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IX.

In der Kazansko-Kathedrale zu St. Petersburg, wo Kutusow kniete, bevor er seine Heere im Jahre 1812 gegen Napoleon führte, war die Großmutter des Fürsten Wladimir vor der wundertätigen heiligen Jungfrau von Kazan in frommes Gebet versunken, als die Nachricht vom Selbstmorde Julchens eintraf. Die heilige Jungfrau hatte diesmal wirklich ein Wunder gewirkt, das nicht bloß darin bestand, daß sie Julchen Rubinvejer aus der Reihe der Lebenden abberufen hatte, sondern auch darin, daß der Fürst Wladimir sich die Sache nicht allzusehr zu Herzen genommen hatte. Nach jener glühenden, zuckenden, krankhaften, selbstquälerischen Liebe wäre auch ihm nichts anderes als der Selbstmord übrig geblieben, indes blieb der Fürst Wladimir merkwürdigerweise ruhig und kaltblütig.

Solange Julchen lebte, da war, atmete, solange ihre Schönheit glänzte und die Leute betäubte, solange sie einem andern hätte angehören können, war der verkrüppelte Körper, die bucklige Seele, das Zerrbild eines Mannes ihr in blinder Leidenschaft ergeben. Er zitterte davor, daß man sie ihm entreißen, ihn verhöhnen, ihn gar nicht für einen Mann ansehen könnte. Seine Leidenschaft, sein Fieber, seine Hysterie war eigentlich nur eine Selbstverteidigung. Jetzt, da Julchen niemandem mehr angehören konnte, interessierte sie ihn nicht mehr.

Die fortwährende Hetze, in die er selbst sich hineintrieb, hatte nunmehr aufgehört; die Gefangene verschwand für immer und der Wächter hatte somit nichts mehr zu tun. Er atmete auf und ging in die weite Welt hinaus; in Petersburg und Moskau war es schon kalt, er reiste daher an die Riviera.

Aber die Mädchen, die Mädel, die Vengerkas! Wie es da zuging, als die ungarische Zeitung im Café Metropole eintraf! Die Leute wußten sich nicht zu erklären, was da vorging. Die dreißig, vierzig Mädel, die am Nachmittag hinkamen, ließen den Wiener Kaffee, die Gesellschaft, alles im Stich, und Irene mußte die Nachricht laut vorlesen, damit alle sie vernahmen.

»Sie ist toll geworden; es ging ihr eben zu gut!« meinte Manci, als Irene die Stelle vorlas, daß ihr Geschmeide allein mehr als dreihunderttausend Kronen wert sei.

»Na, Mädel, da wird's einen Zustrom von Ungarinnen geben! Jede Pester Hausmeisterstochter wird nach Rußland laufen ...«

»Bald wird eine die andere nicht leben lassen!«

Sie wußten sich den Selbstmord Julchens nicht zu erklären. Was kann sie denn noch mehr gewünscht haben? Reicher, glücklicher kann doch keine sein. Daß der Fürst kein Adonis war? Nun und dann? Es wäre ihr ja ein leichtes gewesen, neben ihm einen andern zu bekommen.

Am Abend drehte sich das Gespräch des Chors in der Yard, nach dem Abendbrot, ausschließlich um Julchen. Jede wußte etwas über sie zu sagen.

»Einmal hatte ich kein Geld ... die Lolita benötigte ein Kleid!« erzählte Karoline. »Ich suchte sie auf und nach den ersten Worten gab sie mir Geld ...«

Therese lauschte stumm den vielen Erzählungen. Sie konnte sich den Fall so wenig wie die übrigen erklären. Die Arme hatte ja keine einzige Zeile hinterlassen.

Amélie ging nervös auf und ab.

»Sie ist toll geworden, denn sie hatte Hunderttausende und reichen Schmuck ... Dagegen müssen wir hier ein kümmerliches Dasein fristen ... Man hängt sich mir an den Hals, anstatt meine Lage zu erleichtern.«

Dies galt der Therese; am Nachmittag gab es einen großen Streit zwischen den beiden.

Irene kam spät nach Hause, und kaum schlief sie ein, stand Therese auf, wobei Irene aus dem Schlafe erwachte. Die beiden Mädchen gerieten in Streit und wurden beinahe handgemein. Auf das Gekreisch rannte Amélie herein und ergriff natürlich Irenens Partei.

»Das Fräulein ist eine Tagediebin, ich habe gar nichts von ihr!« herrschte sie Therese an. »Schauen Sie sich nach einem andern Quartier um. Seit Monaten habe ich Sie auf dem Halse und Sie haben den Chor noch kaum sechsmal blasen lassen. Ja, essen, das können Sie, die Gage beheben auch, die Wohnung gefällt ihr, aber arbeiten ... arbeiten sollen die anderen! Dabei trägt sie noch die Nase hoch ... Die Jungfrau! ... die Jungfrau! ...

Eine Verachtung von bodenloser Tiefe saß in ihren Mienen, als sie das Wort aussprach.

Ruhig und gelassen antwortete Therese:

»Na, auf diese Wohnung, diese Kost dürfen Sie nicht sehr stolz sein.«

»Wozu essen Sie denn bei mir, warum wohnen Sie nicht lieber in der Eremitage? ... Ich blicke Ihnen in die Nieren. ... Ich sehe, daß Sie Ihr Geld dem Lumpen von einem Griechen zustecken, damit Sie zur Solistin werden und mich dann auslachen, mich, der Sie dafür danken sollten, daß Sie leben. Aber ich werde nicht zugeben, daß man mein Blut aussauge und dann mich auslache ...«

Sie warf die kleine Glastür so heftig zu, daß das ganze Haus erzitterte.

Und als sie sich in den Streit einmengte, war dies nur eine Fortsetzung des nachmittägigen Wortwechsels.

Das Geschäft in der Yard ging seit einigen Tagen, man wußte nicht warum, nicht so gut. Sudakow war nervös und schlecht gelaunt.

»Die Mädel sind schon zu alt, ganz Moskau kennt sie!« sagte er der Madame Amélie in tadelndem Tone. »Wir brauchen frisches Blut ... schöne, junge, lustige Kinder ...«

Und insgeheim ließ er den Blick über die Mädchen schweifen.

Er stand prüfend da, als die Mädchen nach dem Gesang aus dem Theatersaal strömten. Auch Lolita stand da in Erwartung der Mutter. Heute gingen sie nicht gleich nach Hause, denn es war von Julchen die Rede und Karoline wollte das Gespräch anhören.

Sudakows Blick blieb an dem wohlgeformten, hübschen Kinde haften.

»Warum ist sie nicht im Kostüm? Wen erwartet sie?« frug er.

Dann richtete er an sie die Frage:

»Hast du keine Lust zum Gesang und zum Tanz?«

Lolita errötete. Gewiß hätte sie Lust dazu gehabt, war sie doch jeden Abend da; sie liebte diesen Lärm, die Musik, die schönen Kleider. Aber die Mutter gestattete ihr nicht, über diese Dinge auch nur zu reden. Als wohlerzogenes Kind antwortete sie leise:

»Mama gestattet es nicht.«

Sudakow brach in ein Gelächter aus:

»Was? die Mama? Ein vierzehnjähriges Mädel hat keine Mama mehr. Es fragt sich nur, ob es dir gefällt! Du bist schön und jung ... in dir steckt Geld! man muß es bloß aus dir herauskitzeln!«

Karoline kam bei diesen Worten hinzu.

»Nun, Mama?« frug Sudakow, wobei er sich vor Lachen schüttelte, Mama, wann werden wir dieses nette Hühnchen für gutes Geld verkaufen? Man braucht sich nur umzusehen, feine Käufer finden sich schon.«

Eine Blutwelle stieg Karoline ins Gesicht. Sie war keiner Antwort fähig, ihr war, als hätte man ihr vor den Kopf gestoßen. Zuerst kochte es in ihr, dann hatte sie Schüttelfrost, ihre Lippen wurden bläulich. Sie wußte nicht, ob sie dem Direktor das Gesicht zerkratzen oder ihn anspeien sollte. Sie atmete schwer, hatte einen Erstickungsanfall und hysterische Krämpfe. Da fiel ihr mit einem Male das richtige Wort ein und sie schleuderte die schmählichsten, gemeinsten russischen Insulten Sudakow ins Gesicht:

»Ti szvolotsch! Ti szvolotsch! Du Schmutz! Du Unrat!«

Sie kreischte, sie brüllte, alle Wut der Mutterliebe, die verzweifelte Abwehr der um ihr Kind besorgten Mutter machte sich da Luft. Wie, von ihrem Kinde wagte der Schuft in einem solchen Tone zu sprechen? Von ihrem Kinde, das die Schule der frommen Schwestern besuchte, für das sie sich in dieser Kneipe plagte? Sie fürchtete zwar schon seit Jahren diese Entwicklung der Dinge, doch wies sie den Gedanken stets entsetzt von sich.

Plötzlich waren sie von allen Leuten umringt. Die Vengerkas, die Zigeuner, die Kleinrussen standen um sie herum und in der Mitte des Ringes der Direktor, hochrot im Gesichte, ob des plötzlichen Wutausbruches der Vengerka ganz betroffen. Er war darauf nicht gefaßt. Er wollte bloß scherzen, und diese Wahnsinnige da? ... Er konnte die Sache kaum begreifen.

Er war derart verblüfft, daß er sich kaum fassen konnte; dann aber erfaßte ihn die Wut darüber, daß eine Vengerka es gewagt, ihn, ihn, den Direktor der Yard, den Herrn und Gebieter eines aus vierhundert Menschen bestehenden Personals, so zu beleidigen. Ihn, der mit Großfürsten verkehrt, der so zu Moskau gehörte, wie etwa der Kreml, beleidigt eine Hergelaufene ... eine Vengerka.

Aber das war noch nicht genug. Die vor Wut fassungslose Furie spie ihm auf die Brust, auf die Diamantknöpfe und zischte dabei:

»Ti palatzor ... Du Zimmerreiniger ...«

Da wurde auch er von Wut erfaßt und schrie mit heiserer Stimme:

»Ti stari pleaty! Von at suda! Packe dich, alte Vettel!«

Er wollte ihr an den Leib, wurde jedoch vom Proswoditl und einem Polizeioffizier zurückgehalten.

»Marsch, marsch!« schrie er, »du mußt augenblicklich fort mitsamt dem ganzen Vengerski-Chor. Keine darf dableiben, ich will die Bande nicht mehr sehen. Madame Amélie, Madame Lencsi, hinaus, sofort hinaus! Tschortwasni. Hol' euch alle der Teufel.«

»Aber Herr Direktor, Herr Direktor«, jammerte Amélie. »Mein Gott, mein Gott, was muß ich wegen dieser Bestien leiden! ...« Und schwere Tränen rollten über ihr geschminktes Gesicht.

Der Direktor hörte sie gar nicht und schrie immerfort mit heiser werdender Stimme:

»Von at suda! Packt euch, packt euch!«

Zu so früher Stunde hat der Vengerski-Chor das Lokal noch nie verlassen. Im Rock, Hut und in Gummischuhen standen sie vor der Yard. Jetzt begann erst das Leben und Treiben, das feinere Publikum kam erst jetzt an und begriff nicht, warum die vielen geschminkten Mädel mit den verblühten Gesichtern vor dem Lokal herumstanden. Sie eilten in die Wohnung der Amélie, nur Karoline war nicht unter ihnen. Nach dem Wutausbruch weinte sie still vor sich hin, nahm Lolita bei dem Arm und ging mit ihr nach Hause, wo es Schulbücher gab und Heiligenbilder, die das Kind von den frommen Schwestern bekommen hatte.

Die anderen Mädchen sammelten sich in dem berühmten Speisezimmer der Amélie. Dunyasa und die Köchin staunten über die nächtlichen Eindringlinge. Amélie war außer sich, während die Mädel die Lage von der heiteren Seite auffaßten.

»Rufen wir jemanden von der Straße herein, der soll den Chor blasen lassen!« rief Manci mit lautem Gelächter.

»Meine Damen! meine Damen!« rief Amélie in weinerlichem Tone, »ich begreife wirklich nicht, daß Sie da noch Lust haben, Witze zu machen.«

»Fürchten Sie nichts, Mama, es wird sich schon etwas für uns finden!«

Die Männer murrten:

»Die Weibsbilder haben es leicht, sie tragen ihr Brot bei sich. Aber was sollen wir Männer anfangen? Uns wird keiner aushalten!«

Das war allerdings richtig, denn die meisten Mädchen hatten ihren Freund, die Zugehörigkeit zum Chor war nur ein Aushängeschild; die Kunst sollte ihren Wert erhöhen. Der plötzlich ausgebrochene Sturm schadete eigentlich nur der Madame Amélie, Lencsi und den Männern. Der italienische Sänger war gar nicht mitgekommen. Was kümmerte er sich um den Bund? Er war bereit, auch mit den Zigeunern oder Kleinrussen aufzutreten.

»Was tun? Was tun?« jammerte Amélie. »Die Früchte meiner zwanzigjährigen ehrlichen Arbeit verliere ich wegen jener ... Bald hätte ich 'was gesagt ... Und wenn er die Lolita gar ein wenig gezwickt hätte! Sie sollte darauf stolz sein!«

Dann wurde ihre Stimme plötzlich die einer fürsorglichen, gütigen Mutter.

»Wir haben bisher zusammengehalten, wir wollen weiter beisammen bleiben ... Es ist ein altes Schauspielerwort: das Choristenleben ist ein saures Brot. Morgen, Kinder, will ich in die Strelna oder in das Zon gehen ... irgendwo werden wir schon Unterkunft finden. Geht das nicht, so wird der Matschalnik schon das Nötige veranlassen ... Ich habe ihm ja genug zukommen lassen ... er wird es uns ermöglichen, in den Klubs aufzutreten. Es gibt auch » Traktire«, die uns gerne sehen.

Ihr Ton wurde zuversichtlich, ja keck. Sie stand inmitten der zahlreichen Mädel da, wie die Gluckhenne neben ihren Hühnchen. Sie hatte ja schon ganz andere Stürme erlebt. Wenn es sein mußte, würde sich der Oberstadthauptmann ihrer annehmen, aber sie hatte auch noch einflußreichere Gönner. Hatte sie doch eine zwanzigjährige »öffentliche« Vergangenheit hinter sich ...

»Es wird schon gehen,« meinte sie. »Aber die eine hat Geld, die andere nicht; jetzt wird sich zeigen, wer eine gute Kollegin ist. Wir wollen so handeln wie die armen Eheleute, die das, was sie haben, zusammentun ...«

Sie lachte selbstzufrieden über den feinen Witz.

»Kinder, wir wollen eine Republik errichten ... Jede gibt ihr Geld her, und wir führen gemeinsamen Haushalt ... Jede bekommt dann den gleichen Anteil. Gemeinsame Not, gemeinsame Hilfe ... was meint ihr?«

Sie schaute in der Versammlung der Vielgeprüften um sich und ihr Blick fiel auf Therese, von der sie eine Antwort zu erwarten schien.

Therese sann einen Augenblick nach ... Es ist einerlei ... bei Amélie wird sie doch nie auf einen grünen Zweig kommen. ... Sie hat vierzehn Rubel ... morgen wollte sie die erste Rate für das Pianino absenden ... sie würde sie erst nächste Woche absenden, aber das Geld wollte sie doch nicht hergeben ...

»Ich gebe gar nichts her ... Mein Kontrakt lautet für die Yard. ... Wenn wir nicht in der Yard singen, ist der Kontrakt gelöst.«

Amélie erblaßte.

»Wenn es dem Fräulein nicht gefällt, so packen Sie Ihre Sachen, aber sogleich ... und verlassen Sie mein Haus. Wenn der Kontrakt gelöst ist, gibt's keine Wohnung.«

»Bitte,« erwiderte Therese ruhig, indem sie sich zum Gehen wendete.

Amélie rief ihr etwas nach, was sie nicht mehr hörte. Sie ging in ihr Zimmer und begann zu packen.

Die ungarische Köchin schlich ihr nach:

»Das Fräulein war klug; die will ja nur das Geld entlocken. Ein so schönes Mädchen kann auf eigenen Füßen stehen ... Wenn es übrigens schief geht, ist ja meine Schwester da, die Frau Szappanos, die gibt Ungarmädchen Kost und Quartier ... Diese da beutet Sie nur aus, ein bodenloser Brunnen, in den Sie alles vergeblich hineinwerfen ...

Therese war mit dem Packen fertig geworden und verließ das Haus. Sie lief zur Yard hinüber und winkte einen Wagen herbei. Zwei auf der Straße herumlungernde Gestalten trugen ihren Koffer hinaus und stellten ihn auf den Wagen. Das Tor schloß sich hinter ihr; aus dem Speisezimmer drang ein schmaler Lichtstreifen durch die Rollbalken, in der Toreinfahrt hörte sie noch lautes Gelächter ... Gewiß haben sie sich geeinigt. Sie stand nun draußen in der Nacht ... Der Kutscher hüllte sich fröstelnd in seinen Pelz, so daß nur der Bart, die Nase und der Zylinderhut sichtbar waren, und frug brummend:

»Wohin?«

Unschlüssig blickte Therese gen Himmel. Dieser war düster, trostlos-bleiern, voller Schneewolken. Vor der Yard fuhren die Wagen im Kreise herum, es schlugen die Hufeisen auf das Pflaster und man hörte das Brrr! der Kutscher, womit sie ihre zu feurigen Pferde zu bremsen suchten ...

»Wohin?« wiederholte der Kutscher.

Wen kennt sie denn in Moskau? Wer wird sie willkommen heißen?

Einige Zeilen genügen und Wolkow eilt morgen zu ihr, um ihr die Wohnung der toten Sophie zu schenken. Sie ist dann aller Sorgen ledig und kann sich ruhig zu einer Solistin ausbilden lassen ...

Da fiel ihr plötzlich ein Name ein.

» Jurakowsky!«

Der Kapellmeister würde sie gewiß gerne begrüßen. Sie war ja schon drei-, viermal bei ihm ... und wenn sie an Wolkow schrieb, so ...

Sie nannte dem Kutscher rasch das Ziel der Fahrt. Der Dwornik und noch ein Mann schleppten ihren Koffer hinauf und stellten ihn im Vorzimmer Jurakowskys auf den Boden. Er kannte sie schon und stutzte gar nicht darüber, daß sie in der Nacht kam.

Sie stand nun in der Garçonwohnung Jurakowskis da, die ganz anders beschaffen war als die meisten Garçonwohnungen. Ein einziges Riesenzimmer, das sich auf den Korridor öffnete; in einer Ecke ein eingebautes besonderes Zimmer, dessen Wände jedoch nicht bis zur Decke reichten: dies war das Schlafzimmer. Der Raum zwischen dem großen Zimmer und dem Schlafgemach war das Vorzimmer. Das Schlafzimmer hatte keine Tür, es war bloß ein grüner Vorhang da, der den Eingang verdeckte; im Innern ein breites Bett. Eine Tür führte in das Badezimmer.

Im großen Zimmer ein Klavier, ein Tisch, einige Fauteuils, offene Schränke, auf dem Boden einige Paare Schuhe, auf dem Kanapee Wäsche, die die Wäscherin am Nachmittag gebracht hatte, auf dem Ofen ein breitröhriger Samowar, auf dem Tisch einige zur Hälfte voll beschriebene Notenblätter. Inmitten dieser Unordnung stand Therese im Mantel und Kostüm da. Der Dwornik drehte das Gaslicht auf und das pfeifend ausströmende Gas wirkte auf Therese in dieser Einsamkeit ganz eigentümlich; sie befand sich in der Mitte einer großen Stadt in einer fremden Wohnung ganz allein und wußte nicht, was sie nun anfangen sollte.

Sie öffnete ihren Koffer, um sich umzukleiden. Sie ging in das Badezimmer, ging in der fremden Wohnung mit komischer Befangenheit herum, und es ward ihr vor ihrem eigenen Mut bange. Sie mochte über die Ereignisse nicht allzuviel nachgrübeln, sie war schon zielbewußt und entschlossen geworden. Sie kleidete sich in der Wohnung eines Fremden an ... was verschlug das? Sie würde noch Erlebnisse ganz anderer Art haben. Sie schloß ihren Koffer und ging in das Café Metropole. Unweit vom Tore traf sie einen Iswostschik. Sachte, fast unmerklich fielen die Schneeflocken, der erste Schnee des Jahres. Welch schönes Bild würde Moskau morgen in der Frühe bieten, wie weiß werden die Straßen sein, wie viele Tausend Schlitten werden da klingeln; sie sind ganz niedrig, es ist, als ob man im Schnee säße. Die prächtigen Rosse schaffen sie pfeilschnell in den Park hinaus, die Fahrt auf dem Moskauufer und auf den breiten Boulevards des Kitaj Gorod geht so glatt und angenehm von statten. Dazu braucht man aber einen guten, warmen Pelz, eine verbrämte Mütze und einen Muff, einen großen, warmen Muff, in dem die Hände Platz haben ... Ihre und die andere Hand, die den Muff bezahlt hat.

Morgen wird dichter Schnee die Stadt bedecken. Im Winter braucht man eine warme, traute Wohnung und Geld ... viel Geld, dann kann sie Madame Amélie mitsamt ihrer Truppe verlachen ... Julchen Rubinvejer hatte sich vergiftet, aber sie war dumm. Noch heute wird Therese an Wolkow schreiben, aber noch früher dem Jurakowsky, er möge kommen und sie nach Hause begleiten ... Mag da kommen, was da wollte. Sie will sich nicht für Geld dem Wolkow verkaufen. Jurakowski gefällt ihr.

Sie begab sich in das Café Metropole, ließ den Wagen warten und gab dem Kutscher den Brief, in dem sie Jurakowsky bat, sie abzuholen, da sie ihm etwas Wichtiges mitzuteilen hätte. Mehr schrieb sie nicht. Sie lächelte bei dem Gedanken, wie sehr er überrascht sein würde.

Dann kramte sie aus ihrem Ridikül Wolkows Adresse heraus und schrieb ihm einen ganz kurzen Brief in deutscher Sprache, so gut es eben ging. Wie würde wohl der gestrenge Schnabel, der deutsche Professor der Bürgerschule in der Pratergasse, den Brief klassifiziert haben?

Sie teilte dem Bauern mit, in die Wohnung Sophiens übersiedeln zu wollen, wo sie ihn übermorgen abends erwarten möchte.

Im Metropole ging es hoch her; um die Tische saßen forsche Offiziere in roten Husarendolmans und schwarzen Hosen; die Zigeunerkapelle des Jancsi Fazekas spielte Walzer von Léhar und Fall. Therese ließ sich behaglich in einem Plüsch-Fauteuil nieder. Sie fühlte sich frei und unabhängig, wie ein Student, der unerwarteterweise Ferien bekommen hat. Was ist das aber auch für eine ekelhafte Beschäftigung: jede Nacht von elf Uhr bis fünf Uhr morgens Sklavin der Madame Amélie zu sein! Auf einige lumpige Rubel zu jagen, den Chor blasen zu lassen, in einem dunklen Nebenraum das Abendbrot aus einem schmierigen Stück Papier herauszukramen, während die Welt draußen so schön ist, die reich ausgestatteten Restaurants und Kaffeehäuser feenhaft beleuchtet sind; wie schön ist es, wenn man dann nach Hause geht, daheim ein blütenweißes Bett vorfindet und einen appetitlich gedeckten Tisch mit Gabeln und Messern, wobei man auf einem Stuhl bequem sitzt, nicht aber im Finstern auf einem Bette, während im anderen Bette eine Irene schnarcht.

Sie genoß ihre Freiheit in vollen Zügen, und der nächtliche Lärm im Kaffeehause bereitete ihr eine kindische Freude; sie fühlte die gierigen Blicke der Offiziere, wollte jedoch heute mit niemandem »anbandeln«. Heute wollte sie bloß Jurakowski angehören. Sie kam sich mit ihrem weißen Leibe als reiche Beute vor, und plötzlich fiel ihr ein Theaterzettel ein ..., den sie in Pest in ihrer Kindheit gesehen. Das Stück hatte den Titel » Jephtas Tochter« ... Der biblische, orientalische Name brachte sie schon damals auf die Idee, daß in diesem Stücke eine Jungfrau geopfert wurde. Sie frug nicht danach und weiß auch heute nichts von dem Inhalte des Stückes. Und jetzt soll sie eine Tochter Jephtas werden; sie lag schon auf dem Opferaltar. Sie sann nach ... und wurde schamrot.

Morgen würde sie keine Jungfrau mehr sein. War das eine Schande? oder ein Unglück? Wie wäre es denn gekommen, wenn sie zu Hause die Maschinenschreibschule absolviert und einen kleinen Beamten geheiratet hätte? Und wenn sie ihn noch so sehr liebte, wären sie nicht dennoch arm geblieben, hätten sie nicht Not gelitten? Im günstigsten Falle hätten sie zwei Zimmer mit Küche gehabt, für eine Dienstmagd hätte es vielleicht nicht mehr gelangt. Lohnte sich denn das? Lohnte es sich, dafür Not zu leiden, Kinder zur Welt zu bringen, sie unter Opfern und Entbehrungen zu erziehen? Ihre Mutter? Sie war die Frau eines Professors, die Witwe eines Staatsbeamten. Wer hatte sich um sie während ihrer ganzen Witwenzeit gekümmert? Die armselige Pension? zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel ... Ja ... ja ... sie wollte frei sein ... Sie wollte bei Wolkow nicht stehen bleiben, sie wollte Geld, Geld, Geld machen und mit Geschmeide, Gold und Pelzen beladen heimkehren. Die Mutter sollte dann nur im Wagen fahren und am Abend würden sie zu Hause ein warmes Nachtmahl haben und Mägde zu ihrer Bedienung.

Es schnitt ihr ins Herz, als sie an die Mutter dachte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Was mochte die arme Frau jetzt tun? Jetzt hatte sie Zeit, das Briefpapier, die Tinte waren da ... Sie wollte ihr einen langen, langen Brief schreiben ... Sie tauchte die Feder ein und neigte sich über das Papier.

»Guten Abend, Therese!« ...

Es war die bekannte Stimme Jurakowskys.

Die rührselige Stimmung war im Nu wie fortgeblasen. Sie schob Tinte und Papier beiseite.

»Haben Sie gehört, was sich zugetragen hat?«

»Gewiß!« erwiderte er lachend. Sudakow wäre vor Wut beinahe geborsten und der Vengerski-Chor wurde hinausgeworfen. Er wird ihn nach zwei Wochen schon zurücknehmen. Sie vertilgen ja viel Champagner, und schließlich ist ja das Geschäft die Hauptsache und nicht die Würde ... Und Sie? Was wünschen Sie von mir?

Er setzte sich knapp neben sie; seine vollen, roten Lippen waren heiß, sein Atem brannte ihr auf der Wange, und seine Stimme berührte sie warm und zärtlich.

»Ich? ... ich?« ... wiederholte sie nach Art solcher Leute, die nicht gleich antworten wollen und etwas reden, um Zeit zu gewinnen. »Ich ... wollen Sie etwas hören?«

»Gewiß. Ist es interessant?«

»Überraschend!«

»Dann lassen Sie hören.«

»Ich habe mich mit Amélie endgültig überworfen.«

»Das ist doch nicht so überraschend.«

»Und wissen Sie, wo ich jetzt wohne, wo ich heute übernachten werde?«

»Bei mir!« ... erwiderte er ganz ruhig.

»Sie waren gewiß schon zu Hause und haben mein Reisegepäck gesehen.«

»Das keineswegs. Aber wenn Sie mich hierher bestellen und mich fragen, wo Sie heute übernachten werden, kann ich denn anders antworten? Haben Sie denn in Moskau einen besseren Freund als mich?«

Er drückte ihr die Hand und sein Bart berührte beinahe ihre Brust. Seine Stimme wurde noch leiser, noch wärmer.

»Dann gehen wir!«

Ausnahmsweise bezahlte heute er die Zeche. Die Banditenehre erwachte in ihm, er wollte sich für das Geschenk, das Therese ihm zu geben im Begriffe stand, erkenntlich zeigen. Sonderbarerweise zeigte er sich gar nicht überrascht, er hatte eben im Lokal schon so manches erlebt; jedenfalls war ihm das junge, schöne Geschöpf willkommen.

Sie gingen über den Theaterplatz; der Schnee fiel schon in dichten, großen Flocken und bildete auf dem Asphalt unregelmäßige Häuflein, wie die Watte auf dem Christbaum. Therese, deren Lippen brannten, ging Arm in Arm mit Jurakowsky, eng an ihn geschmiegt, in die schneeige Nacht hinaus. Der Schneefall, die Änderung des Wetters paßte zu ihrer Stimmung, sie fühlten, daß etwas im Anzuge sei, ein Abschied vom Alten und der Eintritt einer Wendung ...

Therese war zerstreut und schweigsam, aber weder nervös, noch von Bedenken geplagt. Sie erwog ruhig, die Bürde der Jungfrauschaft nicht länger tragen zu wollen und mit dem Mann zu gehen, mit dem Manne ihrer Wahl. Sie tat es freiwillig, weil er ihr gefiel, nicht für Geld und nicht aus Habsucht. Es werde eine Erinnerung sein, kein Geschäft.

Jurakowsky, der schlaue, welterfahrene Routinier, drückte sie an einer dunklen Ecke an sich und küßte sie.

»Süße, Süße!« flüsterte er.

Er wollte zeigen, daß er ein empfindsamer Mann sei, der sein Opfer mit Blumen und mit Musik empfängt. Dann machte er ihr lügenhafte Versprechungen:

»Ich will ein kleines Zimmer für dich mieten ... Ich will dich unterrichten und eine Solonummer ersten Ranges aus dir machen.«

»Nein ... nein ...« erwiderte sie lächelnd.

Sie sprach wie eine, die gar manchen Sturm schon erlebt hat und jetzt nur einer Augenblickslaune frönt.

»Ich bleibe nur bis übermorgen bei Ihnen, Jurakowski ... dann werde ich Therese Wolkow sein. Der Bauer bat mich, seine Freundin zu werden. Er scheint ein gutherziger, lieber Mensch zu sein ...«

»Und reich ist er!«

»Ja ... Die Mädchen sagen, daß er sehr reich ist ... Ich werde ein Klavier haben und Sie können mich dort besuchen, mich unterrichten ... Vielleicht will ich gar nicht Solistin werden ... Aber Sie mögen immerhin nur kommen ... aber nur unterrichten ... verstehen Sie?«

Sie schmiegte sich noch mehr an den Griechen; beider Fußstapfen waren im Schnee schon zu unterscheiden; sie zogen sich schön regelmäßig nebeneinander dahin, bis sie vor einem großen Haus aufhörten ...

Nur wenige waren noch auf der Straße; hinter den Fenstern der Häuser war nur hie und da Licht zu entdecken; die spät Heimkehrenden zündeten die Lampen an, um sie bald wieder auszulöschen und die Rollbalken niederzulassen; hinter den Mauern aber setzte sich das Leben fort: Müdigkeit, Eifer, Windstille und Sturm, Verrat und begeisterte Liebe, vergiftete Augenblicke und freiwerdende Freuden, beginnende Wonnen und fortgesetzte Qualen, schreckliche Stunden der Schlaflosigkeit und tiefer Schlaf ... Nacht! Eine große dunkle Decke, ein schwerer Vorhang, den der himmlische Regisseur auf die -- Welt genannte -- Bühne herabsenkt, um die Verwandlungen, das Reinigen, die Dekorationen zu besorgen, bevor der neue Akt, der Morgen, der neue Tag beginnt ...

Therese schlief ein, sie fieberte, sie fühlte sich zerschlagen. Als sie die Augen öffnete, blickte sie erstaunt, erschrocken um sich. Der Schlaf hatte ihr keine Erquickung gebracht. Und der Augenblick des Erwachens, in welchem sie ihre Gedanken sammeln mußte, verursachte ihr Kopfschmerz. Jurakowski war schon auf den Beinen; er wollte zu ihr kommen, sich über sie neigen, doch Therese winkte ihm ab. Sie schämte sich, sie wollte allein sein.

»Bitte, gehen Sie aus, lassen Sie mich allein!«

Jurakowsky lachte.

»So sind sie alle ... Einfältige Kinder ... Gut. Ich gehe fort ...

Und er ging fort. Therese blieb allein; sie schloß die Tür und legte sich wieder in das Bett. Sie getraute sich nicht um sich zu blicken. Ihr Mund war bitter, auf ihrer Stirne schwollen die rasch pulsierenden Adern an. Am liebsten hätte sie geweint, doch die erlösenden, befreienden Tränen mieden ihre Augen. Die auf sie einstürmenden Gedanken schienen ihren Schädel sprengen zu wollen. Sie fühlte die stechenden, peinigenden Fragen: war das nicht eine nie gutzumachende Dummheit? Vielleicht wäre es besser gewesen, aus Anlaß der gestrigen Kündigung heimzukehren? Was bedeutet denn dieser Jurakowski für sie? Warum hatte sie sich an ihn weggeworfen? Sie war nicht mehr das, was sie gewesen ... kein Mädchen, nicht mehr makellos, nicht mehr unberührt ... Sie empfand die ungeheure Wucht dieser Worte.

So folterte, so quälte sie sich. Vielleicht warf sie sich nur hin und her, vielleicht schlief sie ein. Endlich stand sie auf. Sie trat vor den Spiegel. Das Gesicht war genau so wie gestern. Vielleicht unter den Augen ... nein, es war gar nichts zu bemerken ... Sie konnte genau so wie früher unter den Menschen wandeln. Wer sie anblickte, merkte gar nichts und wußte gar nichts. Das war eine große Gnade der gütigen Natur ...

Sie kleidete sich an; als sie damit fertig wurde, klopfte es an der Tür. Jurakowsky trat mit einem riesengroßen Strauß Chrysanthemum in der Hand ein. Es war ein samtweicher, krauser und doch regelmäßiger Riesenkelch, ein Chrysanthemum, wie es nur in Japan gedeiht und so, ziemlich unverändert, bis Moskau kommt.

»Die Blume ist für Sie!« sprach er, sie ihr überreichend.

Der Grieche wollte sich liebenswürdig zeigen. Als er erfuhr, daß sie schon morgen die Freundin Wolkows sein werde, atmete er erleichtert auf, da das Abenteuer ihm keine weiteren Sorgen bereiten würde. Er hätte sich übrigens auch sonst wenig um sie gekümmert, und nur dem äußeren Schein zuliebe bot er ihr die Wohnung und die Lektionen an ... Aber so? Es war doch nur ein Tag. Wenn das Mädel ihn schon liebte ... sollte dieser eine Tag schön und voll Wärme sein.

»Kleiden Sie sich gut warm an ... Ein Schlitten erwartet uns unten ...«

Zufrieden reichte sie ihm die Hand.

»Sie sind ein aufmerksamer und liebenswürdiger Kavalier ... Aber was nützt mir das alles, wenn ich keinen Pelz habe ...«

»Das tut nichts ... Wir gehören ja zur Bohême. Übrigens habe ich zwei Pelze, in dem einen wird sich mein Vögelchen verstecken.«

Therese freute sich über die Schlittenfahrt. Jurakowski trug den Pelz auf einem Arm zum Schlitten hinunter. Therese hüllte sich ein und sie zogen die Decke über die Knie. Niemand konnte ahnen, daß sie nicht im eigenen Pelz durch das heitere, lebensfrohe Moskau fuhr.

Ach, Matyuska Moskau, kleines Mütterchen Moskau, Seele und Quelle des wahren Russentums, wie schön war es an diesem Nachmittage! Petersburg ist eine erzwungene, erkünstelte Stadt, sie wurde gewaltsam nahe an das Meer geschoben; ihre großen roten Kasernen, zahlreichen bunten Kirchen, der unheimliche Palast der Admiralität, die gespensterhafte Festung Petropawlowsk, der hochmütige Winterpalast -- all dies ist nur Machwerk, durch Zaren, Beamte und Ingenieure geschaffen, erbaut und errichtet, wogegen Moskau das Produkt einer natürlichen Entwicklung ist; es erstand, wie das russische Lied, wie die Wälder längs der Wolga.

Petersburg steckt voller Polizisten, Soldaten, Ämter, voller Angst und Furcht; Moskau ist heiter, frei, und -- obwohl eine ältere Stadt -- doch lebensfroher und frischer.

Der in einen großen Pelz gehüllte Jamschtschik ließ lustig die Peitsche knallen; sie mußten die Arme fest ineinander schlingen, um von dem niederen, dahinfliegenden Schlitten nicht herabgeschleudert zu werden; sie begegneten anderen heiter gestimmten, glücklich scheinenden Paaren. Mit der lauten Heiterkeit von Schulkindern feierte Moskau das Fest des ersten Schnees. Die elektrischen Lichter der tausend Geschäftsläden der Twerskaja flimmerten weißer als der Schnee; sie flogen an der wimmelnden Menge vorbei; die Griechen mit ihrem roten Fes auf dem Kopfe, die schwarzen Perser mit ihren Schafwollmützen standen vor ihren Geschäftsläden und bewunderten das Wettrennen der Schlitten; gleich einer Vision glitt der mächtige Bau des Museums an ihnen vorüber, und vom Krasnaja-Platze grüßte der alte Kreml mit seinen merkwürdigen Türmen, Kuppeln, schneebedeckten Spitzen gleich einem bethlehemitischen Spiel die dahinfliegende Jugend.

Die beiden Rosse sprengten gleich Zauberpferden über die Moskworietzki-Brücke und über die kleine Insel des Moskau- und Vodootvodni-Kanals, dann über die Tschugunni-Brücke in das Viertel Yakimanskaja. Wer kann so mit Pferden umgehen, Schlitten fahren, wie der Russe? Das ist gar keine Schlittenfahrt, sondern ein seliges Dahingleiten, Fliegen, als ob die Reibungen dieser Erde, die Gesetze der Schwere nicht bestünden und nicht Pferde, sondern motorische Kräfte am Werke wären. Jurakowski und Therese schienen in diesem wohltuenden Dahinhuschen in eins zu verschmelzen; die Häuser, die Straßen, die Kirchen mit den zwiebelförmigen Türmen und den steinernen Turbanen, die orientalischen, rot-blauen Dreiecke der Säulen und ihre Linien erschienen in der schwindelerregenden Schnelligkeit der Fahrt wie eine märchenhafte Schraffierung. Endlich trafen sie im Neskutesni-Park ein. Dort bremste der Kutscher mit einem das Vorwärtsstürmen übertönenden »Brrr!« den rasenden Lauf der schäumenden Hengste, und von da ging es im Schritt weiter auf den wohlgepflegten Parkwegen. Die kleinen Teiche waren schon zugefroren; hie und da sah man laute Kinder Schlittschuh laufen; als wären die Riesenbäume in Pelze und Boas gehüllt, waren sie oben mit einer hohen Schneeschichte bedeckt, während man unten noch das Karmin- und Rostrot des Herbstes beobachten konnte. Die Rosse nagten am Gebiß herum, ihre Hufeisen sanken in dem frischen, aber schon hartgefrorenen Schnee ein, und im Hintergrunde des Parkes sah man die dunkle Pracht des geschlossenen, leblosen Alexander-Palastes.

»Ist das nicht eine schöne Hochzeitsreise?« fragte Jurakowsky, indem er Therese an sich drückte.

»Ja, schön ...«

Ohne zu wissen, warum, lehnte sie den Kopf an seine Brust. Jurakowsky neigte sich über sie und küßte sie lange und innig ... Der Kutscher tat, als hätte er nichts gemerkt ... Die Sache war ihm nicht neu und ging ihn nichts an, er hatte nur die Pferde anzutreiben. Allein die Rosse wurden aus irgendeinem Grunde scheu, machten einen großen Satz und schleuderten den Schlitten zur Seite. Therese und Jurakowsky, die einander umschlungen hielten, fielen in den weichen, weißen Schnee, in die seidenweiche, reine Masse. Lachend, in heiterer Stimmung machten sie sich auf die Beine. Sie dachten nicht an die Lügen, Kämpfe, Verstellungen des Lebens ... Sie gaben sich gedankenlos den Freuden des Augenblicks hin.

Dann knallte die Peitsche, die Schatten der Nacht senkten sich herab und Therese war wieder allein in Jurakowskys Wohnung.

Die beiden Nächte gingen wie ein Gewitter vorüber.

Wolkow sandte seine Antwort an Therese in das Café Metropole. Er erwartete sie ...

Abermals kam der Budapester Koffer auf den Bock. Therese schloß einen neuen Vertrag. Sie verabschiedete sich von Jurakowski an der Schwelle seiner Wohnung mit einem langen Kusse und lief die Treppen hinab.

Lächelnd, mit zufriedener Miene schloß der Grieche seine Tür. Das waren zwei angenehme, schöne Tage. Erzählte er die Geschichte seinen Freunden, so würden sie sie ihm gar nicht glauben wollen. Er pfiff ein Lied vor sich hin und stellte sich selbstgefällig vor den Spiegel. Im Zimmer schwebte noch der Duft der Vengerka, doch die Vengerka stieg jetzt schon fremde Treppen empor.

Die Wohnung der toten Sophie, die nunmehr die Thereses werden sollte, befand sich in einem Miethause des Kusnetzki-Most im zweiten Stocke. Therese klingelte, die Tür ging auf, und Wolkow empfing sie.

Der Bauer trug Stiefel, einen langen, braunen russischen Rock und hielt ein Bündel Blumen in der Hand. Therese sah einmal im Kinotheater Urania in Budapest ein Passionsspiel ... Sie war damals noch in der Bürgerschule ... Wolkow ähnelte dem Christus ...

Er sprach langsam und ergriffen.

»Therese, ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind ...

Er beugte sich nieder und küßte ihre Hand.

Er führte sie in das Zimmer. Alle Lampen brannten; an den Fenstern hingen leichte Seidenvorhänge; das eine Zimmer war ein lieblicher Damensalon mit vergoldeten weißen Möbeln, einem mit gelbem Plüsch bedeckten Tischchen mit Barockfüßen; das Tischchen hatte eine Glasplatte, auf der ein Riesenstrauß aus Fliederblüten stand.

Der Bauer sprach leise:

»Ich weiß ... der Flieder ist eine Ungarblume.«

Alles im Zimmer war neu, freundlich, warm. Das Schlafzimmer glänzte vor Sauberkeit, auf dem Bette lag eine Seidendecke mit weißen Spitzen, die Schränke waren in die Mauer eingebaut, den Boden bedeckten weiche Teppiche von diskreter Farbe.

Die Köchin, zugleich Zofe, begrüßte ihre neue Herrin mit einer Verbeugung.

»Nadinka stammt aus meiner Gegend,« meinte Wolkow lächelnd.

Die stämmige Russin mit den gelben Haaren betrachtete ihre neue Herrin mit neugierigen Blicken. In den Haaren trug sie die mit Perlen geschmückte Kokoschnik, eine uralte Festtracht, als hätte sie andeuten wollen, daß sie sich heute festlich gekleidet hatte. Ihr roter Sarafan ließ ihre plastische Gestalt hervortreten, ihre vielfach gefältelten Röcke reichten bis zu den Stiefeln, indes war ihr Gang keineswegs schwerfällig oder plump. Wolkow sagte ihr:

»Sei folgsam und aufmerksam.«

Dann blieben sie allein.

Daheim.

Und doch war das eine eigentümliche, fremdartige Stimmung.

Da ist sie in einer bequemen, schönen Wohnung, wo, sie weiß selbst nicht warum, alles, ihr gehört. Sie hat bloß die Hand danach auszustrecken. Warum? Für nichts. Weil sie ein Weib ist. Weil dieser Mann sie begehrt. Ist sie ihm denn so viel wert, lohnt sich das für ihn? Therese konnte das nicht begreifen, und die Neuartigkeit der Sache machte sie befangen. Sie dachte daran, sie habe das Ziel einer Vengerka nunmehr erreicht: sie war eine Ausgehaltene. Ein reicher Mann hält sie aus. Das ist es, was die armen Mädchen zu erreichen wünschen; selbst jene, die tugendhaft bleiben; das ist es, was die reichen Mädchen für unmoralisch halten, weil sie es nicht nötig haben.

Ist denn das nicht das Einfachste? Das Leben sorgenlos zu gestalten, seine Lasten jemandem zu überlassen, dem diese Bürde eine Wonne, ein Lebensziel ist?

Wolkow saß im kleinen Salon ihr gegenüber und sprach leise, verschämt zu ihr:

»Für den Mietzins, für Kleider werde natürlich ich sorgen. Bitte, über Geldangelegenheiten wollen wir lieber nie reden. In meiner Bank, bei der Firma G. Wolkow Söhne -- das sind meine Verwandten auf der Petrowka -- werden Sie an jedem Ersten achthundert Rubel für Ihre Bedürfnisse beheben ...

Langsam, stoßweise kamen diese Worte von seinen Lippen. Er schämte sich, hierüber sprechen zu müssen.

Therese hörte ihm verwirrt zu, ihre Wangen waren hochrot, ihr Mund trocken. Das glänzende Licht, die Nähe des Geldes ... die achthundert Rubel am Ersten jedes Monats ... all dies betäubte sie. Sie dachte an die dreißig Rubel der Amélie. Und nun wurde sie mit einem Male reich, die Not, das Nachtwachen, der Schmutz der Nachtkneipe war vorbei ...

Sie schwieg.

Wolkow erhob sich und trat dicht vor sie hin.

»Und für den Fall, daß Sie ein Kind bekommen, habe ich fünfundzwanzigtausend Rubel für das Kind beiseite gelegt. Ist es ein Mädchen, so kann es mit achtzehn Jahren, ist es ein Knabe, mit zwanzig Jahren den Betrag beheben. Bis dahin verdoppelt er sich.«

Er holte mit linkischer Gebärde seine lederne Brieftasche hervor, legte ein blaues Büchlein unter den Fliederstrauß, ferner einen Umschlag, aus dem die Hundertrubelscheine nebst einer Schrift hervorlugten.

Das Geld ... Das Geld war da, es lag vor Therese.

Sie schwieg noch immer, sie schaute um sich. Wolkow sprach jedes Wort laut und deutlich, alles war klar, und doch kam es ihr so wirr vor. Endlich schloß sie die Augen und stieß einen tiefen, schweren Seufzer aus, der stoßweise ihre Lippen verließ. Was sagte ihr der Mann da? Wenn sie ein Kind haben wird ... fünfundzwanzigtausend Rubel ...

Der Bauer legte seine große braune Hand auf ihren Kopf, als wollte er sie segnen, neigte sich über sie und küßte langsam, kaum merklich ihre Stirne.

Und sie griff, ohne ihn zu sehen, nach seinem Arm, zog ihn an sich und schmiegte sich mit ihrem jungen, lieblichen Gesicht an seine Hand. Schlau und weich, wie eine Katze.

Dann öffnete sie die Augen, sie blickten sich an, und alles kam ihnen so einfach, so natürlich vor. Es bedurfte nur eines Mannes, der da glaubt und eines Weibes, das glauben macht.

Sie verbrachten den ganzen Abend zu Hause. Wolkow war ihr bei dem Auspacken behilflich.

»Sehen Sie,« sprach Therese mit trauriger Lieblichkeit, denn sie fühlte, daß die Rührseligkeit jetzt der richtige Grundton war -- seitdem ich meine Heimat verließ, geschieht es das erste Mal, daß ich meine Wäsche in einem Schrein verwahre. Bei Amélie hatten wir nicht einmal einen Kleiderrechen.

»Ich weiß, ich habe davon gehört.«

»Sophie? Nicht wahr, Sophie hat es Ihnen erzählt?«

»Ja, sie.«

»War sie schöner als ich? Liebenswürdiger?«

In der Hand hatte sie einen leichten, weißen Unterrock, ihre Bluse war am Halse aufgeknöpft, den Kopf neigte sie ein wenig zur Seite, und ihre Augen blinzelten schelmisch. Sie war schon ganz in dem Metier, sie kokettierte schon mit den bestgehüteten Erinnerungen der Vergangenheit.

Doch Wolkows Miene blieb ernst.

»Das Leben ist schöner als der Tod ... Und mit den Toten gibt es keinen Wettbewerb.«

Über Sophie wurde nicht mehr gesprochen.

Auch das Souper hatte Therese gerührt. Ohne sich selbst darüber Rechenschaft geben zu können, hatte sie die Empfindung, nicht im realen Leben, sondern auf der Bühne zu stehen. Noch nie saß sie in einer Wohnung, an einem tadellos gedeckten Tisch, wobei eine Dienerin mit einer Schüssel herumging, noch nie hatte sie die Ruhe, die Behaglichkeit der Reichen so empfunden. Das war etwas, woran sie sich noch lange nicht würde gewöhnen können.

Die Vorhänge und Teppiche dämpften den Lärm der elektrischen Straßenbahn, und auf dem Kamin brodelte der Tee im Samowar. Die Holzkohle brannte glührot, ohne Flamme, der Dampf drang stoßweise aus der Truba, dem kleinen Rohr des Samowars, heraus ... Sie waren allein ... am Abend, vor der Nachtruhe.

Vor zwei Tagen bei Jurakowski, heute hier. Diese beiden Tage bedeuteten eine riesengroße Entfernung. Am jenseitigen Ufer, an dem für immer verlassenen, eine Welt von Sehnsüchten, Versuchen, Selbsterniedrigungen; hier das Eintreffen am Ziel, die Beruhigung, die sichere Unterkunft. Therese dachte immerfort an die fünfundzwanzigtausend Rubel.

Und als sie näher aneinander rückten, raffte sie sich zur Frage auf:

»Wollen Sie? Möchten Sie ein Kind haben?«

»Wie klug von Ihnen, daß Sie dies zur Sprache bringen,« sagte Wolkow in heiterem Tone. »Ich wollte den Gegenstand nicht berühren ... Ich dachte mir, das werde sich schon von selbst geben. Da Sie aber gesprochen haben, möchte ich Ihnen erzählen ...«

»Lassen Sie hören ...«

»So ... Blicken Sie mich an, denn ich möchte durch Ihre Augen hindurch Ihnen in die Seele hineinsprechen ... Solange ich jung war, dachte ich gar nicht daran, daß das Kind auch ein Lebensziel, ein seelisches Bedürfnis sein könne. Ich sah und hörte, wie Mütter sich mit ihren Kindern brüsten, und ich folgerte daraus nicht mehr, als daß das Kind ein liebenswertes, unterhaltendes Wesen sei ... Ich habe dann geheiratet. Ich erwähnte es ja schon. Und die Jahre fliegen dahin, meine Frau erkrankte, sie wurde zu einer Ruine; wir leben nebeneinander und lieben einander ... Die Arme mußte schon so jung so viel leiden ... aber es fehlt der Kitt, der uns verbinden soll. Wie lieb wäre es, ein Kind zu haben, das dem Leben einen Inhalt gibt ... Aber es geht nicht ... die Arme ist so krank ... es geht nicht.«

Er blickte Therese an und in seinen Augen lag der Ausdruck unendlicher Angst und Sehnsucht.

»Begreifen Sie nun?«

»Ich verstehe Sie,« lautete die leise Antwort. »Auch Ihre Frau sehnt sich darnach ...«

»Ja. ... Es möge wenigstens mein Kind sein ... Wir haben die Sache miteinander ruhig, ohne Groll, ohne jede Gereiztheit besprochen. Es würde unser beider Leben ausfüllen und inhaltreich gestalten. In jenem neuen Leben, in dem Kinde würden wir uns wieder treffen. ...

»Somit lieben Sie mehr das Kind, nicht mich!«

»Kann man das eine vom andern trennen? Kann ich das Kind lieben, ohne in ihm auch seine Mutter zu lieben? Erinnern Sie sich daran, daß ich Ihnen gesagt habe, Sie wären für mich nach Rußland gekommen? Ich glaube an die Güte Gottes und an die Bestimmung ... Alles, was jetzt mir gehört, soll dem Kinde zufallen; das Sparkassebuch und den Notariatsakt habe ich nur mitgebracht, damit Sie mir glauben. Es bedurfte eines Zeugnisses, weil ein Stück Papier oft mehr zu bedeuten scheint als ein ganzes Leben ... Verstehen Sie mich? Verstehen Sie?«

Hinter den leise, langsam gesprochenen Worten barg sich heiße Leidenschaft und Sehnsucht, ein nach Betätigung ringender Wille, ein hartnäckiges Streben nach dem Ziele, nach der Bestimmung, an die er felsenfest glaubte.

Therese erwiderte mechanisch:

»Ich verstehe ...«

Dies war aber nur ein hohles Wort. Der Mann kam ihr so eigentümlich, so absonderlich vor.

»Lieben Sie mich denn?« frug sie ihn plötzlich. »Es scheint ja, daß Sie mich nur durch Zufall, um eines Kleides, einer Erinnerung willen zu lieben glauben. ... Prüfen Sie sich gewissenhaft und dann erst antworten Sie.«

In dem Gefühle, Wolkow ganz in ihrer Gewalt zu haben, wagte sie es, ehrlich und rückhaltlos mit ihm zu sprechen.

»Sie glauben vielleicht bloß, mich zu lieben, ohne daß das Gefühl in Ihrem Innersten Wurzel geschlagen hätte.«

»Halten Sie ein!« unterbrach er sie in bittendem Tone. »Nein ... wir dürfen darüber nicht weiter sprechen. Das ist eine beschlossene Sache, an der nicht gerührt werden darf.«

Er drückte sie an sich und küßte sie. Therese empfand weder die Liebe, noch die heiße Sehnsucht, nur das Eigentümliche der Lage wirkte auf sie. Und sie ergab sich ... Sie war nunmehr ruhig und reich. Im nächtlichen Dunkel vermochte sie sogar zu lächeln. Sie lächelte darüber, nunmehr eine »Ausgehaltene« zu sein.

— — — — — —

Zwei Tage später glitt eine Trojka mit lautem Geklingel die Koslowka-Straße entlang. Therese trug einen ganz neuen, prächtigen Pelz. Der »Bauer« trug sein gewohntes russisches Kleid. Er verstand es, die Pferde meisterhaft zu behandeln. Sein Gesicht war von der frischen Luft gerötet; halb umgewendet erklärte er ihr, das mittlere Pferd müsse stets scharf traben, während die beiden anderen galoppieren können. Rings herum umgab sie eine weiße Riesendecke.

Die großen, weitverzweigten Pappeln schienen mit ihrer weißen Farbe im großen weißen Felde aufzugehen. Der klingelnde Schlitten fuhr durch das im Winterschlaf versunkene Jasnaja Poljana, wie durch das Reich Dornröschens: Therese überließ sich, behaglich in ihren warmen Pelz gehüllt, dem Sportvergnügen und hörte kaum die Bemerkung Wolkows:

»Hier wohnte Lew Nikolajewitsch.«

Sie wußte gar nicht, wer Lew Nikolajewitsch war, und interessierte sich nicht einmal dafür; wahrscheinlich ein reicher Russe.

In diesem Augenblicke war Wolkow für sie nur ein Kutscher. Sie hatte sich in ihre eigenen Gedanken eingesponnen. Der Schnee, der Winter erinnerten sie an Weihnachten und an ihre Kindheit; die Kindheit gemahnte sie an die Mutter und an Budapest. Jetzt mochte es in Budapest fünf, sechs Uhr sein. Die vielen Jungen und Mädel sitzen im Artistenklub beisammen, Mama Tomcsányi macht gewiß die Bekanntschaft neuer Künstlerinnen, die Ligetische Schule annonciert in den Blättern, und das Operettentheater bereitet einen neuen Schlager vor. Ob sie wohl jemals von ihr reden, ob außer der Mutter ein Mensch an sie denkt? Ob irgendeiner eine Ahnung davon hat, daß im fernen Rußland Therese Ladány auf einem Schlitten sitzend zu einer Menschenruine, einer unglücklichen, kranken Frau fährt, die Therese Ladány, die Geliebte ihres Mannes, zu sehen wünscht.

Wolkow trieb die Pferde an, drehte sich manchmal um und gab ihr Erklärungen. Hier wohnt der, dort jener, dies sein Wald, dies das Feld des Nachbarn. Aus dem Erdreich wuchsen kleine Häuser und Dörfer heraus, stellenweise brannte schon die Petroleumlampe; Leute, die nicht zählten, bereiteten sich auf den Abend vor ... Wie viele Millionen Lampen werden in der Welt allabendlich angezündet, wie viele Millionen Seelen gibt es, deren winzige Flämmchen kaum merklich flackern. Zusammengenommen würden sie eine mächtige Flamme, ein reinigendes Feuer, einen Schrecken verbreitenden Feuerherd bilden; einzeln genommen sind sie nur unbedeutende Glühwürmchen, die im Dunkeln erlöschen.

Die Trojka fuhr durch das angelweit geöffnete Tor und die Mägde schälten Therese aus ihrem Pelz und den Schneeschuhen heraus.

Sie legte die Mütze ab und stand in dem sauberen, geräumigen Empfangszimmer. Altmodische, bequeme Stühle, an den Wänden mächtige Armleuchter, wie man sie nur auf alten Bildern sieht, ein Heiligenbild mit einem Öllämpchen, bei dem Fenster ein Podium, auf welchem ein Lehnstuhl stand, und in diesem saß eine eingeschrumpfte Frau mit pergamentgelbem Gesichte; nur ihre Augen glichen zwei schwarzen Sternen.

Die Frau zwang sich zu einem Lächeln, winkte Therese herbei und sprach im Tone einer müden, im Ablaufen begriffenen Spieluhr:

»Venez ... venez plus près, mon enfant ... mon jolie enfant ...«

Anastasia Feodorowna sprach nur russisch und französisch.

Und sie streckte ihre mageren, blutleeren Hände mit den dünnen Fingern aus, die fast durchsichtig waren; wenn sie jemanden berührten, fühlten sie sogar die Nerven heraus ...

Die Frau sprach einige Worte russisch mit Lida, die kerngesund, barfüßig hinter ihr stand und auf Geheiß ihrer Herrin den Stuhl etwas vorrücken ließ.

Wolkow stand in stummer Rührung in der Mitte des Zimmers, während Anastasia Feodorowna ihre Hand weich und liebevoll auf Theresens Kopf legte und im Tone glücklicher Zufriedenheit immerfort wiederholte:

»Très jolie, très jolie ...«


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