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In das qualmende Fackellicht und das Menschengedränge des Wormser Reichstags hinein hatte Luther sein letztes Wort gesprochen: »Es sei denn, daß ich durch Gezeugnis der Schrift überwunden werde, oder aber durch scheinlich Ursachen – denn ich glaub weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es am Tag ist, daß dieselben zu mehrmalen geirrt und wider sich selbst geredet haben – sintemal ich von Schriften, von mir angeführt, gefangen bin im Gewissen an Gottes Wort: so mag und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und fährlich ist. Gott helfe mir, Amen.«
Kaiser Karl, bis dahin übermüdet und gleichgültig, horcht auf. Er läßt den störrischen Geistlichen fragen, ob er bei der Meinung verharre, auch Konzilien könnten irren. »Als ein Fels« ist Luthers Antwort. Schweigend erhebt sich der Kaiser und verläßt mit den Seinen den Saal. Er hatte sich entschieden. Luthers Schicksal schien besiegelt: ein Mann mit solchen Ansichten war ein Ketzer, ihm gebührte die kaiserliche Acht. Unmittelbares hatte er nicht zu fürchten. »Frei gestrack Sicherheit und Geleit« war ihm zugesagt worden, und daß es gehalten wurde, verbürgte die zu allem entschlossene Stimmung des Volkes. Was aber würde die Zukunft bringen?
Die Freunde Luthers sorgten vor. Am 4. Mai wurde der Heimkehrende in der Nähe von Eisenach auf die Wartburg entführt und gleichzeitig das Gerücht verbreitet, er sei überfallen und wahrscheinlich getötet worden. Zwei Wochen später kam das Gerücht in die Niederlande. Albrecht Dürer war in Antwerpen, mit Gelegenheitsbildnissen beschäftigt und an Tafeleien sich zerstreuend. Da erreichte ihn die schlimme Kunde, und er unterbricht das Einerlei seines Tagebuches mit diesen Worten:
»Am Freitag vor Pfingsten im 1521 Jahr kamen mir Mähr gen Antorff, daß man Martin Luther so verrätherlich gefangen hätt. Dann do ihn des Kaisers Carols Herold mit dem kaiserlichen Gleit war zugeben, dem ward er vertrauet. Aber sobald ihn der Herold bracht bei Eyssenach in ain unfreundlich Ort, saget, er dörfe sein nit mehr, und ritt von ihn. Alsbald waren 10 Pferd do, die führten verrätherlich den verkauften frommen, mit dem heiligen Geist erleuchteten Mann hinweg, der do war ein Nachfolger Christi und des wahren christlichen Glaubens. Und er lebt noch, oder haben sie ihn gemördert, das ich nit weiß, so hat er das gelitten um der christlichen Wahrheit willen, und um daß er gestraft hat das unchristliche Pabstthum, das do strebt wider Christus Freilassung mit seiner großen Beschwerung der menschlichen Gesetzt, und auch dorum daß wir unsers Blut und Schweiß also beraubt und ausgezogen werden, und dasselbige so schandlich von müßiggehendem Volk lästerlich verzehret wird, und die durstigen kranken Menschen dorum Hungers sterben müssen (Andeutung der hohen Romabgaben und der Üppigkeit der Kirche).
»Und sonderlich ist mir noch das Schwerest, daß uns Gott vielleicht noch unter ihrer falschen blinden Lehr will lassen bleiben, die doch die Menschen, die sie Väter nennen, erdichtt und aufgesetzt haben, dardurch uns das göttliche Wort an vielen Enden fälschlich ausgelegt wird, oder gar nichts fürgehalten. Ach Gott vom Himmel, erbarm dich unser, o Herr Jesu Christe, bitt für dein Volk, erlös uns zur rechten Zeit, erhalt in uns den rechten wahren christlichen Glauben, versammele deine weite zertrennte Schaf durch dein Stimm, in der Schrift dein göttlich Wort genannt, hilf uns, daß wir dieselb dein Stimm kennen und keinem andern Schwigeln (Locken), der Menschen Wahn nachfolgen, auf daß wir, Herr Jesu Christe, nit von dir weichen. Ruf den Schafen deiner Weide, derer noch ein Theils in der römischen Kirche erfunden werden, mitsamt den Indianern, Moscabitern, Reußen, Krichen wieder zusammen, die durch Beschwerung und Geiz der Päbst, durch heiligen falschen Schein zertrennet sind worden.
»Ach Gott, erlös dein armes Volk, das dar durch großen Bann und Gebot gedrungen wird, der es keines gern thut, darum es stätiges sündigen muß in seinen Gewissen, so es die übergehet. O Gott, nun hast du mit Menschengesetzen nie kein Volk also größlich beschweret als uns Arme unter den römischen Stuhl, die wir füglich durch dein Blut erlöst frei Christen sein wollen. O höchster himmlischer Vater, geuß in unser Herz durch deinen Sohn Jesum Christum ein solch Licht, dabei wir erkennen, zu welchen Geboten wir zu halten gebunden sind, auf daß wir die andern Beschwerniß mit gutem Gewissen fahren lassen und dir, ewiger himmlischer Vater, mit freiem fröhlichen Herzen dienen mögen.
»Und so wir diesen Mann verlieren, der do klärer geschrieben hat dann nie keiner in 140 Jahren gelebt (1381 begann Wicliff in England seinen Kampf gegen die römische Kirche), den du ein solchen evangelischen Geist geben hast, bitten wir dich, o himmlischer Vater, daß du deinen heiligen Geist wiederum gebest einem andern, der do dein heilige christliche Kirch allenthalben wieder versammel, auf daß wir all rein und christlich wieder leben werden, daß aus unsern guten Werken alle Ungläubige, als Türken, Heiden, Calacuten, zu uns selbst begehren und christlichen Glauben annehmen.
»Aber, Herr, du willt, ehe du richtest, wie dein Sohn Jesus Christus von den Priestern sterben mußt und vom Tod erstehn und darnach gen Himmel fahren, daß es auch also gleichförmig ergehe deinen Nachfolger Martins Luther, den der Papst mit sein Geld verrätherlich wider Gott um sein Leben bringt, den wirst du erquicken. Und wie du darnach, mein Herr, verhängest, daß Jerusalem darum zerstöret ward, also wirst du auch diesen eignen angenommenen Gewalt des römischen Stuhls zerstören.
»Ach Herr, gieb uns darnach das neu geziert Jerusalem, das vom Himmel herabsteigt, davon Apocalypsis schreibt, das heilig klar Evangelium, das do nit mit menschlicher Lehr verdunkelt sei. Darum sehe ein Jeglicher, der Doktor Martins Luthers Bücher liest, wie sein Lehr so klar durchsichtig ist, so er das heilig Evangelium lehrt. Darum sind sie in großen Ehren zu halten und nit zu Verbrennen, es war dann, daß man sein Widerpart, die allezeit die Wahrheit widerfechten, ins Feuer würf mit allen ihren Opinionen, die do aus Menschen Götter machen wollen, aber doch, daß man wieder neue lutherische Bücher druckt hätt.
»O Gott, ist Luther todt, wer wird uns hinfürt das heilig Evangelium so klar fürtragen! Ach Gott, was halt er uns noch in 10 oder 20 Jahren schreiben mögen! O ihr alle fromme Christenmenschen, helft mir fleißig beweinen diesen gottgeistigen Menschen und ihn bitten, daß er uns einen andern erleuchtten Mann sönd.
»O Erasme Roderadame, wo willt du bleiben! Sieh, was vermag die ungerecht Tyrannei der weltlichen Gewalt und Macht der Finsternüß? Hör, du Ritter Christi, reit hervor neben den Herr Christum, beschütz die Wahrheit, erlang der Martärer Kron! Du bist doch sonst ein altes Männiken, ich hab von dir gehört, daß du dir selbst noch 2 Jahr zugeben hast, die du noch tügest etwas zu thun. Dieselben leg wol an, dem Evangelio und dem wahren christlichen Glauben zu Gut, und laß dich dann hören, so werden der Hellen Porten, der römisch Stuhl, wie Christus sagt, nit wider dich vermügen. Und ob du hie gleichförmig beim Meister Christo würdest und Schand von den Lügnern in dieser Zeit leidest und darum ein klein Zeit desto eher stürbest, so wirst du doch ehe aus dem Tod ins Leben kommen und durch Christum clarifizirt. Dann so du aus dem Kelch trinkest, den er getrunken hast, so wirst du mit ihm regiren und richten mit Gerechtigkeit, die nit weislich gehandelt haben.
»O Erasme, halt dich hie, daß sich Gott dem rühme, wie vom David geschrieben stehet, dann du magst thun, und fürwahr, du magst den Goliath fällen. Dann Gott stehet bei der heiligen christlichen Kirchen, wie er ja unter den Römischen stehet, nach feinem göttlichen Willen. Der helf uns zu der ewigen Seligkeit, Gott Vater, Sohn und heiliger Geist, ein einiger Gott, Amen.
»O ihr Christenmenschen, bittet Gott um Hilf, dann sein Urtheil nahet und sein Gerechtigkeit wird offenbar. Dann werden wir sehen die Unschuldigen bluten, die der Pabst, Pfaffen und die München vergossen, gerichtt und verdammt haben. Apocalypsis. Das sind die Erschlagnen, unter dem Altar Gottes liegend, und schreien um Rach, darauf die Stimm Gottes antwortt: Erwartet die vollkommene Zahl der unschuldigen Erschlagenen, dann will ich richten.«
*
Im ganzen niederländischen Tagebuch sind dies die einzigen, Dürerisch gesprochen, »mit großem Fleiß« gegebenen Ausführungen. Alles andere ist hingeschrieben, wie der Tag es brachte, im Gelegenheitsstil eines Briefes, oft nicht einmal das. Dürer muß bei ernstem Anlaß sonst nach dem rechten Ausdruck suchen: hier strömen ihm die Worte zu, und in jeder Zeile ist zu merken, daß da nur herausströmt, was sich lange in ihm angesammelt haben mußte.
Luther ist es, dessen Ungewisses Schicksal Dürer Beredsamkeit verleiht. Seit fünf Jahren schon war er dem Reformator zugetan. Die Hammerschläge an die Wittenberger Schloßkirche waren auch ihm eine erlösende Tat gewesen. Er hatte dem Ausdruck gegeben, indem er Luther von seinen Arbeiten schickte und in einem Brief an Scheurl läßt auch Luther ihm in herzlichen Worten seinen Dank dafür aussprechen. Er versenkt sich in die Schriften Luthers, die ihm »aus großen Ängsten helfen«, nicht weniger als ihrer 16 kann er auf einem Blatt um 1520 als sein eigen bezeichnen. Sein inniger Wunsch ist es, den großen Mann selbst kennenzulernen, um ihn »mit Fleiß kunterfetten und in Kupfer stechen« zu können zu einem langen Gedächtnis. In Antwerpen sucht er sich seine besten Freunde (Kalkoff ist den Spuren bis ins einzelne nachgegangen) in den dem Reformator ergebenen Kreisen.
Aber so nahe ihm Luther auch menschlich stehen mochte: es ist doch nicht die bloße Menschenverehrung der Renaissance, die ihn bei jener Kunde so zu Tod erschrecken läßt. Nicht den Kämpfer an sich, sondern die Sache, für die er einsteht, sieht er bedroht. Des Wiclif erinnert er sich, der vor 140 Jahren einen ähnlichen Streit durchfocht und den die Kirche so ingrimmig haßte wie auch den Ketzer Huß.
Nein, kein Persönlichkeitskult, nichts, was erst seit wenigen Jahren sich in ihm stauen konnte, strömt hier hervor. Die Quellen liegen tiefer. Apokalypsis: zweimal kehrt das Wort wieder. Dieselbe ernste, zum Tode ernste Stimmung, die ihn in seiner Jugend erst zu einem Künstler höheren Ranges gemacht hat, sie lebt wieder auf, und sie ist es, die auch sein Schlußwerk verklärt in seiner ganzen Großheit. Die Reformation schon unterwegs nannten wir die »heimlich Offenbarung« Dürers. Die Reformation selbst, Fleisch und Blut geworden und am Ziel, blickt uns an aus den Männerbildnissen und den heldischen Gestalten, mit denen Dürer sein Lebenswerk beschließt.
Frischer Anregungen voll und nach Arbeit drängend wie einst aus Italien kehrte der fünfzigjährige Dürer aus den Niederlanden zurück. Diesmal aber lag es über seiner Schaffensfreude wie ein schwerer Schatten. In Seeland hatte ihn ein Leiden ergriffen, das ihn bis ans Ende nicht mehr frei ließ. Er sah den Tod vor Augen, und kein Arzt war zu finden, der ihm helfen konnte. War es diese heimliche Qual, die ihn trieb, noch einmal das Leiden unseres Herrn zu erzählen. Die Stimmung des Tages war sonst anders gerichtet: sie drängte zur Tat und entschlossenem Handeln, nicht zu vergrübelter Beschaulichkeit. Dürer selbst war so ganz von ihr erfüllt, daß alles, was er fortan noch zu Ende führen konnte, nur ihr gehörte. Wie Fremdkörper liegen dazwischen die Entwürfe einer letzten Passion. Sie sind bis auf ein einziges Blatt Entwürfe geblieben, mußten es bleiben, da die Stimme der Gegenwart zu laut nach Dürers Arbeit rief. Die große Kunstgeschichte mag so das unvollendete Werk entbehren können: für Dürer selbst ist es aber ein ergreifendes Zeugnis, die stille Klage dieser Blätter, die Auseinandersetzung eines in seiner Qual vereinsamten Menschen mit dem Erlöser, in dessen Leiden er sich in schweren Stunden immer inniger einfühlen lernte.
Das erste Blatt, schon 1520, ein Jahr vor der Krankheit entstanden, steht noch außerhalb der Reihe. Es ist eine Kreuztragung (jetzt in Florenz). Die erste Anregung mag Dürer beim Schauspiel jenes feierlichen Umgangs gekommen sein, der sich am Himmelfahrtstag mit seinen Gruppen aus der biblischen und heiligen Geschichte durch die Straßen Antwerpens zog. Weiter erwähnt er am 26. und 30. Mai 1521 »den großen Umgang zu Antorff an der heiligen Dreifaltigkeit Tag« und die Fronleichnamsprozession, »den großen Umgang, der da gar köstlich war«. Man muß doch wohl annehmen, daß nur die lebensstarke Anregung der Wirklichkeit es Dürer möglich machte, das Einherschreiten des Zuges so anschaulich, so in steter Bewegung daherziehend zu schildern. Bei allen früheren Darstellungen ähnlicher Art hatte er ein nach beiden Seiten abgeschlossenes Bild gegeben, dem nichts vorangeht und auch nichts folgt. Hier aber gewinnen wir den Eindruck eines weitergleitenden Zuges, der andere Gruppen vorher schon brachte, und andere noch bringen wird.
Es ist Verständlich, daß Dürer grade jetzt Sinn hatte für das Wesentliche einer solchen Sache. Beim Überdenken des Maximilianschen Triumphzuges hatte er sich gewöhnt, eine Bildfolge in dieser neuen, seiner früheren Art fremden Weise zu gliedern. In Niederland kam dann das wirkliche Erleben hinzu, und das kann ihm sehr wohl den Gedanken eingegeben haben, selbst einmal biblische Geschichte so darzustellen. Hätte er damals, noch unberührt von den Sorgen der Krankheit, den Plan zur Reife gebracht, so wäre es eine biblische Bildergeschichte geworden von kirchlichem Feierzugscharakter. Wirklich ist auch die folgende Zeichnung, der Gang zum Grabe (jetzt in Berlin) noch ganz wie die Kreuztragung zug- oder friesartig behandelt, so daß sie sich der ersten anschließt wie ein neu auftauchendes Bild in einer ruhig abrollenden Wandelbühne. Dann aber folgt die Wendung, bedingt durch das körperliche Erleben. Die Breitform der Bilder wird wohl unverändert beibehalten, aber sie ist anderen Charakters geworden. Der Eindruck einer stetig entwickelten Erzählung ist dem Ganzen genommen, die Bilder sind wieder jedes ein Werk für sich, und so wandelt sich in der nämlichen Breitform der Eindruck des Freien in den des Gedrückten. Bei der Kreuztragung und Grablegung erscheinen die Bilder noch langgestreckt: in den folgenden Blättern empfindet man die Form nur noch als niedrig.
Aus jener Zeit, in der die Krankheit ihn erfaßte, stammt das ergreifendste Blatt, das den Charakter der geplanten Passion, wäre sie vollendet worden, vielleicht bestimmt haben würde: das Gebet am Ölberg (Frankfurter Sammlung). So wild im Schmerzgefühl hatte Dürer Gethsemane bisher nicht empfunden. Starr, unerbittlich, nur das Haupt in Milde neigend, erhebt sich aus einem Gewölk der Engel mit dem Kelch. Der Schreck reißt Christus zu Boden. »Er warf sein Antlitz zur Erde« heißt das Bibelwort, das hier zum Bilde wird. Auf dem tafelglatten Felsen ist die Gestalt lang hingestreckt, nur die Arme stehen weit nach beiden Seiten ab. Es ist die Haltung, die ihm am Kreuz beschieden ist, dessen Entsetzen er in dieser Stunde vorahnend fühlt. Nichts ist italisch schön an diesem Bild, am wenigsten die Gestalt Jesu in der Lage des Kreuzes, dem er die Arme willig öffnet. Aber die Gewalt des Erlebens, die alles Kommende schon vorausnimmt, ist von erschütternder Kraft, und nur seelische Qualen aufwühlendster Art konnten Dürer das gestalten lassen.
Das »Abendmahl« (1523) ist von den paar Zeichnungen der letzten Passion die einzige, die es wirklich zu einer Ausführung im Holzschnitt brachte. Noch weniger vielleicht als das Gethsemaneblatt ist dieses Abendmahl im Sinne der Romanen schön. Der Vergleich mit Leonardo liegt nahe, der ja gleichfalls die Versammlung um einen nach vorne offenen Tisch anordnete, Christus inmitten der Breitseite. Wie still ist doch das Werk des Deutschen bei einem solchen Vergleich! Judas, der zu viel äußere Spannung in das Ganze bringen könnte, ist schon gegangen. Der Tisch ist geräumt, nur der Kelch blieb noch stehen, ein ernster Anklang an das künftige Gethsemane. Die Sprache der Hände, bei Leonardo ein wahrer Chor von Stimmen, ist hier so gut wie verstummt. Einzig die Linke Christi greift aus, als ob sie dem entscheidenden Wort mehr Tragkraft geben möchte. Das ist gefallen und wirkt nun nach in den Seelen der Jünger, diesen schweigsamen Köpfen, die das Gehörte still in sich verarbeiten und es in seiner Art ein jeder zum Entschluß werden lassen. Man sieht es diesen Köpfen an, daß das Denken ihnen schwerer fällt als dem heißblütigen Gefolge Leonardos. Aber auch das ist ihnen anzumerken, daß der einmal gefaßte Entschluß dann vorhalten wird. Es sind nordische Naturen, Charaktere jener schweren Zeit, der das Werk der Erneuung oblag.
Nur eine Szene noch aus dem großen Drama von der Verkündung bis zur Verklärung hat Dürer beschäftigt: die Anbetung der Könige (1524, jetzt in der Albertina). Es kennzeichnet die Stimmung Dürers, daß er an das zeitlich Früheste so spät erst heranging. Um holdseligen Krippengeist war ihm gewiß nicht zumute. Aber schließlich wollte er doch auch diesen Ton nicht missen, der weder in der Großen noch in der Kleinen Passion anklingt. Im vollendeten Werk wäre es ein Auftakt geworden, im unvollendeten aber, wie wir es nur haben, ist es ein Ausklang, eine Auflösung in Helles, freundliches Dur. So stark überkam Dürer die bejahende Stimmung des Lebens, daß er die ganze Passion, vom Leiden ihm eingegeben, nicht mehr zu Ende führte. Andere Arbeit harrte seiner. Die Apostel sagen uns an, wes Geistes Art sie waren.
Wir wollen, nachdem wir das Zwischenspiel der letzten Passion vernahmen, die Werke kennenlernen, die zu diesem letzten großen Wurf hinüberleiten. Es sind die berühmten Bildnisköpfe vom Schlusse seines Lebens.
Ein landläufiges Urteil hält dafür, daß Dürer nur in zwei Zeiten seines Lebens die Bildniskunst eifriger pflegte: in den Anfängen und gegen Ende; in den etwa zwei Jahrzehnten dazwischen soll er das Bildnis vernachlässigt haben. Eine solche Meinung kann man nur gelten lassen, wenn man den Begriff des Bildnisses einschränken will auf das ausgeführte Gemälde. Als Zeichner hat Dürer mit den »Conterfeten« an keiner Stelle seines Werkes ausgesetzt, und erweitert man die Bildnisse nach bekannten Persönlichkeiten noch um die zahlreichen Kopfstudien nach Modellen, so wird man Jaro Springer zustimmen in seiner Ansicht, daß sich »die Porträts beinahe gleichmäßig auf die ganze Lebensarbeit Dürers verteilen«. Wenn wir trotzdem eine Gruppe früher Bildnisse in scharfen Gegensatz bringen zu der der letzten Jahre, so gibt uns das Recht dazu die starke innere Entwicklung, die Dürer grade auf diesem Gebiete erlebt hat.
Die Kunst des Malens »behält die Gestalt der Menschen nach ihrem Absterben«: diesem ersten Glaubensbekenntnis der ruhmesdürstenden Renaissance, und nur ihm hat Dürer in seinen Anfängen die Bildniskunst unterstellt. Er will es der Nachwelt erzählen, wie er und die Menschen, die ihm etwas waren, in Wahrheit ausgesehen haben. Besonderheiten der Dargestellten werden betont, in den Zeichnungen oft bis zur Übertriebenheit; das Augenblickliche, sofern es kennzeichnend ist, wird mit schnellem Griffel festgehalten. Das Bild soll sprechen. Ein leichtgeöffneter Mund, ein leises Lächeln, eine überraschende Wendung sind Dürer willkommene Vorwürfe, wenn sie nur von der Art des Dargestellten etwas auszusagen haben. Es ist das Verfahren der ältesten Geschichtschreiber, bei denen die Geschichte noch in lauter Geschichten zerfällt, und die darum der scharf umrissenen Anekdote den Vorzug geben vor der weilenden Betrachtung.
Es kamen die mancherlei Wandlungen, die Dürer in der Menschendeutung reifer und tiefer werden ließen. Venedig lehrte ihn das große Sehen, und er konnte es sich zu eigen machen, ohne den lässigen Blick des Gentiluomo mit zu übernehmen; er blieb bei der männlichen Sachlichkeit des nordischen Auges und wußte ihr Geltung zu schaffen auch in der großen Form. In jenem starken Jahre dann, als die Mutter starb, wurde er inne, daß man von dem Gottesgedanken in einem Menschenangesicht noch ganz anderes der Nachwelt übermitteln könne als nur ein gutes Spiegelbild. Es ist die nämliche Zeit, in der er das eigene Antlitz, geklärt durch Leiden, tiefer erfaßt. Er wird schließlich teilhaft jener Hellsichtigkeit, die aus seinen Christusköpfen leuchtet, wo er sich in dem anderen und den anderen in sich selber fühlt, so stark, daß er beim männlichen Idealkopf auch auf das Mittel der Maße Verzicht leisten kann. Das letzte war das Erlebnis des Augsburger Reichstags. »Soweit er zum Porträtisten erzogen werden konnte«, hat man gesagt, sei es dort geschehen durch höfischen Einfluß. Auch das hat er in sich aufnehmen können, ohne das mindeste des bisher Erlebten preiszugeben, wie sein Maximilianbild beweist und all die anderen, die in den Jahren 1518 und 1519 entstanden.
Gesättigt mit solchen Erfahrungen tritt Dürer die Reise nach Niederland an. Die Maler dort waren wohlgerüstet im Bildnisfach. Zweierlei Möglichkeiten der Entwicklung lagen offen. Die eine drängte zu dem, was später Rubens gab: einer romanisch betonten Vornehmheit; die andere zum späteren Holland: der nordisch-germanischen, und damit der deutschen Art. Nur für sie hat Dürer Sinn, und er bildet sie aus in den vielen, vielen Bildnissen, die er unterwegs entwarf (ganze 120 Conterfetungen verzeichnet das Tagebuch). So bestimmt ist er in seiner Menschendarstellung, daß eine Geschichte der holländischen Bildniskunst, die deren Grundlagen bloßlegen möchte, Dürer ganz gewiß nicht übersehen dürfte.
Zu wirklicher Größe aber, ja zur Erhabenheit drang Dürer erst durch nach seiner Rückkehr in Nürnberg. Wieder sind es drei Werke, für uns zu einer Einheit sich schließend, in denen Dürers ganze künstlerische Kraft sich wieder einmal aufstaut: der sogenannte Imhoff, Hieronymus Holzschuher und Jakob Muffel.
Das erstgenannte Bild (Madrid) entstand kurz nach der Heimkehr, noch im Jahre 1521. Ob der Dargestellte wirklich Imhoff ist, der Nürnberger Kaufherr und Dürers Bankmann, können wir mit Bestimmtheit nicht behaupten. Thausing hat ihn so bezeichnet nach der Ähnlichkeit des Kopfes mit einem unbenannten späteren Kupferstich, der den Namen Imhoffs führt. Dürer hatte in den Niederlanden bei Imhoff eine Schuld von 100 Gulden aufgenommen, und es könnte wohl sein, daß das Gemälde »mit als eine Abschlagszahlung« diente. Wenn es wirklich Imhoff ist, der da mit fast barschen Zügen und einem Blick, dem nicht auszuweichen ist, sein Gegenüber ins Auge packt, dann muß Nürnberg in diesem Patrizier einen sehr entschiedenen Sachwalter gehabt haben, dem nicht gut in seine Angelegenheiten dreinzureden war. Selten wurde männliche Entschlossenheit in einem Kunstwerk klarer herausgebracht. Das ist mehr als ein bloßes Abkonterfeien gegebener Züge: hier ist eine fremde Natur vom Künstler bis ins Innerste durchgefühlt und von innen heraus gestaltet. Und bewundernswert ist, wie Dürer bei Einzelheiten, beim Haar, bei der Pelzschaube, den Runzeln der Hand der Kleinmalerei nachgehen kam wie einst in seinen jungen Jahren, und dabei doch den Gesamteindruck in einer holländisch sicheren Art zusammenhält.
Gilt das Imhoffbild einer Reihe von Kennern für »die Krone aller Dürerschen Porträte«, so entscheidet die Allgemeinheit sicher eher für das zweitgenannte Bildnis, den eisgrauen Feuerkopf Hieronymus Holzschuber (1526 gemalt, jetzt in Berlin). Jeder Deutsche kennt dieses Antlitz, das bei aller Festigkeit des Ausdrucks doch nichts vom Finsteren des Imhoff hat. Das scharfe graue Auge namentlich mit dem Fensterkreuz in der Pupille hat den Menschen immer wieder etwas Neues mitzuteilen. Es ist nicht überschwenglich geurteilt, wenn man den Holzschuber im Werke Dürers die nämliche Bedeutung beimißt wie der Mona Lisa in dem des Leonardo (Muther). Abermals staunen wir über die sichere Kunst, die hier mehr noch als beim Imhoff jedem Härchen sich nachschlängeln und doch groß bleiben kann. Es ist die alte Kunst der Gotik, die ihre Dome in steiler Gradheit himmelan führt und ihre überschäumende Gestaltungsfülle doch in aber tausend Einzelheiten spielen läßt.
Ganz still wirkt nach der bannenden Lebhaftigkeit der beiden ersten Bildnisse das dritte der Reihe, der Ratsherr Jakob Muffel (Berlin). So schweigsam ist dieser Kopf, daß die Vermutung geäußert werden konnte, Dürer habe ihn überhaupt nicht nach dem Leben gemalt. Das Entstehungsjahr 1526 ist auch das Todesjahr Jakob Muffels, und eine Zeitlang hielt man es für wahrscheinlich, daß Dürer den Kopf auf der Grundlage einer älteren Zeichnung aus dem Gedächtnis malte. Es war nicht nötig, daß man dem entgegen erst auf die Inschrift hinwies, die ausdrücklich von einer Aufnahme des Dargestellten in seinem 54. Lebensjahre spricht ( aetatis suae anno 54): das Bild selbst ist von einer Anschaulichkeit, die nur das Leben geben konnte. Nur ist es freilich das Leben eines wortkargen alternden Mannes, der es gelernt hat, mit seiner Meinung an sich zu halten. Der ruhige Blick Muffels geht ebenso tief wie der des Imhoff und des Holzschuher, aber während die Mienen der beiden anderen deutlich ihrem Gegenüber ein »ich kenne dich!« sagen – Imhoff streng wie ein Untersuchungsrichter, Holzschuher trotz der angezogenen Brauen verständnisinnig lächelnd – bleibt das Auge Muffels so stumm wie seine festgeschlossenen Lippen, über die ein rasches Wort wohl niemals kommen wird. –
Den gemalten Bildnissen stehen zur Seite fünf gestochene aus den Jahren 1523 bis 26 und zwei im Holzschnitt von 1522 und 27. Alle sind es Dürer Nahestehende, Gönner und Freunde; Aufträge Fremder werden nicht mehr angenommen. Als Regel nimmt es sich Dürer, hoch an der Brust anzusetzen, so daß der Kopf, veronikonartig möchte man sagen, zu voller Geltung kommt. Eine Ausnahme machte nur der Holzschnitt für den Dichter Eobanus Hesse, als Flugblatt für volkstümliche Wirkung bestimmt, und der Kupferstich des Erasmus. Mit diesem Stich hat Dürer wenig Glück gehabt. Erasmus fand sich zu wenig geschmeichelt und schrieb kühl, er müsse sich wohl in den fünf Jahren, die Dürer ihn nicht sah, stark verändert haben. Das Gemälde Holbeins, das ihn als einen fast klosterstillen Gelehrten deutet, sagte ihm mehr zu. Dürer konnte ihn nicht mehr so schildern, er hatte ihn inzwischen wohl innerlich durchschaut, hatte sich überzeugen müssen, daß er nichts weniger war als ein todesmutiger Streiter Christi, und erst auf mehrfaches Drängen konnte er sich entschließen, die zugesagte Arbeit auszuführen.
Von den gestochenen Bildnissen, die den gemalten in keiner Weise an innerem Gehalt nachstehen, wollen wir mindestens die beiden für Dürers Leben wichtigsten uns gegenwärtig machen: Pirkheimer und Melanchthon (1524 und 26). » Vivitur ingenio, caetera mortis erunt« heißt es unter dem Pirkheimer: wir leben im Geiste, alles andere ist des Todes. Es ist, wie Dürer es sah, die Summe des Pirkheimerschen Lebens, das wir im Auszug haben in jener frühen Zeichnung von 1503 und diesem Stich des 53 jährigen. Die Zeichnung hat noch viel von dem jugendfrischen Mann der Tat, der einst in Maximilians Schweizerkrieg das Nürnberger Kriegsvolk führte. Der Stich gibt den angejahrten Humanisten, in dessen Augen Spannung und Blick erst kommt, wenn sie auf das Buch gerichtet sind statt auf das gemeine Leben. Wir wissen, wie dieser Mann, einst ein so fehdebereiter Kämpfer, gegen die geistige Fremdherrschaft, schließlich doch vor Luthers Tat versagte. Er fürchtete für einen Aufstand unmündiger Geister und unfreier Seelen, sein Altbürgerbewußtsein bäumte sich dagegen auf. Gleichviel: nur das Zeitalter Luthers, das deutsche Jahrhundert konnte diesen Kopf, diese vom Geist gebändigte Kraft so formen.
Die andere Gattung des deutschen Denkers gibt der Melanchthonkopf. Das Gesicht lebt noch, und es wird Dauer haben, so lang das deutsche Wesen lebt. Ein Mann, der wenig auf sein Äußeres gibt, der sich nirgends in der Wirklichkeit so recht an seinen Platz hinfindet, hinter dessen hoher Stirne aber eine ganze Welt Raum hat, und dessen leuchtend gutes Auge gleichfalls Sonne strahlt. Dürer fühlte manch verwandten Zug in dieser stillen Natur, er schloß sich eng Melanchthon an, als der in den zwanziger Jahren häufiger nach Nürnberg kam, um dort bei der Errichtung einer höheren Schule nach dem Rechten zu sehen. Melanchthon hat viel von den Gesprächen erzählt, die sie führten, und sein Urteil war, Dürer sei ein Weiser zu nennen, an dem die künstlerische Begabung, so stark sie auch war, doch nur das wenigste bedeutete.
Anfang Oktober 1526 richtete Dürer an den Nürnberger Rat das folgende Schreiben:
»Fürsichtig, ehrbar, weis liebe Herren! Dieweil ich vorlängst geneigt war gewest, Euer Weisheit mit meinem kleinwirdigen Gemäl zu einer Gedächnus zu verehren, hab ich doch Solchs aus Mangel meiner geringschätzigen Werk unterlassen müssen, dieweil ich gewüßt, daß ich mit denselben vor Euer Weisheit nit ganz wohl hält mügen bestehn. Nachdem ich aber diese vergangne Zeit ein Tafel gemalt und darauf mehr Fleiß dann ander Gemäl gelegt hab, acht ich Niemamd wirdiger, die zu einer Gedächtnuß zu behalten dann Euer Weisheit. Derbalb ich auch dieselben hiemit verehr, unterthänigs Fleiß bittend, die wolle diese mein klein Schenk gefällig und günstlich annehmen und mein gönstig lieb Herren, wie bisher ich allweg gefunden hab, sein und beleiben. Das will ich mit aller Untertänigkeit um Euer Weisheit zu verdienen geflissen sein. Euer Weisheit unterthäniger Albrecht Dürer.«
Der Brief begleitete die Doppeltafel der sogenannten vier Apostel (genau genommen sind es drei Apostel und ein Evangelist), die Dürer solcherart seiner Heimatstadt verehrte. Der Rat dachte das Geschenk in einen Kauf umzuwandeln. Er erklärte sich Dürer »für sein Werk zwar dankbar und erbötig, es zur Gedächtnuß zu behalten, nicht minder aber auch erbötig, ihm dafür zu bezahlen, was er daran verdient habe«. Als Dürer einen Preis nicht nennen wollte, überwies er ihm als Gegengeschenk die Summe von 100 rheinischen Gulden.
Das Werk ist nicht in Nürnberg geblieben. Der Kurfürst Maximilian von Bayern erbat es sich 1627 vom Nürnberger Rat. Rund abschlagen mochte der Rat die Bitte nicht. Er suchte sich Dürers Vermächtnis dadurch zu retten, daß er durch Georg Gärtner eine möglichst genaue Wiedergabe anfertigen ließ, von der er rühmend sagte, daß sie nach dem Urteil der besten Nürnberger Maler »nicht weit von dem Originale streiche«, während dieses selbst schadhaft sei und zudem durch die von Dürer gewählten Unterschriften den Jesuiten Münchens ein starkes Ärgernis sein müsse. Maximilian war nicht irrezumachen. Er ließ die Unterschriften von den alten Tafeln absägen und schickte sie mit den Gärtnerschen Wiedergaben nach Nürnberg zurück. Das Dürerwerk selbst blieb in München. –
Was ist es nun mit den Unterschriften, von denen der Nürnberger Rat nach hundert Jahren noch sagen konnte, sie würden von den eifrigsten Verfechtern der katholischen Lehre als beleidigend empfunden werden? Dargestellt sind auf der linken Tafel die Apostel Johannes und Petrus, auf der rechten Paulus und Markus der Evangelist. Darunter ließ Dürer, als er das Werk noch in seiner »Stube« hatte, von dem Schreibmeister Neudörfer zur Erklärung seiner Absicht eine längere Ausführung setzen, die so beginnt:
»Alle weltlichen Regenten in diesen fährlichen Zeiten nehmen billig Acht, daß sie nit für das göttlich Wort menschliche Verführung annehmen. Dann Gott will nit zu seinem Wort gethon noch bannen genommen haben. Darauf horent diese trefflich vier Männer: Petrum, Johannem, Paulum und Marcum, ihre Warnung.« Es folgen nach der Lutherschen Bibelübersetzung von 1522, der sogenannten Septemberbibel, Sprüche aus den Schriften der Genannten, und zwar links Stellen aus dem 2. Kapitel des 2. Petrus- und dem 4. des 1. Johannesbriefs, rechts aus dem 2. Timotheusbrief Kapitel 3 und dem Markusevangelium Kapitel 12. Gewarnt wird links vor falscher Lehre und falschen Propheten, rechts vor falschem Lebenswandel.
Ohne weiteres ist klar, daß die Wahl dieser Sprüche, zudem aus der Lutherübersetzung, als eine unzweideutige Lossage Dürers von der alten Kirche empfunden werden sollte und als solche Buch empfunden wurde. Im Jahr zuvor hatte der Rat die Reformation in Nürnberg eingeführt, und Dürer wollte keinen Zweifel darüber lassen, daß er gleichfalls auf dieser Seite stand und nicht auf der wieder schwankender Humanisten oder nur äußerlich Bekehrter. Darum auch seine Stiftung des Werkes an den weltlichen Rat und nicht, wie es sonst wohl selbstverständlich war, in eine Kirche.
Wichtiger aber noch als das Verneinende, die Lossage vom Alten, war das Bejahende, das Bekenntnis zu einer ganz bestimmten Form der neuen Lehre. Luthers Kampf gegen Rom hatte außer vielen guten Mächten auch solche der Tiefe entfesselt, die das Christentum überhaupt in Frage stellten und in hemmungsloser Leidenschaft jedes straffe Band staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung zu zerreißen trachteten. Auch Nürnberg lernte sie kennen, die Schwarmgeister und Wanderprediger, die als geistige Freischärler durchs Land zogen, mit ihrer täuferischen Lehre der Wiedererneuung nicht weniger gefährlich als dem alten Glauben. Schon waren in der Umgebung Bauernunruhen ausgebrochen, und in der Stadt selbst, in Kreisen, die Dürer sehr nahestanden, begann es gleichfalls zu schwelen. Münz und Karlstadt waren hier aufgetreten, Hans Dank, Rektor an der Sebaldusschule, suchte der Wiedertäuferei neue Anhänger zu werben, und sogar drei Künstler, die beiden Brüder Beham und Georg Pentz bekannten sich offen gegen kirchliche und weltliche Obrigkeit, sprachen verächtlich von Christus, ja leugneten Gott. Es war Zeit, daß der Rat eingriff und mit der Verbannung Danks und der drei »gottlosen Maler« seine Rechte wahrte. Im verborgenen freilich glomm es noch fort, und die verschworene Gemeinde der Abtrünnigen mochte außer anderen geistig hochstehenden Männern auch Dürer zu den Ihrigen zählen. Ihnen eine klare Absage zu geben und der weltlichen wie der neuen kirchlichen Macht seine treue Gefolgschaft zu bekunden, setzte Dürer sein ganzes Ansehen ein, indem er dem Rat sein stolzes Werk vermachte und durch die Unterschriften jeden Zweifel hob. –
Klar und bestimmt ist jedes Wort der Unterschriften, aber klarer und bestimmter noch ist für jeden, der Augen hat zu sehen, was die Bilder selbst aussagen. Welch ein Gegensatz zwischen diesen Gestalten und den Heiligenbildern spätgotischer Zeit! Einem Mann der Tat gegenübergestellt ist ein solcher des Gedankens, Paulus gegen Johannes. Hinter ihnen, als zweites Aufgebot, Markus und Petrus. In Petrus scheint das Vergrübelte des Gedankenmenschen gesteigert bis zum Unvermögen jeden Handelns, in Markus wieder, der wie in hellen Flammen steht, scheint eine lodernde Tatenlust sich selbst zu verzehren. Das Wesentliche der beiden Hauptgestalten, das Ausgeglichene in ihrer Seele wird durch die Nebenfiguren im Grunde verstärkt wie durch ein vergrößerndes Glas. Auf diese beiden, Paulus und Johannes, kommt es an.
Menschliche Größe ist nie erhabener dargestellt worden als in dem Melanchthonkopf des Johannes und dem zornmütigen, doch an sich haltenden Antlitz des auf sein Schwert gestützten Heidenapostels. Vom Blick dieses Paulus kommt keiner mehr los, der ihn einmal gefühlt hat. Es liegt in ihm eine Macht, wie sie auch dem Auge des jungen Luther eignete, das den Gaeta einst so verwirrte ob seiner dämonischen Gewalt.
Doch die Köpfe sind es nicht allein. Die ganzen Gestalten, wie Bildwerke, ja wie Säulen unerschütterlich dastehend, sind aus dem gleichen Geiste geboren.
Seit vielen Jahren schon hatte sich Dürer gemüht, das sichtbar zu machen. Die letzten Versuche fallen auf die Jahre 1523 und 26 in den kleinen Kupferstichblättern dreier Apostel. In einem Bartholomäus, und mehr noch einem Simon zeigt das Gewand noch zu viel eigenes Leben, aber im Philippus, mit dem Buch im Arm und den Kreuzstab fest vor sich hingestellt, ist der Paulus der Tafel fast schon erreicht (wir bemerkten, wie die 6 der Jahreszahl über eine 3 gezeichnet ist, so daß das Blatt in der Zeichnung auf 1523 anzusetzen ist; 1526 wurde es nur überarbeitet). Es wird darauf hingewiesen, wie in diesen Blättern eine ältere, 1514 begonnene Apostelfolge fortgesetzt worden sei. Das mag äußerlich stimmen; dem Geist aber und der seelischen Gesinnung nach lagen die Anfänge des Tafelwerks noch einige Jahre zurück: der Christus der Kleinen Passion mit seiner aufrechten, nordischen Heliandgestalt, er lebt wieder auf in den großen Aposteln. Zum erstenmal seit Heliandtagen, sahen wir in diesem Christus denen im Norden einen geistigen Führer gewiesen, der ihnen glaubhaft war und überzeugend. Das ist das Wesen auch der Apostel. Starken und stolzen Heliandgeist bringen sie hinein in eine vielfach verworrene Zeit. Wahrlich, dieses Werk, die letzte große Tat Albrecht Dürers, es ist die Reformation, nicht in dem beschränkten Sinn von Dogmen und Gelehrtenfragen, sondern im tieferen Geist einer freien Erneuung des germanischen Nordens.