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XVI

Dürers Ende

 

1

Hieronymuszauber liegt über Dürers Lebensende. Wie er selbst den stillen Heiligen einst schilderte, der unter dem drohenden Todeszeichen gelassen ruhig seiner Arbeit waltet, ihr alles zuführt, was noch in ihm ist an Kraft, so hat auch Dürer in einem einsamen Heldentum das Leben überwunden. Er wußte seit Jahren, daß er dem Tode verfallen war, aber er hat nicht geklagt. Wie ein wundes Tier zog er sich zurück in die Verlassenheit. Doch nicht, um tatenlos hinüberzudämmern, sondern um fern von störender Geselligkeit vollenden zu können, was irgend ihm das Schicksal noch vergönnte.

Chamberlain kennzeichnet es einmal als das Wesen des deutschen Künstlers, daß er es sich nicht genug sein läßt mit seinem eigentlichen »Fach«, sondern daß er darüber hinaus bestrebt ist, erzieherisch zu wirken auf das ganze Volk. »Ein Herder widmet die besten Jahre seines Lebens der Erforschung des göttlichen Sinnes der Geschichte; ein Schiller arbeitet mit Aufopferung letzter Kräfte daran, uns den Weg zu weisen, auf dem der »Staat der Not« in den »Staat der Freiheit«, d. h. in den deutschen Staat der Zukunft verwandelt werden kann und wird; ein Richard Wagner wandelt in Schillers Fußtapfen, wie bei der Vollendung des deutschen Dramas, so auch mit der Reihe seiner Schriften, welche Staat, Gesellschaft, Religion betreffen; ein Goethe schreibt Faust und Iphigenie und Werther und alle anderen Meisterwerke nur nebenher als Gelegenheitsdichter, wie er sich selber nannte, widmet aber als Staatsminister, vielfacher Verwalter, Bibliothekar, Theaterleiter, Ingenieur, Naturforscher, Reisender, Kunstsammler (usw. ins Unendliche) seine eigentliche Lebensarbeit der Errichtung eines allumfassenden Doms für alles, was den Namen deutsch verdient.«

Wenn irgendeiner unserer Großen mit in eine solche Reihe gehört, dann ist es Albrecht Dürer mit der schriftstellerischen Tätigkeit, die seine letzten Jahre ausfüllt. Es war nicht Eitelkeit und Ruhmsucht, was ihn zur Feder greifen ließ; es drängte ihn nur, die anderen teilhaft werden zu lassen der reichen Erfahrungen, die er sich erwarb, ihnen die vielen Umwege zu ersparen, die ihn selbst so oft ermüdet. Man vergleicht ihn gern mit Leonardo. Er ist Leonardo in seinem unablässigen Grübeln, seinem kühnen Wagemut, der alle Meere des Geistes mit seinem Kiel durchqueren möchte. Wie er dann aber, heimgekehrt, von seinen Fahrten spricht, da ist der Deutsche doch ein im tiefsten Sinne anderer als der stolze Italiener. Eine bescheidene Ekkehartnatur spricht aus allen seinen Schriften. Er weiß, daß er irren kam, räumt einem jeden gern den Platz, der besseres Wissen hat. Sein Buch über die Messungen beginnt mit den Worten, daß, wer den Euklid kenne, es nicht nötig habe, diese Schrift zu lesen.

Das Umfassendste, das er als Schriftsteller plante, ist Stückwerk geblieben. Eine allgemeine Kunstlehre sollte es werden, »die Speise des Malerknaben« genannt, und zehnerlei Dinge behandeln: in den ersten vier Abschnitten die Beschreibung der Mißverhältnisse eines Kindes, eines Mannes, eines Weibes und eines Pferdes; danach eine kurze Baulehre, ferner die Erläuterung eines Hilfswerkzeuges zum Durchzeichnen (»von Abstehlung das man sieht, daß alle Ding kann man durchzeichnen«), eine Licht- und Schattenlehre, eine solche von den Farben »zu molen der Natur gleich«, die »Lehre von der Anordnung im Bilde« (Komposition) und »von freiem Gemäl, das allein ahn alle Hilf aus der Vernunft gemacht wird«, dem Phantasiebild also. Entwürfe zu einzelnen Teilen liegen vor aus verschiedenen Jahren des Dürerschen Lebens. Der Versuch ist gemacht worden, das Ganze danach aufzubauen. Gelungen ist er nicht, und er konnte nicht gelingen, da nur Dürer selbst das innerlich Überwundene in einer Zusammenfassung hätte ausscheiden und durch Besseres ersetzen können.

Auch die »vier Bücher von menschlicher Proportion«, auf die Dürer so viel gab, sind unvollendet geblieben. Nur das erste Buch hatte er in seinem Todesjahr noch »übersehen und corrigiret«. Seine Freunde hielten auch die nicht mehr durchgearbeiteten Bücher für druckreif und gaben das Ganze heraus. Der äußere Erfolg gab ihnen recht. Das Buch fand nicht nur in Deutschland seinen Weg, sondern wurde auch übersetzt ins Lateinische, Italienische, Französische, Portugiesische, Holländische und Englische. Von dem zeitlich und menschlich Bedingten des Proportionswerks wurde gesprochen. Geschichtlich ist sicher vieles von Wert. So, wenn Dürer vom Unterschied der Mohren und Weißen spricht, eine Stelle, die schon an die Messungen der vergleichenden Anthropologen und Rassenforscher erinnert. Wesentlich ist, daß Dürer überhaupt den Zirkel und Richtscheit soviel zutrauen konnte. Das mathematische Jahrhundert, das 17., ist vorausgeahnt in diesem unbedingten Glauben an die Stetigkeit der Zahl.

Nur zwei Bücher hat Dürer als vollendete Werke hinausgehen lassen: die »Underweysung der Meßung mit dem zirckel und richtscheyt in Linien, ebnen und gantzen corporen durch Albrecht Dürer zusamen getzogen und zu nutz allen kunstliebhanden mit zugehörigen figuren in truck gebracht im jar 1525«; und zwei Jahre danach eine Befestigungslehre unter dem Titel: »Etliche underricht zur Befestigung der Stett, Schloß und Flecken«. Die Befestigungslehre ist dem König Ferdinand gewidmit »von wegen der Genad und Guttheit, so mir von weiland dem allerdurchläuchtigisten und großmächtigen Kaiser Maximilian hochlöblicher Gedächtniß, Euer Majestät Herren und Großvater, beschehen ist«. Die unmittelbare Anregung gab die Türkennot und der Wunsch, daß »die Länder, so den Türken gelegen sind, sich vor desselben Gewalt und Geschoß erretten möchten«. Mit großer Umsicht erwägt Dürer alle Möglichkeiten. Sogar in der Arbeiterfrage werden Vorschläge gemacht. »Haben die Herren viel armer Leut, die man fünft mit dem Almusen erhalten muß, den geb man Taglohn für ihr Arbeit, so dörfen sie nit betteln und werden deßminder zu Aufruhr bewegt.« Es müssen wohl sehr ernste Ratschläge in dem Buch gegeben sein, da man nach ihnen tatsächlich Befestigungen ausgeführt hat, wie z. B. die Bastei am Kronenburger Tor in Straßburg (Wilhelm Wontzels hat neuerdings »Dürers Befestigungslehre« eine sehr schöne Untersuchung gewidmet. Die Gegenwart, die durch die Trommelfeuer des Weltkrieges gegangen ist, kann das Buch natürlich nur geschichtlich nehmen. Sie hat sich noch auf ganz anderen Lärm einrichten müssen, als auf das von Dürer erwähnte »härte Anklopfen, das jetz in Kriegslauften vor Augen ist«.

Hat im Befestigungsbuch das Lehrbare mit der Zeit sich abgenutzt, so ist das zweite von Dürer veröffentlichte Werk, die »Unterweisung der Messung« auch in dieser Hinsicht frisch geblieben bis auf den heutigen Tag. Zeugnis dafür legt kein Geringerer ab als Meister Hans Thoma, der das Buch vor ein paar Jahren gemeinsam mit Adolf Peltzer herausgab und ihm ein Vorwort schrieb. In seinen Lehrjahren war es ihm eine Erquickung gewesen, die Dürerschen Schriften zu lesen, die in ihrer herben Sachlichkeit so viel mehr geben als alle gedruckten und gesprochenen Schöngeistereien. Von der »Unterweisung « empfing er einen Unterricht im »Raumdenken«, dem kein lebender Lehrer ihm so zu geben vermochte. Daran erinnert er sich, als er im Jahre 1900 zu öffentlicher Wirksamkeit berufen wurde und eine Lehrerstelle in der Akademie der bildenden Künste erhielt. »Es kam mir in den Sinn,« fährt er fort, »wie die Grundlagen, die Dürer gibt, gar manchem Schüler von erzieherischem Nutzen sein könnten, und daß wohl die Akademien gut daran tun würden, dem Wissen vom Raum, wie es in Geometrie und Perspektive gegeben ist, wieder ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Dürer fordert die klare Ausbildung des räumlichen Denkens und Empfindens, welche ja jeder zur bildenden Kunst Berufene mit auf die Welt zu bringen hat. Da gedachte ich wieder, daß man doch die Dürerschen Schriften für die Kunsterziehung nutzbar machen sollte.« Weiter heißt es: »Die Unterweisung Dürers möchte ich auch den Akademien empfehlen, es könnten Anregungen daraus hervorgehen, die sich zu einem Fundament gestalten, auf welchem sich der Unterricht aufbauen könnte; durch die gründliche Ausgestaltung der Raumlehre würde die Akademie dem Künstler etwas mitgeben, für das er ihr später dankbar sein würde. Mit einer durch jahrelange Übung erlangten Geschicklichkeit ist noch lange nicht das erfüllt, was ein entwicklungsfähiger Künstler braucht.«

Ein schlichtes Lehrbuch, das nach vierhundert Jahren noch die Kraft besitzt, an unseren wohlausgebauten Akademien ein ganzes Unterrichtsfach zu begründen, das ist wie jenes Samenkorn, das man der gepreßten Pflanze eines alten Herbariums entnahm, und das, in die Erde gesenkt, neues Leben an den Tag trieb. Der stille Mann, der die letzten Jahre feines Lebens so einsam im Haus am Tiergärtner Tor verbrachte, mochte einen solchen Segen seiner treuen Arbeit kaum erhoffen.

2

Es ging zu Ende, der müde Körper konnte dem Willen nicht mehr folgen. Zarter Gesundheit scheint Dürer immer gewesen zu sein. Bestimmteres wissen wir freilich nur aus zwei Andeutungen. Die eine weist auf jene Krankheit im Jahre 1503, als er in seinen Schmerzen das Antlitz des gequälten Christus zeichnete. Und dann schreibt er in einem Brief an Heller (am 23. August 1507): »Wisset, daß ich jetzthero lang beschweret bin mit dem Fieber, deshalben ich etlich Wochen an Herzog Friedrichs von Sachsen Arbeit verhindert bin worden.« Bei dem regelmäßigen Nürnberger Leben scheint er indessen über alle Schwankungen der Gesundheit immer wieder hinweggekommen zu sein. Erst die Reise nach Niederland drängte ihn aus dem Gleichgewicht. Die Unruhe der ewigen Kreuz- und Querfahrten, die vielen Gastereien, verbunden mit einer angespannten Geistestätigkeit, dem Wunsch, alles sehen zu wollen und einem heißen Drang nach Arbeit waren zu viel für seine Widerstandskraft. Den letzten Rest gab ihm, laut eigner Aussage, ein Erlebnis auf einem Ausflug. »Do ich vormals in Seeland war,« so schildert er es später, »do überkam mich eine wunderliche Krankheit, von derer ich nie von keinem Mann gehört, und diese Krankheit hab ich noch.«

Veranlaßt wurde die unselige Fahrt durch eine Naturmerkwürdigkeit, eines der Ereignisse, deren man auf fliegenden Blättern so gern gedachte. In Zierikzee hatte eine Flutwelle einen Walfisch ans Land geschwemmt, ein Tier so ungeheuer, daß die Leute meinten, »man könne es in ein halbes Jahr nit aufhaun und Öl von ihm sieden«. Das will Dürer sehen, er kauft sich einen »Kotzen«, eine wollene Kutte gegen das barsche Wetter und fährt hinüber. Unterwegs hat er ein Abenteuer, das vielleicht entscheidend war für die schlimme Wendung seines Zustandes, und das gleichzeitig ein Zeugnis ist für Dürers prächtige menschliche Art.

»Zu Armuyden, do ich anfuhr, do geschah mir ein großer Unrat. Do wir an Lande stießen und unser Seil anwürfen, do orüng ein großer Schiff neben uns so kräftig, und was eben in Aussteigen, daß ich im Gedräng Jedermann für mir ließ aussteigen, also daß Niemand dann ich, Görg Közler, zwei alte Weiber und der Schiffmann mit einem kleinen Buben in Schiff blieben. Als sich nun das ander Schiff mit uns drung und ich noch also mit den Genannten auf dem Schiff waren und nit aus konnten weichen, do zerriß das starke Seil, und so kam in Selben ein starker Sturmwind, der trieb unser Schiff mit Gewalt hinter sich. Do schrieen wir alle um Hülf, aber Niemand wollt sich wagen. Do schlug uns der Wind wieder in die See. Da rauft sich der Schiffmann und schriee, dann seine Knecht wären all ausgetreten, und war das Schiff ungeladen. Do war Angst und Not, dann der Wind war groß und nit mehr dann 6 Personen in Schiff. Do sprach ich zum Schiffmann, er sollt ein Herz haben und Hoffnung zu Gott haben, und nachdächt, was zu than wäre. Sagte er, wann er den klein Segel kunnt aufziehen, so wollt wir – und versuchen, ob er wieder möcht anfahrn. Also halfen wir schwerlich aneinander und brachten lechst halb auf und fuhren wieder an. Und do die am Land sahen, die sich unser verwegen (aufgegeben) hätten, wie wir uns behulfen, do kamen sie uns zu Hülf und kamen zu Land.«

In Zierikzee konnte er das Tier nicht mehr finden, eine neue Flutwelle hatte es fortgeschwemmt. Seit jener Zeit aber kränkelte er stärker. Auslagen für den Arzt und Apotheker werden ein stehender Vermerk im Tagebuch. Ein besonders heftiger Anfall packt ihn in der Woche zwischen dem 14. und 20. April 1521. »In der dritten Wochen nach Ostern stieß mich ein heiß Füber an mit einer großen Ohnmacht, Unlust und Hauptwehe.« Nach Aussage von Ärzten kam man auf ein wiederkehrendes Wechselfieber vermuten, das bisweilen verbunden sei mit schmerzhaften Anschwellungen der Milz. Dazu würde ein (jetzt in Bremen verwahrtes) Blatt stimmen, das Dürer ohne Zweifel einem Arzt zur Begutachtung schickte, wir nehmen an, kurz nach seiner Rückkehr. Er hat sich selbst darauf gezeichnet, nackt bis auf ein Schamtuch. Die Rechte deutet auf eine umrissene Stelle in der Milzgegend. Zur Erklärung schreibt er darüber: »Do der gelb Fleck ist was mit dem Finger drawff dewt, do ist mir we.« Mit diesem Leiden und stetig wiederkehrenden Fieberschauern schleppte Dürer sich die letzten sieben Jahre hin. Einem verfallenden Körper hat er die gewaltigen Kunstwerke abgetrotzt von den Passionsentwürfen bis zu den Aposteln, und schließlich auch noch die ihm doppelt mühevolle schriftstellerische Arbeit an seinen Büchern. Es ging nur so, daß er sich schließlich völlig zurückzog auch von seinen Freunden. Ganz in sein Werk vertieft gab er schließlich nicht einmal mehr auf ein sonst so peinlich gepflegtes Äußeres. Haar und Bart ließ er sich stutzen, sie lichteten sich zudem immer mehr. So saß er, ein anderer Hieronymus, an seinem Pult, so hat ihn der Tod dann endlich abgeholt.

Das Ende kam schnell und unerwartet. Keiner seiner Freunde konnte in der Todesstunde ihm zugegen sein. Aber sanft und friedlich sei sein Tod gewesen, sagt Camerarius. Auf dem Johanniskirchhof wurde er beigesetzt in der Gruft der Freys. Pirkheimer widmete ihm eine Erztafel mit der Inschrift:

ME. AL. DV.
OVICVID ALBERTI DVRERI MORTALE
FVIT; SVB HOC CONDITVR TVMVLO:
EMIGRAVIT VIII. IDVS APRILIS
MDXXVIII

 

»Dem Gedächtnis Albrecht Dürers. Was sterblich war an Albrecht Dürer, birgt dieser Hügel. Er ging am 6. April 1528.« Darunter steht Dürers allbekanntes Künstlerzeichen.

Dauernde Ruhe war Dürers irdischen Resten nicht beschieden. Mit dem Tode seiner Frau und seiner Schwägerin erlosch das Geschlecht der Frey. Ein altes Herkommen bestimmte, daß eine Familiengruft nach dem Aussterben des Geschlechts geräumt und dem Spital überlassen würde. Das Spital wollte keine Ausnahme machen und setzte im Lauf der Jahre mehrere Pfründner an Dürers Ruhestatt bei. Jede Sicherheit über den Verbleib seiner sterblichen Reste ist uns damit genommen.

3

Unter den Totenklagen der Freunde Albrecht Dürers ist die ergreifendste die Wilibald Pirkheimers in einem Brief an Ulrich Varnbühler. Sie lautet: »Obwohl ein hohes Alter, mein lieber Ulrich, zu den vornehmsten Wünschen des Menschen gerechnet zu werden pflegt, so läßt sich doch kaum etwas Verderblicheres ersinnen, als ein allzu langes Leben; das empfinde ich nun von Tag zu Tag immer mehr. Denn abgesehen von dem übrigen Ungemach des Alters und von all den verschiedenen Arten der Krankheiten – was kann es für den Menschen Beschwerlicheres geben, als daß er fast unaufhörlich nicht nur Kinder und Verwandte, die der Tod ihm raubt, sondern auch seine Freunde, und zwar die geliebtesten unter ihnen betrauern muß? Und doch, obwohl ich schon oft den Schmerz empfunden habe, der aus dem Ableben von Verwandten zu entspringen pflegt, so weiß ich nicht, ob mir je ein Sterbefall solch einen Gram verursacht hat, wie er mich jetzt über das plötzliche Hinscheiden unseres besten und teuersten Albrecht Dürer erfüllt; und das nicht mit Unrecht, denn unter allen Menschen, die mir nicht etwa durch Bande des Blutes nahestanden, habe ich niemanden so sehr geliebt und so hoch gehalten als ihn ob seiner zahllosen Tugenden und seiner seltenen Rechtschaffenheit. Eben darum, mein lieber Ulrich, weil ich weiß, daß dieser Schlag uns, dich und mich, gemeinsam getroffen hat, habe ich mich nicht gescheut, vor allem dir gegenüber meinem Schmerze freien Lauf zu lassen, auf daß wir zusammen solch einem Freunde den schuldigen Thränenzoll weihen. Er ist dahin, bester Ulrich, er ist dahin, unser Albrecht! O unerbittliche Ordnung des Schicksals, o erbärmliches Menschenlos, o unbarmherzige Härte des Todes! Ein solcher Mann, ja ein solcher Mann ist uns entrissen, indes so viele unnütze und nichtnutzige Menschen eines dauernden Glückes und eines nur allzu langen Lebens genießen.«

Das ist die allgemeine Empfindung derer, die Dürer nahestanden. Nicht das beklagen sie, welch einen Künstler sie verloren, sondern um was für einen Menschen sie ärmer geworden sind. Die trauernden Worte Melanchthons, Hesses und des Camerarius sind auf denselben Ton gestimmt. Luthers Nachruf war: »Was Dürer angeht, ziemt es wohl dem Frommen, den besten Mann zu betrauern; du aber magst ihn glücklich preisen, daß ihn Christus so erleuchtet und zu guter Stunde fortgenommen hat aus diesen stürmischen und wohl bald noch stürmischeren Zeiten, auf daß er, der würdig war, nur das Beste zu sehen, nicht gezwungen wäre, das Schlimmste mit anzusehen.« Ein einziger blieb kühl: Erasmus von Rotterdam: »Was nützt es, Dürers Tod zu beklagen, da wir ja alle sterblich sind! Ein Denkmal ist ihm gesetzt in meinem Büchlein.« Das papierne Denkmal, in dem er sich mit dem lästigen Ruhm des Deutschen abfand, sind ein paar Sätze Lateinisch, die der Treffliche – aus dem Plinius abschrieb. –

Mensch und Künstler sind bei Dürer nicht zu trennen: das ist, wie seiner Freunde so auch unser Urteil. Wer sein Werk nur als ein Stück Kunstgeschichte behandelt, unterbindet ein Teil seiner Kraft. Reichlich viel zu sagen hat Dürer ja wohl dem Auge, das nur Auge sein will. Volles Leben aber durchrauscht die wunderbare Folge von der Apokalypse bis zu den Aposteln doch dann erst, wenn wir den Strom der Kulturgeschichte in sie hineinfluten lassen, wenn wir achthaben, wie der Mensch Dürer zu dm Dingen stand und sich mit ihnen auseinandersetzte in seiner Kunst.

Als geschichtliche Persönlichkeit gehört Dürer von Anbeginn der neuen Zeit an, die wir gemeinhin Reformation nennen, die aber in einem tieferen Sinn Erneuung heißen sollte. Handelte sich's nur um ein paar Bibelstellen mit strittiger Auslegung, um Spitzfindigkeiten der Lehre und ähnliches, so wäre es ein eitles Unterfangen, Dürer mit Einzelheiten seiner Werke und Aussagen da hineinzerren zu wollen. Fassen wir aber die Reformation als eine Erneuung deutschen Wesens, ein Sichlossagen vom Süden als einer uns fremden, oder doch fremd gewordenen Kultur, dam ist Dürer mit eine Macht in diesem heldischen Werden, eine führende Persönlichkeit, und neben Martin Luther steht er als ein Gleichberechtigter. Dürer und Luther haben uns wieder in Fühlung gebracht mit dem alten Heliandgeist: so begreifen wir sie heute, und so können wir den beiden in gleicher Liebe zugetan sein, wir Deutsche allesamt.

 

Druck von Hesse & Becker, Leipzig


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