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Wir stehen vor dem berühmten Dreiwerk: »Melancholie«, »Ritter, Tod und Teufel«, »Hieronymus«. Die stolzen drei Blätter sind Dürers volkstümlichste Schöpfung. Nichts anderes ist fleißiger nachgedruckt worden, nichts anderes ward von den Männern der Schrift lieber gedeutet. Aber wieviel die Weisen auch hin und her reden mochten: sie konnten beisammen nicht kommen. Es liegt ein »Problem« vor. Über den Sinn jedes einzelnen Blattes hat man sich schließlich einigen können. Was aber ist es, das die Gruppe eben zur Gruppe macht? Eine Einheit sind die Blätter, das hat man den Freunden Dürerscher Kunst nie ausreden können. Sie gleichen sich in der Größe (die genauen Maße sind 0,239:0,168; 0,250:0,190; 0,247:0,188), sind unmittelbar nacheinander entstanden und zeigen die nämliche Art der Ausführung. Über das alles hinaus aber empfindet man eine Gemeinsamkeit der Stimmung, die sie so untrennbar fest zusammenhält wie die Glieder eines dreigeteilten Gemäldes oder die Sätze eines symphonischen Werks. Und hier kam nun das Problematische: wie soll man es anfangen, daß man das unsichtbare und doch so fühlbare geistige Bild zu fassen bekommt?
Dürer hat darüber nichts geäußert. Seine Zeitgenossen begnügten sich dieser sichtbaren Trilogie gegenüber mit dem sicheren Gefühl, daß hier eins auf das andere angewiesen sei und machten sich keine weiteren Gedanken. Seither sind vierhundert Jahre vorüber. Keines der Geschlechter, die da kamen und gingen, hat Dürer ganz aus den Augen verloren, nie war man im Zweifel, daß die drei Blätter Wesentlichstes seiner Lebensarbeit enthielten, und so suchte man auch immer wieder Auskunft über die dunkle Frage ihres Zusammenhangs. Es ist nicht geboten, noch einmal Antwort um Antwort herzuzählen, denn keine ist drunter, die ihrer Sache sicher wäre; wenn sie es schienen, so kamen sie Dürer mit einer Forderung, daß er eine unfertige Reihe aus der Hand gegeben habe, und aus eigenem Ermessen ergänzten sie ihn. Unsere Sache ist es nicht, zu widerlegen, und so wollen wir über allen Meinungsstreit hinweg uns mit den Werken selbst verbinden. –
Dürer war, als er sich dem Griffelwerk wieder zuwandte, über die italische Kahlheit hinausgewachsen. Er bekannte sich wieder zur gotischen Freude am Vielerlei des Beiwerks. In unseren drei Blättern liegt es in allen Ecken und Winkeln umher und freut sich seines kleinen Lebens. Es kommt recht Unterschiedliches beisammen, doch nichts ist wiederholt – bis auf eins: zu Häupten der Melancholie hängt neben dem Totenglöckchen ein Stundenglas; der Tod auf dem Reiterbild weist dem Gewappneten ein Stundenglas; im Gehäuse des Hieronymus verkriecht sich im hintersten Winkel, dem einzigen, wo man sich in all dem sonnigen Wohnstubenbehagen ein mürrisches Spinngeweb denken könnte, ein Stundenglas.
Das könnte Zufall sein, ein Lieblingseinfall, wie ihn jeder Künstler einmal hat und dann gelegentlich ohne jede Verbindlichkeit mehrmals zur Anwendung bringt. Aber Dürer ist kaum mit einem Sinnbild weniger leichtfertig gewesen als mit diesem. Nur dreimal kommt es noch in seinem Druckwerk vor. In einem frühen Kupferstich (um 1495) zeigt er ein Liebespaar, das sich im Freien ergeht, die Frau hochschwanger. Hinter den beiden lauert, von einem Baum halbverdeckt, der Tod, auf dem Schädel das Stundenglas, wie auf dem Sprunge, über die Frau in ihrer schweren Stunde herzufallen. Die beiden anderen Fälle gehören dem Jahre 1511. Auf einem fliegenden Blatt bemüht sich eine klapprige Beingestalt, mit dem Stundenglas einem Landsknecht Furcht einzujagen, ohne indessen viel Eindruck zu machen. Der letzte Fall, ganz dem dritten Blatt der Trilogie entsprechend, ist ein Hieronymus in der Zelle, ein Holzschnitt; an der Wand hängt das Stundenglas wie ein Stück Hausrat, das zu der besonderen Einrichtung des Hieronymus nun einmal unerläßlich ist.
Ist nach diesen wenigen Fällen jede Zufallserklärung ausgeschlossen, so kann über die weitere Frage, was das Stundenglas oder die Sanduhr zu bedeuten habe, keinerlei Zweifel sein. Ein Sinnbild des Todes, des zu Ende laufenden Lebens, nichts anderes ist die Sanduhr für die bildende Kunst stets gewesen. So sehen wir sie schon auf einem Sarkophag des Palazzo Mattei in Rom in der Hand des Morpheus, und so hat sie die Kunst des Mittelalters immer wieder angewendet. Im Haushalt war die Sanduhr überall als ein bequemes Zeitmaß für bestimmte Zwecke im Gebrauch, und doch ließ man sie fort, wo ein behaglicher Innenraum geschildert werden sollte. Sie hatte eine zu unheimliche Nebenbedeutung, das Gerippe hantierte mit ihr so bedrohlich wie mit der Sense: nur in einem ernst mahnenden Kunstwerk mochte man daran erinnert sein. Zu einem Doppelleben war das Stundenglas damit bestimmt. Was im Alltag als etwas harmlos Selbstverständliches betrachtet wurde, empfand man im Bild als unzweideutige Drohung.
Mit anderen Augen als vorher sehen wir das Dreiwerk Dürers nun: der Tod schwebt über diesen Gebilden, sie konnten erstehen nur in einer Zeit, in der Gedanken über das Ende mächtiger als sonst in die Seele des Künstlers eindrangen; einer Zeit, in der er sich gezwungen sah, Standpunkt zu nehmen zu einem Rätsel, das ihn, den stetig Schaffenden, sonst nicht viel quälte.
Eine solche Zeit aber sind die Jahre 1513 und 14, in denen das Dreiwerk entstand, für Dürer gewesen. Täglich hatte er damals den Tod vor Augen. Er spricht davon in seiner Familienchronik: »Zwei Jahr nach meines Vaters Tod nahm ich meine Mutter zu mir, dann sie hätt nichts mehr. Und da sie bei mir wohnte, bis daß man zählte 1513 Jahr, da ward sie an einem Erichtag früh tödlich und jähling krank, darin sie ein ganz Jahr lang lag. Und von dem ersten Tag an über ein Jahr, als sie krank worden was an einem Erichtag, am 17. Tag des Mai im 1514 Jahr nach Empfahung des heiligen Sakraments ist sie christlich verschieden zwo Stund vor Nachts, der ich selbst vorgebett hab.«
Ein anderer Künstler hätte in solcher Stimmung, sich von ihr freizumachen, einen jener Totentänze ersonnen, wie sie seit der Zeit des großen Sterbens üblich waren. Dürer faßt zusammen. Eine Trilogie des Todes baut er auf, gewiß nicht so gestaltenreich wie die anderer Meister, aber in ihrer Beschränkung von unendlich tieferer Art als sie alle insgesamt. Vom Todesgrauen spricht er, von der Todesverachtung, der Todesgelassenheit. Es ist eine Philosophie des Todes, so allumfassend, wie sie kein Denker reiner geben kann.
Die Melancholie. »Melencolia I« hat Dürer dem Kupfer eingegraben und damit seinen Willen kundgetan, daß dieses Blatt den Anfang machen soll. Der Zeit nach kommt es erst später. Erst 1514 wurde es ausgeführt, »der Reiter«, wie Dürer das Blatt kurz nannte, geht ihm (1513) voraus. Beim Entwurf des zeitlich früheren Werkes mochte Dürer des Glaubens sein, alles gegeben zu haben, was er vom Tod zu sagen hatte. Ein aufwühlendes Ereignis erst ließ ihn die letzte Stunde noch in einem anderen Gesichte schauen, und nun erstand der größere Plan der dreigeteilten Folge in seiner Seele. In dieser Reihe aber durfte das Todesgrauen nicht dem reineren und sonnenhafteren Gedanken der Todesverachtung folgen; die dumpfere Seelenstimmung gehörte an den Anfang. Melencolia l: auch an einem Künstlerwort soll man nicht drehen und deuteln, und das Wort hier zeigt, uns klar den Weg, den wir zu gehen haben. –
Die »Melancholie« ist eines der dämmernden Gesichte, wie Dürer sie von Jugend auf stets wieder einmal hatte. Im Wachen wie im Schlummern. Wir hören, wie die Freunde einmal bei Pirkheimer zusammenkommen, um einen Trupp Landsknechte vorüberziehen zu sehen, und wie Dürer das Schauspiel versäumt, weil ihn grade in dem Augenblick seltsame innere Gesichte überkommen (Pirkheimer erzählt es im Widmungsbrief seiner Lucianausgabe). Drei Jahre vor seinem Tod erlebt er jene schon erwähnte Traumvision von den fallenden Wassern, phantastisch wild, »wie ein Stück Edda«. In Bild und Wort hat er sie hingeschrieben, und kann doch keine der zugleich verworrenen und grellen Einzelheiten deuten. Geschaut, erträumt wie das Gesicht der fallenden Wasser ist auch die Melancholie. Wir kommen ihr nicht bei, wenn wir vom Einzelnen ausgehen: vom behauenen Steinbock und seiner mathematischen Bedeutung; vom mystischen Zahlenquadrat, das nach oben und unten und überkreuz stets die gleiche Quersumme ergibt; vom Werkzeugwirrwarr am Boden, vom Alchymistentiegel. Einiges ist wohl dabei, das eine klarere Sprache zu reden scheint: die Kugel zur Linken ist das entrollende Glück; von einer Fledermaus, die ein Haus umflattert, will der Volksglaube wissen, sie künde nahen Tod; Komet und Regenbogen sagen ähnliches an. Doch was wollen alle Einzelheiten! Tausend Gedanken überstürzen sich in einem zu Tode geängstigten Geist. Er kann nicht Rechenschaft geben vom einen und anderen, nur das Ganze ist ihm schreckhaft klar, nur aus ihm heraus wird all das haltlose Traumwerk lebendig.
So hier. Der Verstand, der Ding um Ding abtasten möchte, kann uns nicht leiten. Der Gesamteindruck allein ist hier das Wirkliche. In die hockende Gestalt müssen wir uns hineinfühlen, mit ihren Blicken die ganze zerrüttete Welt ringsum erleben.
Mit ihren Blicken – sie haben eine seltsam eigene Art. Nur einmal noch gab Dürer diese Richtung einem Augenpaar. Es ist das Bild der todverfallenen Mutter, dessen schon einmal gedacht worden ist. In ihrem Todesjahr ist es gezeichnet. So mag Dürer die alte, vom Schlag gelähmte Frau oft gesehen haben in ihrem letzten Leidensjahr, und der Anblick konnte ihn wohl grübeln lassen; so sah er sie sterben. »Und sie forcht den Tod hart, aber sie saget, für Gott zu kummen fürchtet sie sich nit. Sie ist auch härt gestorben, und ich merkt, daß sie etwas Gramsames sah. Dann sie fordret das Weihwasser, und hätt doch vor lang nit geredt. Also brachen ihr die Augen. Ich sah auch, wie ihr der Tod zween groß Stöß ans Herz gab, und wie sie Mund und Augen zutät und verschied mit Schmerzen. Ich betet ihr vor. Dovan hab ich solchen Schmerzen gehabt, daß ichs nit aussprechen kann. Gott sei ihr gnädig.«
»Ich merkte, daß sie etwas Grausames sah«: ist diese Vision, die als Eigenerlebnis so stark übersprang auf den erschütterten Sohn, daß ihm alle seine Kreise mit Zirkel und Maßwerk vernichtet schienen, ist dies das Schreckgesicht der Melancholie?
An einen während des Krieges verstorbenen Maler muß ich denken, an Oskar Zwintscher, der an die Kirche seiner Vaterstadt einen Christus auf der Bahre gab. Ich fragte ihn, wie ihm der Plan eines solchen Werkes gekommen sei, das seiner Art sonst fern lag. Und er erzählte, wie er in das Sterbezimmer seines Vaters kam. Beim Überschreiten der Schwelle, noch ehe er den Blick aufs Totenbette richtete, habe ihn mit erschreckender Gewißheit der Gedanke gepackt: hier hat ein Kampf stattgefunden. Wie er dann den Vater hingestreckt daliegen sah, da empfand er, was er in seinem Bild zum Ausdruck schuf.
Es gibt Dinge, über die man nicht gerne spricht. Oskar Zwintscher, der sonst die Feder wohl zu führen wußte, hat von seinem starken Erlebnis den Leuten nichts erzählt. Auch Dürer schwieg, auch er ließ die Empfindung Gestalt annehmen in einem einzelnen Bild, um dann, als ihn das Leben abermals in seine Kreise zog, sich anderen, ihm mehr gemäßen Werken zuzuwenden. –
Wer durchaus eine Erklärung für den Verstand haben muß, mag sie am ehesten finden in der Leiter, die an die Rückseite des Turms gelehnt ist. Es ist eine gewöhnliche Maurerleiter, die also auf einen noch unfertigen Bau hindeuten würde. Der Block berührt den Boden noch nicht mit ganzer Fläche, sondern nur erst einer Ecke. Soll man ihn als im Augenblick abgestürzt denken? Eine Baumeister-Solneß-Natur, um an Bekanntes zu erinnern könnte danach gemeint sein; eine tragisch vertiefte Natur, vor deren geistigen Augen alles ineinanderstürzt.
Doch es kann uns kaum gut sein, zu sehr in die Teile zu gehen. Traumdeuterei ist ungewiß wie Wahrsagekunst. Für Dürer selbst kann das einzelne sibyllisch rätselhaft geblieben sein. Klar war ihm nur das arme, starre Wesen, das dem Tod entgegenblickt, und das den Tod »hart forcht«. Die Lähmung fesselt es wie ein Alb, und doppelt schwer wirkt das unbeseelt Massige der Lähmung durch das mächtige Schwingenpaar; wie eine unbekleidete Gestalt doppelt nackt erscheint durch ein einzelnes Kleidungsstück.
Ritter, Tod und Teufel. Dem Todesgrauen entgegengestellt ist die Todesverachtung. Durch eine felsige Landschaft zieht ein geharnischter Reiter, den Hund zur Seite, in ruhigem Schritt seines Weges. Zwei gespenstige Wesen haben sich an ihn herangemacht. Der Teufel das eine, ein gehörntes Ungeheuer mit Eberkopf und Bocksbeinen; das andere der Tod, mit einem Leichenhemde angetan, auf einer abgetriebenen, für den Schindanger reifen Mähre, Schlangengewürm um Kopf und Hals, Nase und Lippen zerfressen. Der Weg biegt ein in eine enge Waldschlucht. Drohend hebt der Tod das Glas; sein Pferd beugt sich schnuppernd zu einem Totenschädel nieder; der Teufel streckt schon die Tatze, zuzupacken. Den Mann zu Pferde schreckt nichts von dem allen. Sein Visier bleibt offen, der kalte Hohn weicht nicht aus seinen Zügen. Was will das Gesindel! Unebenbürtige Gegner achtet man nicht! Und in gleich ruhigem Schritt zieht er ein in die Schlucht der Schrecken.
Mit vielem Fleiß hat man das Bild in seine Teile zerlegt und bestimmt, was Dürer aus der Erinnerung und aus seinen Mappen herübergeholt haben kann. Im Jahr der Apokalypse zeichnete er einen Gewappneten zu Pferde und vermerkte dabei: »Das ist die rustung zu der zeit im teutzschland gewest.« Die Rüstung hat Dürer ziemlich genau übernommen; der in ihr steckt, ist freilich gründlich anderer Art. Weiter hat er 1505 den König Tod gezeichnet, auf einem Halbgerippe von Pferde durch die Lande reitend, schleichend langsam und doch unentrinnbar; Erinnerungen an die Stimmung klingen nach im Tod des Reiterbildes. Eine Zeichnung nach der Natur von 1512 erwies sich in zusammengedrängter Form als brauchbar für einen Teil der Landschaft. Besonders viel Arbeit machte das Pferd. Es ist vorsichtig konstruiert und, wie das rechte Hinterbein zeigt, noch auf der Platte nachgebessert. Verrocchios Colleoni-Roß und Leonardos Modell zum Reiterdenkmal des Francesco Sforza sollen als Vorbilder in Betracht kommen. Die Kunstgeschichtler haben seit einigen Jahrzehnten für dieses Pferd eine solche Vorliebe, daß die Meinung ausgesprochen werden konnte, Dürer habe ursprünglich gar nichts anderes geben wollen, als ein schönes Normaltier. Der Ritter samt Tod und Teufel und die ganze Landschaft dazu seien erst später um das Musterpferd herumgezeichnet worden als ein Zugeständnis an die Schaulust der Menge. Das Urteil ist immerhin erwähnenswert als ein Beweis dafür, bis zu welcher Verblendung die Leidenschaft der Zergliederung führen kann, und wie bitter not es tut, vom Ganzen auf die Teile, nicht aber umgekehrt zu kommen.
Ins Wesentliche vorgedrungen war Herman Grimm, als er auf den Gegensatz hinwies zu den seit dem 14. Jahrhundert üblichen Totentänzen. »Die Idee des Totentanzes«, sagt er in der dritten Folge seiner Aufsätze, »ist keineswegs die, daß der Tod alle Gestorbenen gleichmache. Dies glaubte in gewissem Sinne niemand in jenen Jahrhunderten. Die Bevölkerungen Europas waren durch eine Reihe fast unübersteiglicher Schranken in Stände geschieden, die unter sich eine feste Rangordnung innehielten, deren Bestand über das Grab hinaus angenommen wurde. Wie der irdischen Hierarchie eine himmlische Hierarchie entsprach, verhielt sich der irdische Mensch in der Unsterblichkeit wie in einer Fortsetzung seines irdischen Standes, die sich bis auf die Kleider erstreckte. Wir gewahren da Fürsten, weltliche und geistliche, Ritter, Mönche, Bauern usw., bis ihnen endlich beim jüngsten Gericht erst der Rang nichts mehr hilft, wo die Kleidung ausgezogen und der Lohn für gute und böse Taten rücksichtslos zugemessen wird. Nun aber: der Totentanz hat mit dem Momente nichts zu tun, wo nach dem Abscheiden aus diesem Leben uns Verdammung oder Erlösung zugesprochen wird, er stellt vielmehr den Augenblick dar, wo es erst ans Sterben geht. Hier, wo wir vom Kaiser abwärts alle Stände als die Beute eines gleich heimtückischen, unbarmherzigen Überfalles erblicken, klingt etwas wie ein demokratischer Rachegesang aus diesen Darstellungen heraus. Einen Zustand, noch im wirklichen Leben, hatte das Volk hier vor Augen, wo alle Menschen gleich elend werden, wo hoch und niedrig von demselben unverschämten Bettelvogt am Kragen genommen und ins Loch gebracht wird. Mag man sich seiner erwehren wie man will, der Tod ist der Stärkere, und das zuschauende Publikum hat seine Schadenfreude daran.«
Diese häßliche Auffassung höriger Naturen war Dürer fremd. Das Grauen des Todes hat er gekannt, die hämische Freude, daß es nur bei anderen ans Sterben ging, konnte er nicht nachempfinden. Dem Kleinleuteschreck und den Stimmungen aus der Tiefe gegenüber vertritt er die Empfindung des aufrechten Mannes, der in Blick und Haltung fest bleibt, ja der das Entsetzen der anderen nicht einmal achtet. Im Schicksalsjahr der Mutter, als er beim Anblick der vom ersten Schlaganfall getroffenen Frau dem nahen Tod ins Auge sah, war seine endliche Empfindung nicht der Wille zur Verneinung, sondern ein lebensfestes »Dennoch!« Ihm hat er Ausdruck geschaffen in seinem Reitersmann.
Nach Dürers ganzer Gesinnung konnte nur ein Streiter Gottes so sich geben. Dieser Ritter ist des nämlichen Geblütes wie der heilige Georg zu Pferde, den er fünf Jahre zuvor im Stiche schilderte, des nämlichen Geblütes auch wie der »Miles christianus«, der Kämpfer Christi, von dem Erasmus sagt: »All die Schreck- und Spukgesichte, die dir entgegentreten, als nahtest du der Hölle selbst, du achtest sie für nichts.« Aber man tut Dürer unrecht, wenn man ihn deshalb von Erasmus abhängig machen will. Der Streiter Gottes, wie ihn der federgewandte Humanist so wohl zu schildern weiß, war ganz gewiß keine erasmische Erfindung. Den Mystikern bereits war die Vorstellung eines Pilgrims geläufig, dem Tod und Teufel zusetzen und doch nichts anhaben können, und ebenso die des streitbaren Ritters als des rechten Gottesmannes. Dürer hatte keine Anleihen nötig, um ganz so wie die Tiefsten im Volk den Gottesmann zu empfinden: aufrecht, unnahbar, unerschütterlich. Das lag ihm im Blute. Wie der Reiter in die Schrecken der Todesschlucht einbiegt, so auch zieht der Christus der Kleinen Passion in Jerusalem ein: unberührt von Not und Tod, die seiner harren.
Hieronymus im Gehäus. Zur höchsten Auffassung ist Dürer hier emporgeläutert. An nahen Tod gemahnt auch dieses Blatt, doch es spricht von ihm geruhig, es hat in sich die tiefe Weisheit des Sterbens und doch Lebens. Mächtiger noch als das gelassene Draufzu des Ritters ist das unbekümmerte An-sich-herantreten-lassen des Mannes im Gehäuse, den das Todesnahen nicht bei der Arbeit stören kann.
Öfter als jeden anderen Heiligen hat Dürer den alten Hieronymus geschildert; sechsmal im Druckwerk, einmal im Gemälde. Die beiden ersten Blätter, ein Holzschnitt und ein Kupferstich noch aus der Wanderzeit, sind uns bekannt. Der Holzschnitt, nur als Titelbild eines Buches gedacht, ist noch ganz äußerlich. Hieronymus ist nur der große Gelehrte, der die Bibel übersetzte, und der in seinem ärztlichen Nebenamt den berühmten Fall mit dem Löwen hatte. – In dem etwa ein Jahr späteren Kupferstich begegnen wir schon dem uralten Mann, von Einsamkeit umgeben, des nahen Todes gewiß. Er kasteit sich mit dem Stein, weil das zu seiner Tagesregel gehört, die häßliche Zerknirschung aber des mittelalterlichen Büßers ist ihm fremd. – Lange Zeit danach hat die einsame Gestalt Dürer nicht mehr beschäftigt. Erst im Jahr der Kleinen Passion, 1511, gibt auch sie ihm wieder zu denken. Er zeichnet sie für den Holzschnitt, in der Stille einer Arbeitszelle. Von der Wand her mahnt die langsam abrinnende Sanduhr. Für den Heiligen hat sie nichts Bängliches; sie sagt ihm nur an, wann es Schlafenszeit sein wird. Alles im Zimmerchen hat seinen rechten Platz. Den Deutschen, hat man einmal gesagt, sei es eigen, daß sie »in Ordnung sterben« wollen. – Es folgen im Jahre danach ein Holzschnitt und ein Kupferstich; jener den Hieronymus in einer Felsenhöhle bei der Arbeit zeigend, wie er die gichtkrummen alten Finger zu sauberen Schriftzügen zwingt; dieser den Mann im Gebet, selbstversunken wie nur ein Mystiker, der Blick über das Kreuz hinweg verklärt gen Himmel schweifend. – Das letztemal, daß Dürer seinem Heiligen künstlerisch gehuldigt hat, wurde er 1521 auf der niederländischen Reise angeregt durch einen uralten Mann. Er zeichnete ihn auf dunklem Papier mit dem Pinsel und mit weißen Lichtern und schrieb dazu: »Der Man war alt 93 Jor und noch gesunt und fermuglich zu antorff.« Im Bilde (jetzt in Lissabon) deutet er mit der Linken auf einen Totenschädel, und sein ernst auf den Beschauer gerichteter Blick scheint ein Memento auszusprechen. –
Dürer selbst mag es uns sagen, wie er das ruhige Abwarten des Todes empfindet, das der weise Hieronymus für ihn verkörpert. Er hat ein paar »christliche Reime« geschrieben, die also lauten:
Wer ein lauter Gewissen hat
Der fürchtt den Tod nit früh und spat,
Und frogt nit viel nach langer Zeit,
Die uns Gott hier auf Erden geit.
Und weiter:
Dem die Stund seines Todes allweg
Wohlbetrachtt in seim Herzen läg,
Und sich all Tag zum Sterben schickt,
Den hätt göttlich Gnad angeblickt.
Und würd in dem rechten Fried stahn,
Den Gott gibt und Welt nit geben kann.
Dorum welcher recht leben thut,
Den überkommt ein starken Mut.
Und ihn erfreut des Todes Stund,
Dorin ihm Seligkeit wurd kund.
Die Sanduhr verrinnt, doch neues Sonnenlicht strömt zu: das ist die Auffassung des Todes, zu der sich Dürer durch Leid und Qual durcharbeitete. Stundenglas und Sense, Gerippe und Teufelsspuk können ihn nicht mehr das Fürchten lehren; aller Holbeingraus ist von ihm abgefallen wie ein niederer Dämonenglaube – wie etwas recht »Subalternes«.
Deutschland weiß heute, was das heißt, den Tod überwinden. Auf fernen Meeren sind Männer unserer Seemacht mit einem Liede auf den Lippen ins Wellengrab gesunken. In der Schlacht bei den Falklandsinseln stießen Schiffbrüchige, die gerettet werden konnten, das dargebotene Ruder von sich: der freie Tod war ihnen lieber als ein Leben von Feindes Gnaden. Das alte »Tod, wo ist dein Stachel« war wieder einmal Tat geworden. – Auf eine stillere, bescheidenere Art hatte auch Dürer dieses letzte Heldentum. In seinem Hieronymus hat er ihm Ausdruck gegeben, und darum lieben wir das Blatt so über alles: es ist so deutsch.