr »Individuum« geworden, daß man die Tochter nicht mit der Mutter vergleichen konnte; doch Therese behauptete immer, daß sie ihrem Vater, dem ehemaligen Professor der Geschichte und der ungarischen Sprache, nachgerate. In ihrem Zimmer hing die Photographie des Gottseligen in schwarzem, mit schmaler Goldleiste geziertem Rahmen; auf der bescheidenen Kommode, an die Wand gelehnt, einige aus Anlaß der Reifeprüfung aufgenommene Gruppenbilder der Schülerinnen; unter den Stößen der Weißwäsche lagen sorgfältig aufbewahrt drei Jahresberichte der Schule, mit den einleitenden Artikeln Desider Ladánys: »Petöfis wahre und Listnyais gesuchte Volkstümlichkeit«; »Das Verschwinden der Ode«, und »Kann der Pädagog zugleich ein Schöpfer sein?« Ferner zwei alte Nummern des illustrierten Wochenblattes »Versárnapi Ujság« (Sonntagszeitung) mit den vom Vater verfaßten Gedichten: »Am Traualtar« und »Meine Schülerinnen«.
Das war alles, was von der Wirksamkeit Desider Ladánys übrig geblieben, aber gerade genug, damit Therese im geheimen für Literatur schwärmte und ihre ganze freie Zeit mit der Lektüre von Romanen verbrachte. Es war ihr gleich, was ihr in die Hand geriet, wenn es nur ein Roman, ein Buch war. Solange sie noch die Bürgerschule besuchte, fehlte es ihr nie an Romanen, die Schülerinnen betrieben einen lebhaften Austausch von Büchern. Für einen Zoltán Ambras ward ein Emil Zola eingetauscht, für einen Zola ein Alexander Bródy. Herczeg und Gárdonyi waren auch in der Schulbibliothek zu haben; dagegen konnten die Werke Maupassants, Ludwig Biros und Franz Molnárs nur im geheimen gelesen werden. Große Aufregung gab es in der IV/b-Klasse, als man sich ein Exemplar des konfiszierten » Ssanin« zu verschaffen wußte. Während der Unterrichtspause hielt die Schülerin Blanka Gaßner Wache vor der Tür, das Buch wurde in 35 gleiche Teile zerrissen und die einzelnen Teile in der Reihenfolge des Alphabets unter die 35 Schülerinnen der Klasse verteilt. Die, die mit ihrem Teil früher fertig war, tauschte mit einer anderen. Dies geschah ganz systemlos, aber nach zwei Tagen hatte die ganze Klasse das Buch fertig gelesen.
Und vollends das Theater! Wer ein neues Stück gesehen hatte, mußte den Kolleginnen darüber Bericht erstatten. Man wußte von jeder Schauspielerin, wer ihr »Verhältnis« war; die in Vorbereitung befindlichen neuen Stücke sämtlicher Theater waren den Schülerinnen bekannt. Große Sensation gab es in der Bürgerschule der Pratergasse, als anläßlich eines Schulfestes die gefeierte Künstlerin des Nationaltheaters Therese Csillag erschien und Viktor Hugos Gedicht »Das Nest im Turme« vortrug. An jenem Abend deklamierte auch Therese Ladány ... »Meine Schülerinnen«, Gedicht von Desider Ladány. Mutter Ladány weinte, die gefeierte Künstlerin Therese Csillag streichelte der Schülerin die Wange und sagte mit einem stereotypen Lächeln, während sie an ganz andere Dinge dachte:
»Wahrhaftig, das Kind hat viel Talent!«
Diese Szene gehörte zu den schönsten Erinnerungen, welche Therese Ladány nach Erledigung der sechs Bürgerschulklassen mit nach Hause nahm. Diese Erinnerung lebte in ihr fort wie ein im Traum gehörter, rufender, silberheller Klang einer Glocke. Wenn sie abends das Lämpchen ausgelöscht hatte und zur Ruhe ging, wiederholte sie sich im stillen: »Fürwahr, das Kind hat viel Talent!«
In ihrem siebzehnten Lebensjahr war Therese Ladány zu einem sehr schönen Mädchen herangewachsen. Nach einer Beratung mit ihrer Mutter beschloß sie, die Handhabung der Schreibmaschine zu erlernen, weil sie nicht länger dreißig Kronen von Mamas Pension in Anspruch nehmen wollte. Auch sei es schon an der Zeit, daß sie sich besser kleide und an ihre Heiratsausstattung denke. War sie erst fertige Maschinenschreiberin, würde sie ohne Schwierigkeit eine Stelle mit hundert Kronen Monatsgehalt finden. Sechzig Kronen wollte sie für ihre Toilette verwenden, und auch für Zerstreuungen würde sie mehr als bisher ausgeben dürfen. Was in solcher Weise von der Pension erübrigt wurde, sollte zur Aufbesserung der Beköstigung dienen, und nach allen diesen Ausgaben könnte die kleine Familie noch jährlich ein Sümmchen von vierhundertundachtzig Kronen ersparen. Das würde nach fünf Jahren mit den Zinsen dreitausend Kronen betragen. Das war dann schon etwas.
So malten sich Mutter und Tochter die zufriedene, sorgenfreie Zukunft aus, und damit der Traum so bald wie möglich zur Wirklichkeit werde, ließ sich Therese am nächsten Tage in die Schreibmaschinenschule der Paula König in der Wesselényigasse aufnehmen.
Im ersten Stock eines weitgestreckten, flachen Gebäudes mit geräumigem Hofe befand sich die Anstalt, wo männliche und weibliche Zöglinge in die Geheimnisse des Maschinenschreibens eingeweiht wurden. Auf das Anläuten öffnete eine schmutzige kleine Magd die Tür; ein herber Küchengeruch empfing den Eintretenden, -- denn in diesem Hause wurden fast täglich »Krautflackerl« gekocht. Im Vorzimmer stand ein großer Kleiderrechen, dessen grüne Tuchverkleidung von den Motten arg mitgenommen war. Die Schreibmaschinenschule des Fräuleins Paula König war keine Luxusstätte, die von solchen Mädchen besucht wurde, denen das Maschinenschreiben nur ein Vorwand ist, um über ein Bureau hinweg nach ihrer Art zur Geltung zu kommen. Diese Schule ward von schwerfälligen Judenmädchen besucht, die, von des Daseins Sorgen gedrückt, einen Erwerb zu erlangen trachteten, der ihnen ein Einkommen von achtzig bis hundert Kronen monatlich sicherte.
»Ich habe nur eine Schule, nichts anderes,« pflegte Fräulein Paula König zu sagen.
Sie war ein beleibtes, fleißiges Weib, trug stets ein dunkelblaues Kleid von englischem Zuschnitt, das glatt gescheitelte, in der Mitte abgeteilte Haar bildete einen strengen Rahmen um ihr Antlitz. Sie duldete in ihrer Schule keinen Flirt und keine Liebeleien. Sie erteilte nur Unterricht im Maschinenschreiben. Maschinenschreiben in dreißig Stunden! Das war ihr Motto. Wer in dreißig Stunden das Maschinenschreiben nicht erlernte, ward nicht mehr aufgenommen, denn er war entweder unfähig oder nachlässig. Die Bürgerschule lieferte zahlreiche Schülerinnen, die Schüler waren zumeist ehrgeizige Ladenschwengel, die mit Hilfe der Schreibmaschine vom Pult hinweg in die Korrespondenz gelangen wollten. Darum waren denn auch am Vormittag nur wenige Schüler zu sehen, größtenteils Kaufmannssöhne, die anderen kamen nach acht Uhr, zum Abendkursus. Am Abend hingegen gab es weniger Schülerinnen.
In diese Anstalt ließ Frau Ladány ihre Tochter Therese aufnehmen. Sie tat es auf Anraten einer Nachbarin, deren zwei Töchter gleichfalls den Königschen Lehrkursus durchgemacht hatten. Unter den vielen frühreifen, übermäßig lebhaften, mit fetter Kost genährten, vollbusigen Mädchen erschien Therese als Vertreterin einer ganz anderen Klasse. Ihre Sauberkeit, ihre Leichtigkeit, ihre angeborene Anmut unterschieden sie von der ganzen Gesellschaft, und die Zöglinge des Vormittagskurses interessierten sich vom ersten Augenblick für sie mit jener lebhaften Sehnsucht, mit jener unwiderstehlichen Begierde, wie beispielsweise die Neger nach weißen Frauen Verlangen tragen.
Therese bemerkte nichts von alledem. Nicht, als ob sie an junge Männer und an Liebe nicht gedacht hätte. Die Unterrichtspausen in der Bürgerschule, die intimen Zusammenkünfte mit den Freundinnen, die geheime Lektüre in den Lexikons und in den Lehrbüchern über die Anatomie des Menschen hatten auch sie über alles belehrt, was ein Mädchen wissen will. Allein die »Liebe« oder »der junge Mann« blieb für sie ein romantisches Gefühl, die Verkörperung des Auszuges aus den verschlungenen vielen Romanen. Die jungen Leute aber, die sie in der Anstalt der Paula König sah, kamen für sie nicht in Betracht.
In ruhiger, unzugänglicher Reinheit saß sie in dem kleinen Zimmer, wo etwa dreißig Zöglinge hinter kleinen Tischen zusammengepfercht waren. Es gab in dem Raume acht bis zehn Schreibmaschinen; auf dem Katheder thronte Fräulein Paula König, damit beschäftigt, einen Typewriter zu zerlegen, um den Zöglingen die einzelnen Bestandteile der Maschine zu zeigen. Jeder muß erlernen, wie eine Maschine beschaffen ist.
»Diese Kenntnis«, so pflegte sie zu sagen, »ist für Sie gerade so wichtig, wie für den Schutzmann die Kenntnis der ersten Hilfeleistung bei Unfällen. Sie sind die Hüter der Schreibmaschine; wenn irgendein Unfall geschieht, haben Sie die erste Hilfe zu bringen.«
Dann schrieb sie auf einer großen Tafel die Schriftzeichen der einzelnen Tasten der Maschine auf; jeder Zögling mußte auswendig lernen, in welcher Reihe und an der wievielten Stelle die verschiedenen Typen und Interpunktionszeichen sitzen.
»Zuerst alles im Kopfe, nachher alles auf der Maschine,« war das zweite Motto der Meisterin. »Wenn Sie -- was Gott verhüte! -- Ihr Augenlicht einbüßen, werden Sie Ihr Brot dennoch nicht verlieren.«
Therese ging ernst und entschieden an die Arbeit. Sie hatte sich auch mit zwei Lüsterärmeln versehen, die sie bei der Arbeit über die Ärmel ihrer Bluse zog, um diese nicht zu beschmutzen. Sie wußte genau Bescheid mit den Bestandteilen der Schreibmaschine und hatte bald die Anordnung der Typen und Zeichen im Kopfe. Das hinderte aber nicht, daß sie die ganze Geschichte öde und langweilig fand.
Sie war ein junges Mädchen, schön und heiteren Gemütes. Gern verweilte sie vor den Schaufenstern der prächtigen Geschäftsläden und oft dachte sie daran, wie die herrlichen Hüte der Putzmacherin Mademoiselle Charlotte ihr passen würden. Mit neidischer Sehnsucht betrachtete sie die Brautausstattungen, die in der Joelschen Wäschehandlung zur Schau ausgelegt waren. Wenn sie den Stefanie-Korso aufsuchte, geschah es nicht, um sich dort zu ergehen, sondern um die Menschen zu betrachten, die in prächtigen Kutschen fuhren. Sie sah, daß das Leben reich, schön, voll von Genüssen sei, und dachte mit Schrecken und Unmut daran, was ihrer harrte.
Sie war seit einer Woche Schülerin der Paula Königschen Schreibmaschinenschule und konnte die ihr vorgelegten Drucksachen schon ganz geläufig kopieren, so daß die Meisterin sie vor den übrigen Zöglingen öffentlich belobte.
»Sehen Sie, meine Damen und Herren! Ich bin keine Christin, aber Wahrheit bleibt Wahrheit: eine Christin ist doch etwas ganz anderes ...«
Die anderen Zöglinge belobten sie gleichfalls und schmeichelten ihr, und als sie nach Hause ging, schloß sich ein junger Mann ihr an. Er hieß Paul Kemenes und hatte eine Handelsschule absolviert. Seine Eltern betrieben das Schneidergewerbe; er selbst wollte das Maschinenschreiben erlernen und dann in das Geschäft seines Vaters eintreten.
Es war zu Beginn des Monats September, gegen halb fünf Uhr nachmittags. Die Sonne neigte sich zu den Ofner Bergen herab und sandte einen fahlen, rostbraunen Streifen über die ganze Rákóczistraße. In der wollüstig lauen Luft zitterte der Sommer nach, der Turm der Rochuskapelle schimmerte heiter in der klaren Luft.
Bei der Nußbaumgasse holte Paul Kemenes Therese ein.
»Verzeihen Sie, Fräulein, daß ich Ihnen gefolgt bin,« sagte er. »Ich sitze in Ihrer Nähe, nur um zwei Maschinen weiter und habe mich Ihnen schon vorgestellt.«
»Gewiß ... ich kenne Sie ja,« antwortete Therese lachend ... »Aber ich gehe immer allein.«
»Wollen Sie nicht einmal eine Ausnahme machen?« fragte Paul leise.
Therese fand die Situation eigentümlich; seltsam und ergötzlich zugleich. Noch niemals hatte ein junger Mann auf der Straße sie angesprochen, obgleich ihr dies manchmal nicht unlieb gewesen wäre. Dieser Paul Kemenes war ihr ganz gleichgültig, obzwar er der vornehmste unter den Zöglingen der Königschen Schule war. Er war kein Handlungsgehilfe, auch kein armer Student. Er kleidete sich gut aus dem Laden seines Vaters und hatte sich zu dieser Begegnung vielleicht vorbereitet: ein buttergelber Handschuh bedeckte seine Linke und aus dem Seitentäschchen seines Rockes lugte der Zipfel eines Seidentüchleins hervor.
Therese fand die Sache so vergnüglich, daß sie fast hell auflachte. Sie kämpfte mit sich selbst, wie sie sich entschließen solle. Sollte sie dem jungen Manne den Abschied geben und allein nach der Feuerwehrgasse heimkehren? ... Dieser junge Mann war ihr ja so ganz nebensächlich, und es war ganz gleichgültig, ob er mitging oder blieb. Aber die Sache war immer etwas sonderbar. Sie verzog ein wenig den Mund und sagte plötzlich:
»Sie können mitgehen.«
Sie befanden sich jetzt vor dem Volkstheater.
»Ich danke,« erwiderte der junge Mann erfreut, und während sie über den Fahrdamm schritten, beschirmte er sie mit einer gewissen sorgfältigen Überlegenheit.
Hinter dem Tinóely-Monument hielten einige Fiaker. Die Räder der auf elastischen Federn sich schaukelnden Wagen waren mit fester Pneumatik bereift, die Rosse nagten hart an den Gebissen, auf dem Sitze lagen zusammengefaltet die großgemusterten Fußdecken. Therese dachte, wie schön es wäre, in einem solchen Wagen Platz zu nehmen und eine Spazierfahrt auf der Stefaniestraße zu machen; und plötzlich -- sie wußte selbst nicht wie es kam -- wandte sie sich an Kemenes mit den Worten:
»Lassen Sie uns eine Wagenfahrt machen!«
Nun reute den jungen Mann dieses ganze Abenteuer. Sein ganzes Vermögen bestand in zehn Kronen. Das würde für die Wagenfahrt zwar ausreichen, aber es tat ihm doch leid, das Geld so auszugeben -- ohne jede Gegenleistung. Dieses unerwartete Verlangen überraschte ihn und brachte ihn auf den Gedanken, daß dieses Mädchen doch nicht so ehrbar sei, wie es sich gab. Diese Wendung der Sache war ihm angenehm, aber die Geldausgabe schien ihm bedenklich. Es gab aber keinen Rückzug mehr und er betrachtete die Spazierfahrt als einen Vorschuß auf die Zukunft. All dies hatte er in einem Augenblick überdacht und er schloß:
»Gut, fahren wir!«
Der Fiakerkutscher grüßte: »Küss' die Hand, gnädiger Herr, wohin fahren wir?« und ließ den Taxameter spielen. Der Apparat zeigte die Anfangstaxe: 1 Krone 60 Heller; und während Paul antwortete: »Auf die Stefaniestraße« -- las er zugleich vom Apparat ab: nach weiteren 600 Metern je 20 Heller.
Von der Ringstraße bog der Wagen in die Andrássystraße ein. Therese sprach wenig, es schwindelte ihr gleichsam von der Luft, von dem Geräusch der Wagen und der elektrischen Straßenbahn und von dem Gefühl, daß zwei Rosse sie entführen, hinaus nach dem Stadtwalde. Sie dachte nicht daran, daß ihr einfaches Kleidchen und Jäckchen für die Stefaniestraße nicht passen; die Freude darüber, daß auch sie dort sein dürfe, verdrängte den elementaren weiblichen Instinkt: »Bin ich auch gut gekleidet?« In feierlicher Stimmung klopfte ihr Herz, als sie bei dem Millenniumsdenkmal in die Stefaniestraße einbogen und der Wagenlenker seinen Rossen freien Lauf ließ. Sie dachte nicht daran, daß jemand neben ihr sitze.
Von den Bäumen der Allee fielen die vergilbten Blätter schon ab, auf dem seichten Wasser des Teiches schwammen gelbe, langstielige Platanenblätter, ein einsamer Kahnfahrer bahnte sich mit seiner Sandoline einen Weg durch die Blätter; auf dem Fußsteig vor der Halle der Schlittschuhläufer standen Leute, auf der anderen Seite saßen viele auf Stühlen, doch all dies waren für Therese nur Nebelbilder, gleichsam Visionen. Andere Wagen glitten an ihr vorüber und darin saßen vornehme Herren und elegant gekleidete Damen ...
Erst bei diesem Anblick fuhr sie zusammen und schämte sich ob ihrer ärmlichen Erscheinung in dieser Umgebung. Aber anderseits freute sie sich, daß sie dennoch da sei und bei den Klängen der Militärmusik, die in dem Kolegowszky-Kiosk spielte, spazieren fahren dürfe.
Paul Kemenes wußte nicht, was er dem Mädchen sagen solle. Ihn quälte die geheime Angst, daß sein Papa, der alte Klein, der um diese Stunde in einem schlechten Rumpelkasten seine hygienische Ausfahrt zu machen pflegte, ihn erblicken könnte. Therese erwartete aber auch gar nicht, daß man zu ihr spreche; mit offenem Munde saß sie da, um bei dem raschen Trab der Pferde die Luft besser einsaugen zu können.
»Ist das nicht göttlich?« flüsterte sie.
Es war ein regelrechter Budapester Wagenkorso: Die Leute, die täglich ihre Tour um den Wasserturm machen, der diese herrliche Avenue abschließt. Die Kartenspieler der Kasinos, einige in Mode befindliche Schauspieler, die eine solche Fahrt zu ihren Erfolgen zählen, Leute, die von heut auf morgen leben, die gerade nur so viel Geld haben, um den Wagen zu bezahlen und dann noch ein Fünfkronenstück für einen Einsatz im Bakkaratspiel übrig behalten; Journalisten, die am Vormittag ihrer Zeitung mit vieler Mühe den täglichen Vorschuß erpreßt haben; der Herausgeber eines berüchtigten Winkelblattes mit den von ihm ausgehaltenen Freunden, der Patron eines bekannten Freudenhauses, Orpheumsdamen und die Frauen von Börsejobbern, nur wenige Magnaten: alles zusammen das armselige und großtuerische Schaufenster von Budapest, hinter welchem nichts ist als ein leerer Laden ...
Therese aber fand dies göttlich schön, neu und großartig. Sie hatte ein Gefühl, als wäre ihre Seele befreit worden. Mit funkelnden Blicken betrachtete sie den wallenden Federnschmuck auf den Hüten der Damen, und jeden vorüberfahrenden Herrn hielt sie zumindest für einen Grafen.
Paul Kemenes versuchte die Dinge zu erklären und redete wirres Zeug durcheinander. Therese hörte ihm nicht zu und der junge Mann ward immer mehr zerstreut, weil die Ziffern des starren Taxameters mit unbarmherziger Pünktlichkeit heraussprangen. Um sich dennoch zu entschädigen, drückte Kemenes, vom herabsinkenden Abenddunkel begünstigt, das Mädchen an sich ...
Therese tat, als bemerkte sie nichts. Ihre Stimmung hatte plötzlich umgeschlagen; sie fröstelte und fühlte einen Ekel vor dem Leben. An der Ecke der Üllöerstraße stieg sie aus dem Wagen, denn sie wollte nicht im Fiaker in der Feuerwehrgasse eintreffen. Ohne sich eigentlich von Kemenes zu verabschieden, hüpfte sie auf das Straßenpflaster und verschwand. Eine lahme Zeitungsverkäuferin, die ihre Abendblätter ausbot, bemerkte zu einer Hökerin, die vor ihrem Obststande saß:
»Ha, da ist eine, die bisher zu Fuße gegangen ist! ...
Therese drängte sich rasch durch die Menge der Passanten und eilte atemlos die Treppen empor.
»Wo bist du so lange geblieben?« fragte die Mutter streng.
»Ich hatte ein langes Konzept abzuschreiben ...«
»Es ist die höchste Zeit, daß du unser Abendbrot holst. Heut ist Freitag, da gibt es frische Grieben. Nimm für dreißig Heller.«