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XIII

Unter Kaiser Max

 

1

Dürer arbeitete wieder für den Markt. Seit hundert Jahren waren dort Angebot und Nachfrage im wesentlichen gleichgeblieben. Das Heiligenbild und die Spielkarte waren die ersten Druckblätter gewesen, die es in den Meßbuden zu kaufen gab, wenn viel Volks bei den Kirchweihfesten und Walfahrten zusammenkam. Um diese beiden Pole dreht sich alles. Beides hatte dann seine besondere und reiche Entwicklung durchgemacht. Aus den frommen Bildchen, die dem Volk papierne Amulette waren, und die als »Prieffe« an der Wand eine Art Hausapotheke der Seele darstellten, waren in den Erbauungsbüchern ganze Heiligengeschichten geworden. Von den Spielkarten wieder gingen die Zeit- und Sittenbilder aus, die von den Herrlichkeiten und Wunderlichkeiten dieser Welt zu sagen hatten. Von Rittern und Bauern, Türken und Meerwundern, Kriegs- und Liebeshändeln, und was sonst von ernsten oder drolligen Begebenheiten zu erzählen war. Die Zeitung hier, die Hauspostille dort: mochte eines wie das andere sich vielhundertfach verästeln in Sondergebilden, so blieb doch der Grundgegensatz unverändert.

Auch dem Druckwerk Dürers gab er bis dahin das Gepräge. Nach der Doppelforderung derer, die sich in den Meßbuden nach Kunst umsahen, war inhaltlich alles gerichtet. Im Schnitt oder Stich gab Dürer Marienbildchen und biblische Geschichten, wußte von unserem Herrn, von Heiligen in der Einsiedelei, vom tapferen Ritter Georg und dem bußbereiten Hieronymus Erbauliches und Rührendes zu sagen. Den anderen wieder kam er mit Volksschwänken und Landstraßenbildern, zeigte dem einen Stand, wie es in dem anderen herging, und was in alten Büchern Wissenswertes aufgezeichnet war. Daß er mit all diesen Dingen den Leuten noch etwas obendrein nach Hause gab, daß er mit den nun einmal feststehenden Mitteln ein Erzieher des Volkes war, tiefer und wirksamer als selbst die Humanisten, wurde bewußt kaum wahrgenommen. Für das allgemeine Urteil war auch er so gut wie jeder andere Künstler ein Mann des Heiligenbildes und der Spielkarte. Er machte seine Sache geschickter als die Genossen, bekam dafür auch einen besseren Namen und höheren Absatz, aber am Wesen der Sache war damit nichts geändert.

Nun, im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts suchte etwas ganz Neues auf dem allgemeinen Kunstmarkt für das Volk sich Geltung zu verschaffen. Eine dritte Gattungsart wollte aufkommen neben jenen beiden anderen, und die ging aus vom Kaiser Max. Nicht von der Kirche und nicht von der Welt als ihrem Widerpart sollte den Leuten erzählt werden, sondern von Kaiser und Reich. Das Bild sollte in ihnen die Liebe für ihr Kaiserhaus erwecken, und damit die Liebe für ein einiges, in sich und nach außen gefestetes Reich. Das Mittel aber, dessen der Kaiser sich für seinen stolzen Zweck bediente, war der schlichte und volkstümliche Holzschnitt. Maximilians Charakterbild ist umstritten bis auf diesen Tag. Nur vierhundert Jahre liegen zwischen ihm und uns. Wären es tausend, so wäre er vielleicht eine jener Gestalten, deren Leben Sage und Mythos verklären. Den letzten Ritter hat man ihn genannt, den letzten Romantiker, einen Don Quixote höheren Ranges, einen Ideologen und was nicht noch alles. Jeder neue Geschichtsschreiber macht bei ihm eine neue Rechnung auf. Das Volk ist im Grunde nie über ihn unklar gewesen. Es hat ihn geliebt Zeit seines Lebens, und wie es ihn sah, hochgemut und überlegen, schlicht menschlich und doch kaiserlich, so lebt er fort im Liede. Mögen die Geschichtsschreiber Zug um Zug aus den Liedern als Irrtum erweisen, das Ganze stimmt dennoch. Der letzte unter den alten Kaisern, dem das Kaisertum noch etwas Lebendiges war, das ist Maximilian gewesen.

Eitel, das wird heute nicht mehr bestritten, war er nicht. Nur selbstbewußt und durchdrungen von der Würde seines Amtes. Als er auf dem Reichstag zu Worms, der alten Burgunderstadt, sich in der Reichssteuer des »gemeinen Pfennigs« eine unabhängige Stellung sichern wollte und die Stände wohl den Gedanken nicht abwiesen, aber in einem »Reichsregiment« den Kaiser einer ständigen Aufsicht zu unterstellen dachten, da meinte er stolz, er wolle kein König sein wie der Gunther, der sich an Händen und Füßen binden und an einen Nagel henken lasse. Es war nicht seine Schuld, sondern die Kleinlichkeit der anderen, wenn es schließlich doch dazu kam. Die allgemeine Mattigkeit des zerbröckelnden Deutschlands hat ihn gehindert, sich durchzusetzen und sein starkes Empfinden deutscher Art dem Volke mitzuteilen. Wie deutsch er fühlte, hat er immer wieder bewiesen; als er Celtes auf Reisen schickte für eine umfassende deutsche Landeskunde; in seiner Liebe zur alten deutschen Dichtung (hat er uns doch das Gudrunepos gerettet!); nicht zuletzt in seinem tiefen Verständnis für die lebenden deutschen Künstler. Unsere Kunstgeschichte wäre ärmer ohne ihn, und Albrecht Dürer fehlte ein wesentlicher Zug, wenn seine Lebensbahn nicht die des letzten alten Kaisers gekreuzt hätte und beide sich nicht bewußt gewesen wären, was sie aneinander hatten.

2

Der Gedanke, im Volk wieder Liebe zur alten Kaiserherrlichkeit erstehen zu lassen, fand in Nürnberg fruchtbaren Boden. Im Jahre 1424 hatte Sigismund der Stadt die Reichskleinodien und den Krönungsschmuck der Kaiser zur Bewahrung anvertraut. Nürnberg war stolz auf diese Auszeichnung, die es als die erste unter den deutschen Städten anerkannte. Alljährlich am Freitag nach Ostern wurden die Schätze auf dem Markt zur Schau gestellt. Der Feiertag, das Heiltumsfest oder das Heiltum genannt, entsprach ganz jenen hohen Kirchentagen, an denen die kostbaren Reliquienbehälter hervorgeholt und dem staunenden Volke dargewiesen wurden. Die nämliche feierliche Stimmung herrschte, wenn am Tag des Heiltums die Reichskleinodien aus ihrem Jahresschlaf erwachten. Wie der Anblick eines ehrwürdigen Banners waren sie, das Großes erlebt und gewirkt hat, und von dem noch immer eine Macht ausgeht. Überall sonst im Reiche war der Kaisergedanke halb abgestorben. Nur in Nürnberg brachte er alljährlich in den rauschenden Lärm der reichen Stadt mit seinem stillen Glanz etwas hinein, das Ehrfurcht heischte.

Dürer war groß geworden im Anblick des jährlich wiederkehrenden Schauspiels. Erinnerungen solcher Art vergißt man nicht. Wenn schon in seinen frühen Werken so viel Strahlendes und so viel Glanz sich zeigt, so hatte das Heiltum mit seiner hehren Stimmung gewiß sein Teil dazugetan. Noch war die Fühlung allgemein, aber jedes Erleben, auch ein geringes, konnte das Verhältnis innig machen und ihm seinen besonderen Charakter geben.

Die erste Anregung, die hier die Wendung brachte, ging noch nicht vom Kaiser selbst aus, sondern vom Nürnberger Rat. Es war Sitte, die Reichskleinodien in der Nacht, bevor man sie auf dem »Heiltumsstuhl« auf dem Markt vor dem Schopperschen Haus aufbaute, aus der Spitalkirche, ihrem ständigen Bewahrungsort, in eine Kammer des Schopperhauses zu bringen. Der Beschluß wurde gefaßt, dieser Kammer eine würdigere Ausstattung zu geben, und Dürer bekam den Auftrag, die Bildnisse Karls, als des größten Vertreters des alten Reichs, und Sigismunds, des Stifters, für Nürnberg zu malen.

Mit der ganzen Ehrfurcht, die er der Sache entgegenbrachte, ging Dürer ans Werk. In einer Anzahl von Federstudien bildete er zunächst das einzelne nach, zum Teil in Naturgröße. Einer bartlosen Gestalt wird der Königsschmuck mit den Heiltümern angetan. Die Inschrift besagt: »Das ist des heiligen großen kaiser Karls habitus 1510.« Es folgen auf besonderen Blättern die Krone, der Handschuh, Reichsapfel, Reichsschwert; die Krone mit den Inschriften: » Rex Salomo« und » per me reges regnant«, durch mich sind die Mächtigen mächtig; beim Schwert: »Diez ist kaiser Karls schwert, awch dy recht gros, vnd ist dy kling eben als lang als der strick, damit daz papier awßen punden ist.« Im Jahr 1512 kamen beide Bilder zur Aufstellung; das Entgelt waren laut Urkunde 85 Gulden, 1 Pfund, 9 Pfennige und 10 Schillinge.

Von den Bildnissen ist das unbeträchtlichere das Sigismunds. Es scheint, daß Dürer durch eine bestimmte Vorlage gebunden war. Thausing nimmt an, durch ein Gemälde, das seit 1430 in der Kammer des Schopperschen Hauses hing, und das den Kaiser mit diesen wenig majestätischen Zügen schilderte. Die Hände fassen gotisch ungeschickt zu, die gebeugte Gestalt ist nicht die eines Herrschers, und der Gesichtsausdruck scheint mißtrauisch unterlegen. Die Aufschrift erklärt:

Dieß Bild ist Kaiser Siegemunds Gestalt,
        Der dieser Stadt so mannigfalt
Mit sundern Gaben was geneigt.
        Viel Heilthums, das man jährlich zeigt,
Das bracht er her gar offenbar
        Der Kleinzahl vier und zwanzig Jahr MCCCC

Ganz frei, nur auf sich selbst verwiesen war Dürer beim Bildnis Kaiser Karls. Wir wissen heute, daß der Kaiser so nicht ausgesehen hat, daß der Schnitt seines Gesichts und die Barttracht anders waren. Trotzdem: wir haben hier eines der immer bestimmenden Werke. Auf das gesamte alte Kaisertum hat unsere Vorstellung übertragen, was sie bei der einen bestimmten Persönlichkeit heute anders sieht.

Dieß ist der Gestalt und Bildnus gleich
        Kaiser Carl, der das Römisch Reich
Den Deutschen unterthänig macht.
        Sein Kron und Kleidung hoechgacht
Zeigt man zu Nürnberg alle Jahr
        Mit anderm Heilthum offenbar.

Der in strenger Vorderansicht gegebene Kopf ist des nämlichen Geistes wie das Münchener Selbstbildnis. Wohl fehlt ihm die letzte Vertiefung, die innige, halb mystische Beseelung. Es ist ein weltliches Bild. Die Aufgabe aber, die ihm so in engerem Umfang gestellt war, ist auch restlos erfüllt. Wir spüren im Anblick dieses Bildes etwas von der imperatorischen Stimmung der versunkenen Zeit. –

Um dieselbe Zeit nun, als Dürer die Werke dem Nürnberger Rat übergeben konnte, fügte es sich, daß der Künstler die persönliche Bekanntschaft des lebenden Kaisers machte. Im Februar 1512 war Maximilian nach Nürnberg gekommen, voll seiner Pläne, in volkstümlichen Kunstblättern den Deutschen eine Vorstellung des Kaisertums zu geben, wie er es empfand. Für die beiden größten Unternehmungen sollte Dürer herangezogen werden. Von seinen Kriegen und Siegen wollte Maximilian erzählen, von seinen Vorfahren, seiner Arbeit und seinen Liebhabereien.

Der Kaiser hatte viel Sinn für das Festliche und sonnig Prangende. Er träumte von stolzen Triumphbogen, durch die er hindurchzog inmitten eines endlosen Zuges voll buntbewegter Gruppen mit wehenden Fahnen, Drometengeschmetter und Paukengedröhn. Eine solche Ehrenpforte nun und einen solchen Triumphzug wollte er in allen deutschen Städten haben: die Künstler sollten dafür sorgen, mit den nämlichen Mitteln, mit denen sie auch der Kirche so gute Dienste leisteten. So kam das merkwürdige Zweiwerk zustande, das riesenhafteste Doppelbilderbuch, das uns mehr vom sinkenden Kaisertum zu sagen hat als ganze Bände von Chroniken, und das durch Dürer und einige feiner Mitarbeiter, unter denen Burgkmair und Altdorfer die größten sind, auch künstlerisch geadelt wurde.

Aus dem niederländischen Skizzenbuch (rechts Dürers Frau) – Wiener Staatsbücherei

3

Der Hofgelehrte Stabius, Astronom und Mathematiker von Beruf, Dichter aus Liebhaberei, arbeitete den kaiserlichen Gedanken zuerst zu einem festen Plan aus. Für die »Pforte der Ehren des Kaisers Maximilians« verlangte er von den Künstlern, sie in der Gestalt zu errichten, »wie vor alten Zeiten die Arcus triumpkales der römischen Kaiser in der Stadt Rom, deren etliche zerbrochen sind, und etliche noch gesehen werden«.

Vom römischen Triumphbogen konnte nun freilich nicht viel bleiben, da das Ganze nur ein Gerüst darstellen sollte für eine weit ausholende Geschichte Maximilians und seines Hauses. Allein 35 Bildererzählungen mit erklärenden Reimen waren vorgesehen, über hundert Wappen, an die hundert Brustbilder und neun geschichtliche Persönlichkeiten in ganzer Gestalt. Das verlangte viel Fläche, weit mehr als ein richtiger Arcus triumphales vertrug. Viel Fläche ist geschaffen worden, es kam alles drauf, was verlangt wurde und noch einiges dazu. Die Ähnlichkeit mit den römischen Vorbildern verflüchtigte sich dabei allerdings fast ganz, das ist nicht weiter zu verwundern. Was aber sehr überrascht, das ist, daß der schließlich zustande kommende Bau, der bis auf drei enge Tore ein geschlossenes Mauerwerk darstellt – rein gotisch wirkt. Die Gotik arbeitet mit durchbrochenen Formen, kann in reiner Gestalt keine breite Fläche, keine ungelöste Masse anerkennen. Hier nun ist alles Fläche und Masse, nichts ist am eigentlichen Bau durchbrochen. Und dennoch die gotische Wirkung des Ganzen! Wie war das zu erreichen?

Drei Tore führen durch das Mauerwerk. In der Mitte, ganz steil und schmal, »die Portenn der Eeren vnnd Macht«; zu den Seiten, nicht weniger eng, aber niedriger, die Pforten »des Lobs« und »des Adels«. Die drei Hallen eines römischen Bogens, jede einzelne sich wölbend in einem ruhigen, voll austönenden Rund, scheinen selbst wieder einer gemeinsamen Form ähnlichen Charakters unterstellt. Bei der Maximilianpforte hingegen ist die bindende Form kein Rund, sondern der ganz entschiedene Winkel eines nordischen Giebels.

Wer es bestätigt sehen will, prüfe den Gesamtumriß. Alle wesentlichen Teile laufen aus in runde Formen, nirgends aber kann deren Charakter rein zur Geltung kommen. Es liegt nicht daran, daß der Abschluß, in Rom balkenförmig, immer wieder unterbrochen wird durch das launische Linienspiel alles möglichen figürlichen und sachlichen Aufbaus. Entscheidend ist vielmehr, daß alles sich einer Gesamtrichtung unterordnet, und daß diese unverkennbar die des steilen nordischen Giebelhauses ist.

Das Giebelhaus ist nun zwar nordisch, aber doch noch nicht im engeren Sinne gotisch. Wir forschen weiter, was diese fernere Steigerung erwirkt, und finden es zunächst im Verhältnis der einzelnen Bauteile. Überall eine pfeilerartig emporschießende Kraft, nirgends durch lastende Kräfte gehemmt. Der Stammbaum über dem Mittelportal windet sich in Schlangenlinien aufwärts, ohne Widerstand zu finden. Bei den je zwölf Bildern über den Seitenpforten ist statt der gegebenen Wagerechten die gerade Stabeinteilung gewählt. Und so die angegliederten Rundbauten zu äußerst rechts und links: das Bildwerk kann sie nicht hindern, wie Treppentürme steil emporzusteigen, und die leichte Schweifung der Spruchbänder verstärkt den Eindruck. Auf daß auch ja nichts mißverstanden werde, springen vier mächtige Doppelpfeiler vor, die über alle Schichten hinweg zur Höhe eilen.

Nun gar das Letzte, das ursprünglich kaum wohl Verlangte im Beiwerk. Keine Kathedrale ist mehr voll Gerank als diese Pforte. Und wie das sich rankt und hineinwindet in jedes Winkelchen, in jedem Vorsprung sich ansetzt und sich seines kleinen Lebens freut, da freilich gewinnt es Macht auch über die stärksten Massen und Flächen, und es triumphiert der sonnige, strahlende Eindruck ungeschwächter Gotik.

*

Auf 92 große Blätter verteilt sich das Riesenwerk, die, aneinandergelegt, eine Fläche von etwa dritthalb Meter Höhe und drei Meter Breite bedecken (genau: 3,409 und 2,922 Meter). Ein Büchlein für sich würde es werden, wenn man den Inhalt ganz erschöpfen wollte. Der Schild des Achilleus ist eine bescheidene Novelle gegen den kapitelreichen Roman dieser Pforte. Die Kulturgeschichte wird immer wieder zurückgreifen auf das Einzelne. Die zahlreichen Schlachtendarstellungen geben ein umfassendes Bild vom Kriegswesen jener Tage. Am rechten Eckturm enthält das Schatzkammerbild eine ganze Kunstgewerbesammlung, das Baumeisterbild gibt eine klassische Schilderung von einem werdenden Bau. Wir müssen es uns versagen, ins Letzte zu gehen. Nicht das ist für Dürer das Wesentliche, wie er mit Hilfe seiner Mitarbeiter Bild um Bild zu den Reimen des gelehrten Hofdichters lieferte, sondern wie er alles in eins fügte, daß es sich schickt in diesen einheitlichen Prunkbau gotischen Charakters.

Nur mit einiger Mühe konnte Dürer seinen gezeichneten Bauplan beim Kaiser durchsetzen. Ein älterer Entwurf lag vor, vom Innsbrucker Hofmaler und Baumeister Jörg Kölderer stammend (sein Wappen steht vor dem Pfeilerpaar rechts zwischen denen Dürers und des Stabius). Es scheint, daß Kölderer mehr Gewicht auf den Stammbaum über dem Mittelportal gelegt hatte, bei dem er von seinem 1496 errichteten Innsbrucker Wappenturm ausging. Der Kaiser mochte erst nichts wissen von Dürers freien Abänderungen, die dem spielerischen Beiwerk so viel Bedeutung gaben. Schließlich fügte er sich und gab dem stärkeren Kunstwerk die Bahn frei.

Nie vorher ist Dürer so sehr Gotiker gewesen wie jetzt nach der vollen Überwindung Italiens. Aber es ist eine Gotik höherer Art: eine solche nämlich, der das Ornament nicht länger gefährlich ist. Das ist das Erstaunliche an dieser Pforte, daß sich für ein erstes flüchtiges Hinsehen alles rein Bauliche auflöst in das altbekannte Gekräusel und Geschnörkel, und daß erst der eindringende Blick wahrnimmt, wie nichts herkömmliche Zierform ist, sondern alles Figur. Tierisches und Pflanzliches unterscheidet man, Menschen und Fabelwesen. Was in der alten Tier- und Pflanzenornamentik nach Ausdruck verlangte und doch unter dem Bann labyrinthischer Formen ein Stammeln blieb, das ist hier zum ersten- und, außer im Gebetbuch, zum einzigenmal in der gesamten Kunstgeschichte klare Sprache geworden. Jeder Säulenfuß und Säulenkopf wird zu einem Nest des Lebens; alles rührt und tummelt sich, spielt Versteck und Haschen oder lauert sich auf. In der rauschenden Krone eines vollen Waldbaums kann es nicht lebhafter zugehen. Und trotzdem nirgends das Chaos. Die strengen Forderungen eines gegebenen Bauwerks mit seiner gemessenen Gegenteiligkeit konnten Dürers erfinderischen Geist wohl in Schranken, nicht aber in eine Beschränkung bringen. Wie arm ist gegen ein solches Werk doch alles, was der Süden selbst in seinen größten Meistern im »Dekorativen« geleistet hat!

*

Mit der Ehrenpforte gedanklich eine Einheit war das zweite große Holzschnittwerk zum Ruhme Maximilians, bei dem Dürer dabei sein sollte: der Triumphzug, nach der Mittelgruppe des kaiserlichen Gespanns auch kurz der Triumphwagen genannt. Dürer war dabei, aber das eigentliche Gepräge hat nicht er dieser Arbeit gegeben, sondern der Augsburger Meister Hans Burgkmair. Es kann heute als feststehend ausgesprochen werden, daß von dem ganzen meterfressenden Bilderfries auf Dürer einzig die allerdings wesentliche Gruppe des kaiserlichen Wagens kommt. Noch andere arbeiteten mit. Einer unserer ersten, Albrecht Altdorfer, der den deutschen Wald als Künstler entdeckt hat, ließ sich gleichfalls einstellen. Der Geist der besonderen Arbeit, die hier verlangt wurde, war ihm nicht weniger fremd als Dürer, und so blieb die Führung durchaus bei Burgkmair, der als ein Festordner größten Stils mit ganzer Natur durchfühlte, was der Kaiser hier haben wollte.

Es gibt eine eigene Fürstenkunst des Nordens. Sie ist ganz gewiß noch nicht abgestorben, zeigt sogar eine so starke Triebkraft, daß ihr das Recht zum Dasein nur absprechen kann, wer eine wesentliche Äußerung des Lebens nicht sehen will. An jedem Orden, jedem Degengriff, jedem Rangabzeichen und Wappen ist sie wirksam. Eine Fülle von Kunstgedanken bringt sie oft auf kleinstem Raum zusammen. In unbedeutenden Fällen läßt sie das Stoffliche kostbarer Metalle oder Edelsteine, deren Farben im Licht verschieden brechen, für sich arbeiten. Dann aber wieder weiß sie in einem kunstvoll verschlungenen Linienspiel so viel Eigenes zu sagen, daß sie als der rechtmäßige Erbe unserer uralten Labyrinthornamenlik erscheint. Mag es einer solchen Fürstenkunst immerhin verwehrt sein, das Letzte zu geben: Sonne und Licht bringt auch sie in das Dasein, und darum ist es töricht, sich ihr ganz zu verschließen.

In Maximilian war der Sinn für das Berauschende höfischer Kunst besonders stark entwickelt, und unter allen Künstlern, die ihm zu Willen waren, konnte Burgkmair seiner ganzen Natur nach grade hier ihn am besten verstehen. Die gestaltenreichen Gruppen seines Triumphzuges beweisen es, wo mit klingendem Spiel die Fanfarenbläser und Paukenschläger daherreiten, wo die Banner sich spreiten und Vollblutpferde mit köstlichem Behang die prunküberladenen Wagen ziehen. Es ist im Grunde die nämliche Stimmung von Gruppe zu Gruppe. Daß gleichwohl das Auge immer wieder mit Behagen sich satt sieht an diesen stattlichen Bildern, beweist auf alle Fälle eine starke Künstlerkraft.

Hier also tat Dürer mit. Er übte sich erst ein in manchem Entwurf, hatte viel Arbeit, bis er ganz mit seinem kaiserlichen Gönner einer Stimmung war. Dann aber gelang es ihm auch. Alles strotzt in seinem Kaisergespann. Unter dem Sonnenbaldachin Maximilian selbst, von üppigen Jugendgestalten umgeben. Zwölf Pferde ziehen den Wagen, burgundisch schwere Rassetiere, von zwölf halbnackten Frauengestalten geleitet, die blasse Sinnbildnamen führen, im übrigen aber handgreiflich irdische Weiber sind.

Trotz alledem bleibt der »Wagen« im Gesamtwerk Dürers eine Nebenarbeit. Wir wollen froh sein, daß wir ihn haben, unentbehrlich aber wäre er nicht. Was wir dagegen nicht missen können bei Dürer und nicht missen in unserer ganzen Kunst, das ist jenes andere berühmte Werk, das die Zusammenarbeit Dürers und Maximilians gezeitigt hat; ein ganz stilles Werk, für die Einsamkeit bestimmt, dort aber wirksamer, als es der lauteste und prächtigste Triumph sein konnte: das Gebetbuch.

4

Im Frühjahr 1808 wurde Goethe die erste Lieferung eines Steindruckwerkes zugesandt, in dem Strixner unter dem Titel »Albrecht Dürers christlich-mythologische Handzeichnungen« die Federspiele des Maximiliangebetbuches nachbildete. Goethes erstes Urteil war: »Man hätte mir soviel Dukaten schenken können, als nötig sind, die Platten zuzudecken, und das Geld hätte mir nicht soviel Vergnügen gemacht, als diese Werke; denn ich hätte es doch ausgeben müssen, und es wäre mir dabei vielleicht nicht so wohl geworden als bei Betrachtung des unschätzbaren Nachlasses.« Er zeigt die Bilder herum und kann sich nicht genug tun in begeisterten Worten. Der Fall komme ja so selten, daß man »von ganzem Herzen und mit vollen Backen loben« könne. Öffentlich erklärt er in der Jenaischen Literaturzeitung: »Sonst hielten wir Dürer für einen ernsten Künstler, der mit peinlichster Treue und offenem Sinne für Leben, Farben und Formen die Natur nachahmte, dem diese Nachahmung auch zuweilen ohne die gewöhnliche Härte gelungen, und von dem alsdann verschiedenes Einzelne zustande gebracht worden, z. B. Porträtköpfe, welches dem Herrlichsten in der neueren Kunst nahe kommt: wir erkannten ebenfalls, daß er Fruchtbarkeit in Erfindungen besessen; allein wir glaubten ihn ohne Anmut und wenig fähig, in eine heitere poetische Stimmung überzugehen. Die vorliegenden Nachbildungen Dürerscher Handrisse erweitern und berichtigen indessen unsere Ansicht seines Kunsttalents. Er erscheint hier freier als wir gedacht, anmutiger, heiter, humoristisch und über alle Erwartung gewandt in der durch äußere Bedingungen notwendig gewordenen Wahl seiner Motive, der Symbolik seiner Darstellungen ... Der große Meister hat einen überschwenglichen Reichtum bedeutender Gegenstände anzubringen gewußt; ja, man kann wohl sagen, er läßt die ganze Welt der Kunst vor uns vorübergehen, von Figuren der Gottheit bis zu den Kunstzügen des Schreibermeisters. Überall erscheint in diesen Zeichnungen die sichere Fertigkeit eines großen vollendeten Meisters, der mit wenig Strichen viel zu bedeuten versteht. Herr Joh. Joachim von Sandrart, der sie gesehen, hat also wohl recht, wenn er versichert: sie seien ›über die Maßen vernünftig schraffiert‹. Wir stehen nicht an, diesen Ehrenmann noch überbietend zu sagen: wie Gottes Friede und höher als alle Vernunft!«

Das Gebetbuch ist wie fast alle Unternehmungen Maximilians Stückwerk geblieben. Bestimmt war es für die Mitglieder des St. Georgsordens, den Maximilians Vater gegründet, und den er selbst durch eine Laienbruderschaft erweitert hatte (die Untersuchungen Giehlows haben über die Geschichte des Werkes Licht gebracht). Bei keinem seiner Buchpläne wollte Maximilian die Mitwirkung des Bildes entbehren, und ganz Besonderes hatte er im Sinn bei dem von ihm selbst zusammengestellten Gebetbuch. Nicht Vollbilder sollten eingeschaltet werden, sondern Randleisten den Druck umrahmen und ihn so der Art einer alten Handschrift nähern. Sieben Künstler wurden zur Ausführung berufen: Albrecht Dürer und sein Bruder Hans, Lukas Cranach, Hans Waldung Grien, Burgkmair, Altdorfer und ein Unbekannter mit dem Namenszug M. A. Den Rohdruck besorgte der Augsburger Hans Schönsperger. Ein Abzug auf Pergament wurde den Künstlern überwiesen, um die leeren Ränder mit ihren Federspielen zu füllen, die dann später in Holz geschnitten werden sollten. Es kam nicht dazu. Eine Kalenderbeigabe, die erst dem Papst vorgelegt werden mußte und deren Bestätigung sich hinzog, verhinderte die Fertigstellung. Maximilian starb drüber hinweg und sein Nachfolger nahm sich der Sache nicht mehr an. Das Buch wurde später zerteilt, aber die 45 von Dürer gezeichneten Blätter blieben beisammen und sind nun der stolze Besitz der Münchner Bücherei.

Schwer und wuchtig wie Choralakkorde stehen die gotischen Schriftzeichen des Textes da, und die getragenen Weisen alter Kirchensänge scheinen herauszuklingen aus dem, was der Text zu sagen hat. Aus diesen Akkorden und diesen Weisen nun hat Dürer etwas entwickelt, was man Ziermusik nennen möchte, wenn Wort und Begriff nicht gar zu leicht und spielerisch wären. Ein ganzer Kosmos mit groß' und kleiner Welt ist wie im Flug erhascht. Was irgend Dürers Gedankenwelt erfüllte, Gott und die frohe Botschaft, Heilige und Ritter, Gestalten aus der alten Mythologie und vom Tanzplatz der Dorfkirchweih, was da kreucht und fleugt in Wald und Feld, was an sonnendurstigem Gerank dem Boden entsprießt, Reben, Disteln, Rosen, Eichen, wunderliche Menschen ferner Länder, wunderliche Tiere fremder Breiten, das alles und noch viel mehr ist zusammengedrängt auf den schmalen Rändern von 45 Buchseiten. Ein Romane hätte die Mauern ganzer Städte mit Wandbildern füllen müssen, um mühevoll aneinanderzureihen, was der Deutsche spielend hingibt.

Und wie ist es gesagt! Man meint, Dürer denken zu sehen, und seine Gedanken sind so leicht und beflügelt, wie man es sonst nur im Traum erlebt, wenn die Freizügigkeit des Gedachten entbunden ist der letzten Erdenschwere. Aus Ranken werden leichte Schnörkel, die Schnörkel schließen sich zu Gesichtern und Tieren, naturhaft Genaues löst sich ab mit federleichten Andeutungen, und ob es nur eine Linie sei oder wohlgerundete Form: von Leben und von Lebensfreude ist alles voll bis zum Rande.

Dem Reichtum des Inhaltlichen entspricht der Reichtum der Stimmungen. Ein symphonisches Werk kann nicht mannigfaltiger sein. Erhabenes wechselt ab mit Schrecklichem, Kindliches mit Grüblerischem. Eine Stimmung aber setzt sich doch immer wieder als die eigentliche Tonart durch: die einer sonnigen Heiterkeit, einer nicht unterzubringenden Laune. Gleich auf dem ersten Blatt wird neben die Textworte »höre, erhöre mich, süße Maria« ein Pfeifer in das Geringel gesetzt; er bläst seinen Singsang vor sich hin wie der Spielmann in der Legende seine Straßenlieder zum Lob der Mutter Gottes. Die »menschliche Gebrechlichkeit« erläutert ein Arzt, der ein Uringlas prüft (ein merkwürdiger Gesell mit Hakennase und fliehendem Kinn, Dürer hat ihn schon früher einmal auf einem fliegenden Blatt einen Schulmeister spielen lassen); sein ärztliches Urteil schwankt zwischen Aussichtslosigkeit und Hoffnung; jene wird angedeutet durch einen erhängten Vogel, diese durch ein Häschen, das es sich wohl sein läßt bei einer Traubenkur. Dem heiligen Antonius naht sich als Versucherin eine sittig ausschauende Bürgersfrau, die der alte Herr mit Kennermiene prüft, die Möglichkeiten still bei sich erwägend. Bei der Gefangennahme Christi fallen die Kriegsleute um wie hölzerne Spielsoldaten, »Nürnberger Tand«. Ein Fuchs, der wie ein anderer Rattenfänger von Hameln die Hühner durch Flötenspiel lockt, bedeutet »führe uns nicht in Versuchung«. Die Allmacht Gottes ist gekennzeichnet durch einen Löwen, der einen daherhumpelnden alten Klausner anspringen will und daran gehindert wird durch ein winziges Insekt; zum schmunzelnden Ergötzen eines der Bauernmusikanten, die hinter dem heiligen Gichtiker die Ehre Gottes blasen.

Das sind nur einige Beispiele der vielen freundlichen Gedanken, die gleich Ostereiern überall versteckt sind. Nicht alle sind sie leicht zu finden, aber darauf kommt es auch nicht an bei einem Werk, das nächst den Meisterstichen Dürer am beredtesten vor allen Kommenden vertritt, und außer Dürer nicht weniger die Zeit, in der ein solches Werk entstehen konnte. »Wer überlegt,« sagt Goethe in seiner Besprechung vom 19. März 1808, »daß die Zeichnungen bloß Marginalverzierungen eines Andachtsbuches sind, muß zur Verehrung und Hochachtung gegen ein Zeitalter sich gedrungen fühlen, in welchem so viel Kunst, so viel Kunstliebe geherrscht, als es bedarf, solche Werke hervorzubringen. Wir sind keineswegs geneigt, die Zeit, in der wir selbst leben, herabzusetzen; aber gerade von dieser Seite möchte ihr eine Vergleichung mit jener schwerlich zum Vorteil gereichen.«

Es bleibt die Frage, die immer wieder vor Dürers Gebetbuchblättern gestellt wird: Sind diese Arbeiten nach ihrem Formgefühl mehr »Gotik« oder mehr »Renaissance«? Was die Renaissance anlangt, so genügt es, an die gleichzeitig entstandenen Loggien des Rafael zu erinnern, um die ganze Entfernung abzuschätzen, die Dürer von Italien scheidet. Zur Gotik freilich scheint unmittelbar eine Beziehung ebensowenig gegeben. Wörtlich abgeschrieben ist nichts. Fassen wir aber den Begriff des Gotischen so tief, wie wir ihn kennenlernten, dann ist die Arbeit Dürers Blatt für Blatt, Zug um Zug aus dem gleichen Geiste geboren. Es kann nur mit stärkerer Betonung hier wiederholt werden, was schon bei der »Ehrenpforte« gesagt worden ist. Das labyrinthische Ornament in seiner Bedeutung als einer Zauberformel, die Sonnenfreude wirkt, herrscht überall. Von ihm geht Dürer aus, zu ihm kehrt er zurück.

Schlag deine Augen auf im Sonnenschein,
Laß allen Glanz der Welt tief in dich ein,
Bis ganz dein Herz davon durchleuchtet ist
Und selber du ein Stücklein Sonne bist,
Das aus sich selber wärmend wieder strahlt
Und auch noch trübe Tage goldig malt.

Das hat Oskar Zwintscher, der Frühverstorbene, als Lebensregel ausgesprochen. Dürer hat danach getan. Lange hatte er die nordische Zauberformel sich aus dem Sinn geschlagen, da sie ihm den Willen zur Gestalt Verwirren konnte. Jetzt, da er die Gestalten meisterte, kehrte er zurück zum nordischen Sonnenlinienspiel. Man fühlt die Freude, die es ihm macht, sich immer wieder beider Dinge mächtig zu erweisen, der heimischen Überlieferung und der Gestaltenkunst, die er der Heimat nun endlich für immerdar gewonnen hatte. Er selber ist »ein Stücklein Sonne« geworden, »das aus sich selber wärmend wieder strahlt und auch noch trübe Tage goldig malt«.

Zeichnung nach einem 93 jährigem (1521) – Wiener Albertina


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