Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Die Kunst des Malens wird gebraucht im Dienst der Kirche und dardurch angezeigt das Leben Christi und viel anderer guter Ebenbilder; behält auch die Gestalt der Menschen nach ihrem Absterben.«
Dürer selbst hat die großen Gegensätze seines Schaffens auf diese knappe Formel gebracht. Im Dienst der Kirche und im Dienst der Welt, Gotik und Renaissance, beides regte sich in ihm. Es ist ihm später geglückt, das Auseinanderstrebende in eins zu fassen und aus der gesammelten Kraft heraus Werke zu schaffen, die wir als vollendet fühlen. In seiner Jugend aber geht beides nebeneinander her, fast ohne Fühlung. Daß die »Heren« und die anderen aufs Humanistische gestimmten Bilder vom selben Künstler in der gleichen Zeit geschaffen werden konnten wie die »Apokalypse«, das ist, wenn man sich nacheinander in beides recht versenkt, wie ein unbegreifliches Naturspiel.
In dem vor uns liegenden Lebensabschnitt Dürers wiederholt es sich. Wir haben gegen das Ende dieser Zeit zwei bezifferte Kupferstiche, »Weihnachten« und »Adam und Eva«. Die Blätter sind sich so weltenfremd wie »der Traum des Doktors« und die apokalyptischen Reiter. Und doch ist eins wie das andre so bis ins Letzte gefühlt, daß jeder Geschichtsschreiber, wäre vom Menschen Dürer nichts bekannt und von den genannten Blättern nur so viel, daß sie in Nürnberg im Jahre 1504 gestochen wurden, zu dem zwingenden Schluß kommen müßte, es hatten damals in Nürnberg zwei Künstler nebeneinander gegeben, so grundverschiedener Gesinnung, daß sie vielleicht gar nicht voneinander wußten, daß sie aneinander Vorbeilebten, wie sie aneinander vorbeiempfanden und -dachten.
Dennoch: ist, was wir bei Dürer in besonders scharfer Prägung finden, wirklich etwas so Einziges und Ungemeines? Muß nicht im Grunde jedes Menschenkind, ob groß ob klein, in seiner Seele einen Kampf austragen, der einem Dürer nur um so schwerer angesagt ward, als seine Künstlerseele stärker war? »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«, klagt Faust. Es ist das uralt ewige Lied der Menschheit, ja aller Kreatur. Vom Vater, von der Mutter her strömt verschiedene Natur in eine Seele, die zusehen mag, wie sie der Widersprüche Herr wird. Wohl dem, in dessen Inneren eines der beiden von Anbeginn so mächtig war, daß es das andere bald aufzehrte. Er entwindet sich schnell der Dumpfheit und findet als ein in sich Fertiger seinen Platz an der Tafel. Unzählige, vielleicht die meisten kommen nie zur Entscheidung. Die Woge wirft sie der Woge zu, bis sie im Nebel untergehen oder an fremdem Gestade zerschellen.
Der Künstler, wie in allem anderen von gesteigertem Empfinden, hat auch im großen Kampf des Lebens mehr als die andern auszugleichen. Der Ausgleich selbst vollzieht sich drum nicht anders. Schnellfertige finden wir, und ewig Ungewisse. Beide können ein Volk über weite Strecken nicht leiten. Das zu erreichen ist nur denen gegeben, die hart zu ringen hatten, und dabei Kraft genug zur Führerschaft bewahrten. Nur sie sind würdig, ihrer immer wieder zu gedenken. Und weil ein solcher Dürer war, der den Mut fand, es mit dm stärksten Gegensätzen einer wirren Zeit zu wagen und die Kraft, sie unter sich zu bringen, darum ist er einer unserer Großen.
Im Dienst der Kirche und im Dienst der Welt: das sind die äußersten Gegensätze, die in Dürer widereinander standen. Aber es sind nicht die einzigen. Im Dienst der Kirche, das war nicht ein in sich geschlossenes festes Element, das als gegebene Einheit hingenommen werden konnte. Widersprüche gingen da durcheinander, mit denen ein ganzes Volk, ja ein Erdteil durch ein Jahrtausend sich abgequält hatte wie nur je ein armes Menschenkind mit seinen zwei Seelen. Wir lernten sie kennen, sahen es krauser als je sich verflechten, als das Jahr 1500 wie ein drohendes Menetekel aufflammte vor den Augen derer am Gelage. Auch das blieb Dürer nicht erspart. Wenn eines ein Beweis ist der unbändigen Kraft in diesem jungen Künstler, so ist es der Sieg über diesen ersten Widerstreit. Schon in der Apokalypse war er entschieden. Ausgenutzt und weiter verfolgt wird er in den nächsten beiden großen Werken, die Dürer sich stellt: der »großen Passion« und dem »Marienleben«.
*
In zwei Zeiten ist, wie das Fortunablatt, auch die »große Passion« und nach ihr das »Marienleben« entstanden. Unmittelbar nach der Apokalypse ging Dürer an das Passionswerk. Von seinen zwölf Blättern sind damals sieben fertig geworden. Die anderen fünf führte Dürer aus erst nach seiner Rückkehr von Venedig (1510). Von den späteren Blättern greift die »Gefangennehmung» wahrscheinlich auf einen Entwurf um 1498 zurück, und auch das Titelblatt ist, wiewohl von einer Größe des Formempfindens, die der vorvenezianische Dürer noch nicht hatte, doch in der Empfindung ein so starker Anklang an das johanneische Marterbild (der keifende Richtherr dort und der keifende Landsknecht hier sind beide dem nämlichen Ecce-homo-Bild entgegengestellt), daß auch dieses Gesicht schon der jüngere Künstler gehabt haben muß. Mit den neuen Blättern bekommt das ganze Werk ein solches Übergewicht für die Zeit von 1493 bis 1500, daß es in diesem Zusammenhang behandelt werden muß.
Was hat Albrecht Dürer gehindert, schon damals das Werk zu Ende zu führen? Kurz gesagt: das Marienleben, die reinere und stillere Empfindung, zu der es sich in seinem Innern klärte. Sie machte ihm das laute Wesen der großen Passion zu fremd, er konnte sich fürs erste nicht länger, wie Goethe sagen würde, im Innern dieses Gegenstandes aufhalten.
Von den beiden ersten Blättern »Abendmahl« und »Christus am Ölberg« ist jenes aus der späteren Zeit (1510), dieses aus der früheren (um 1498). Die formalen Unterschiede sind aufdringlich klar. Schon der Heiligenschein, dort wirklich strahlend, hier noch in der herkömmlichen Weise durch eingesetzte Stacheln gegeben, spricht von der langen Entwicklung zwischen den Werken. Er ist bezeichnend auch für das andere. Das Gestrüpp der Linien hat sich gelichtet zu einer planvoll Übersichtlichen Anlage. Trotzdem: es ist doch auch viel künstlich Ausgerechnetes später dabei-, das uns kühl läßt. Die schöne Geste des Jüngers zur Rechten des Herrn ist die des italienischen Gentiluomo; man glaubt sie einfach nicht dem nordisch treuherzigen Bauerngesicht. Der Weinschenk ist nur bei seiner kleinen Sache, Judas ihm gegenüber hockt zu drei Vierteln Modell. Dürer hatte eben 1510, mit dem Kirchlichen schon mehr in sich einig, mit anderen Widerständen fertig zu werden, und so steht das Abendmahlsbild in der Folge doch als ein Fremdkörper da. »Christus am Ölberg« ist als Formkunstwerk im Vergleich nur unbeholfen, und es spricht doch so viel inniger zu uns, wie der Verlassene, in den düsteren Bergwald starrend, das Urteil des Kelches empfängt. In der ersten Verwirrung erhebt er die Hände zur Abwehr, doch schon beugt sich das emporgefahrene Haupt wieder demütig nieder: »Dein Wille geschehe.«
»Gefangennahme« und »Geißelung« folgen. Diese Blätter zeigen mehr als die anderen, daß Dürer längst nicht so den Passionsstoff in sich verarbeitet hatte wie die voll ausgereifte Apokalypse. Er ist noch befangen im Überlieferten. In den herkömmlichen Darstellungen der Leidensgeschichte aber, den gemalten wie den geschnitzten, wurde den für uns unerträglichen Formen des verrohten religiösen Volksschauspiels nur zu viel nachgegeben. Es mag ursprünglich recht wohl gemeint gewesen sein, wenn man die Widersacher des Erlösers so niederträchtig und so boshaft als nur irgend möglich schilderte. Aber indem man die Beispiele für solche Tücke dem engen Gesichtskreis der Zuhörer entnahm und sie zur besseren Ermahnung recht ausführlich schilderte, wurde schließlich die Hauptszene in einer überliefert gleichgültigen Form nur eben hingesetzt, und alle Sorgfalt der Ausführung auf das Drum und Dran vergeudet. Nicht einmal das Schlimmste, die Durchsetzung mit derb-komischen Zwischenspielen, hat Dürer ganz vermieden. Beispiele sind beim Geißelungsblatt der zerzauste kleine Köter und vorne rechts der Bengel, der mit seiner Tute den Spektakel vollmacht. Man könnte noch darüber fortkommen; nicht aber darüber, daß Christus selbst für einen Künstler wie Dürer zu wenig wesentlich geschildert ist. Ein italienisch sorgfältig durchgeführter Akt ist uns bei ihm zu wenig. Und ein kopfreiches Gesindel, von deren Mienen sich nichts ablesen läßt als roheste Gemeinheit, das hätten die andern schließlich auch geben können. Dürer mag es selbst gefühlt haben, daß er hier dem übelsten Volksgeschmack Zugeständnisse machte, und das war wohl mit einer der Gründe, die ihn das Ganze preisgeben ließen. Als er die früher entworfene Gefangennahme endgültig durcharbeitete, unterdrückte er eine Menge Nebenfiguren, von denen man so nur noch die Mützen und Helme im allgemeinen Durcheinander wahrnimmt. Innerlich groß aber konnte das Blatt auch durch die besser betonte Hauptszene nicht werden, weil es eben von Anfang an nicht groß empfunden war.
Im » Ecce homo« gibt Dürer auch dem zweiten Fehler der alten Volksschauspiele nach, der übertriebenen Rührseligkeit, die der übertriebenen Roheit beigemischt zu sein pflegte. Der weinerliche, im gotischen Zierschritt daherkommende Christus ist kein Gottesmann für Albrecht Dürer. Aber er macht Eindruck auf das Volk, das plötzlich still geworden scheint. Ein Pharisäerterzett nahe der Treppe sucht wohl noch zu Hetzen, doch ohne rechten Erfolg. Von der bewaffneten Macht, deren Lanzen überall starren, sind sichtbar nur zwei Soldaten. Der Ältere hat dem Bartlosen ein paar Worte zugeflüstert, daß ihm der Mann da drüben doch leid tue, und der Bartlose, eine straffe Kriegergestalt, schaut prüfend hinüber. – Wieder ist das Anekdotische nicht ganz vermieden. Den Straßenjungen mit der Gerte, der sich den rechten Fuß kratzt und dabei dummdreist umherschaut, würde man gerne entbehren.
Gefaßter, heldischer zeigt Christus sich bei der »Kreuztragung«.
Dürer sucht die weitausladende Darstellung in Schongauers prächtigem Kupferstich zusammenzudrängen auf die eine Mittelszene. Man sieht nicht die weite Strecke, die der Zug bei Schongauer bereits zurückgelegt, und die andere, die er noch vor sich hat. Schon wenige Schritte vor der Kerkerburg ist Christus über einen Stein am Weg gefallen. Er wendet den Blick zurück zu den Seinen, deren Leid ihm näherzugehen scheint als das eigene. Im Volk fallen nächst Johannes und den Frauen zwei Berittene auf mit Judengesichtern und in türkischer Tracht, ferner im Vordergrund rechts ein Landsknecht mantegnaschen Gewächses. Und da ist auch wieder der ruppige kleine Hund zur Stelle, der richtige Kasernenköter, möchte man meinen, der überall dabei sein muß. Aber da dieselbe kleine Bestie sich später auch im »Marienleben« (im Blatt der »Heimsuchung«) und anderswo herumtreibt, so liegt die Sache wohl weniger tief: Dürers hatten einfach einen Hund im Hause, der so aussah. Möglich, daß diese putzige Rasse, die wir bereits bei Schongauer antreffen, damals in Mode war.
Mit ganzer Kraft setzt Dürer ein im nächsten Blatt: »Christus am Kreuz« ist aus dem Vollen geschaffen, ein Werk, das den Vergleich mit der Apokalypse besteht. Wie bei den zwei Weltgerichtsblättern scheinen Sonne und Mond vom Himmel hernieder. Engel umflattern das Kreuz, das Blut des endlich Erlösten aufzufangen. Ergreifend ist der Anblick der erschöpft zu Boden gleitenden Maria, um die ihre Getreuen bemüht sind. Magdalena, noch stehend, blickt mit gefalteten Händen hinüber zu einem der Engel. Der Eindruck des Schmerzes wird vertieft durch die stumpfe Gleichgültigkeit zweier Berittener, der einzigen, die vom Volksgewühl übrigblieben. In diesem rein gefühlten Werk hat Dürer nichts nachgegeben, weder dem verrohten Geschmack des niederen Volkes, noch dem überfeinerten der Humanisten.
Dann die »Beweinung« und »Grablegung«. Es sind erste Versuche Dürers, einem Mitleiden Ausdruck zu schaffen, das tiefer geht als bloße Rührung. Eine Steigerung des Ergriffenseins von den Hintergrundfiguren an bis zu Maria und Johannes am vorderen Rande bringt ein starkes Krescendo in das Bild der »Beweinung«. Die Natur scheint die Steigerung mit zu erleben von den geraden Bäumen an der Schädelstätte zu den wie schmerzhaft verkrampften in der Nähe des Grabes. Das Gewaltigste ist das Gesicht der Maria mit der stummen Schicksalsfrage »Warum!« – Weniger klar empfunden ist die »Grablegung«. Es ist zu viel Aufregung in ihr, ein Durcheinander der Stimmen, die sich einer einheitlichen Melodie noch nicht recht fügen wollen.
Die beiden Schlußblätter sind spätere Zutat: »Christus in der Vorhölle« und »Auferstehung«. Wäre die Kunst nichts als Form, so würde man ihnen den Preis geben müssen. Als Ausdruck aber sind sie ohne Belang im Hinblick auf »Golgatha«, »Kreuzigung« und »Beweinung«. Ganz des reifen Dürers unwert ist der Mysterienspuk im Höllenbild. Christus selbst hat, es gibt keinen anderen Ausdruck, etwas Rubenshaftes. Er zeigt uns seinen schönen Körperbau. Sein Benehmen im Verkehr mit den tief unter ihm stehenden Kellerbewohnern der Hölle ist weltmännisch sicher, die Ausführung des Zauberstückes der Auferstehung beinahe elegant. Es war Zeit für den Dürer von 1510, diese Überschätzung von sich abzutun, wenn er nicht ein lateinischer Dürer werden wollte, ein Vasall wie nach ihm Rubens.
Im Marienleben hat Dürer sich wieder heimgefunden zum Besten im Volkstum. Das gefürchtete Jahr war vorübergegangen, und noch stand die Welt. Die Kassandraleute wollten damit noch nicht widerlegt sein und setzten auf ein neues demnächst fälliges Jahr. In Dürer wurde es ruhiger. Die Apokalypse hat ihn als Maler nie wieder beschäftigt. Die Leidensgeschichte, deren stete Mahnung er dem Volke künden wollte, hatte er mit seelisch noch nicht zureichenden Kräften begonnen. Er gab die großgeplante Folge, die an stolzem Umfang der Apokalypse nicht nachstehen sollte, bald wieder preis. Einer neuen Aufgabe sah er sich, endlich des schweren Jahrhundertdruckes ledig, gegenübergestellt: das Leben unserer lieben Frau im Bilde zu erzählen. Die Muttergottes, das war unter den »viel andern guten Ebenbildern« neben dem Erlöser die reinste Erscheinung, die sich ihm im Dienst der Kirche bot.
Ein Zweizeitenwerk also ist auch das Marienleben. Noch stärker aber als bei der großen Passion ist bei ihm das Übergewicht, das das Ganze vor die venezianische Reise verweist, wiewohl es als abgeschlossenes Buch erst 1511 zur Ausgabe gelangte (die einzelnen Blätter kamen je nach ihrer Fertigstellung auf den Markt). Von den zwanzig Tafeln sind außer dem Titel nur »Tod« und »Verklärung« später entstanden; jenes 1511, dieses ein Jahr vorher. Wahrscheinlich steht ihnen außerdem noch der »Abschied« zeitlich nahe. Man hat es aus Stilgründen gefolgert, und die Stimmung des Blattes, der tiefe, feierliche Ernst, der so sehr absticht von den fabulierenden früheren Blättern, gibt der Meinung recht. Eine Jahreszahl finden wir bei den früheren Blättern nur bei der Begegnung Joachims und Annas: 1504. Es mag für die frühen Blätter das Schlußdatum sein, da um diese Zeit das Antikische wieder mehr Macht über Dürer gewann. Nur das Bild der »Darstellung« muß später fallen. Das Architektonische ist hier einem Blatt aus dem Perspektivbuch des Viator entnommen, das erst 1505 erschien. Es wäre möglich, daß wir auch dieses Blatt auf etwa 1509 ansetzen müssen. Aber das ist für das Ganze keine wesentliche Sache.
*
Die Stimmung des »Es war einmal« ruht über dem Marienleben, Dürers holdestem Bilderbuch. Aus Marialand wird uns ein Märchen erzählt, behaglich ausgemalt nach Spinnstubenart.
In diesem fernen Märchenland, wo sie ganz, ganz andere Kirchen bauen als in Nürnberg, fing die Begebenheit an. Der alte Joachim, der damals noch nicht der Vater der Maria war, überhaupt noch keine Kinder hatte, ging eines Tages zur Kirche, ein Lamm auf den Altar zu legen. Am Altar ging es bei solcher Gelegenheit nicht anders her als an einem behördlichen Nürnberger Schalter. Und wie das so ist: die Leute vor dem Schaltertisch waren geduldig und still, wie es sich schickt auch für die wohlerzogenen Bürger einer deutschen Stadt; und die Leute dahinter taten gern gleichgültig, oder auch knurrig und schnauzig, wie das ja auch in deutschen Städten vorkommen mag. Der alte Joachim traf es ganz besonders schlecht. Sein Opfer wurde ihm zurückgewiesen. Mit kinderlosen Eheleuten wollte die Kirche nichts zu schaffen haben. Der gute alte Mann tat den anderen, die mit ihm Opfergabe standen, wohl leid. Die hinter dem Schalter aber schien die Sache ganz und gar nichts anzugehen.
Da zog der arme Joachim denn ab und brachte sein Schäfchen wieder hin, wo er es hergeholt hatte: zur Herde draußen am Waldrand. Mit seinen drei Hirten – er hatte ein stattliches Anwesen, der alte Joachim – wollte er schon gar nicht sprechen, so nah ging ihm die schlimme Sache vor all den Leuten vorhin. Wie er nun so in schweren Gedanken vor sich hergeht, da mit einem Male rauscht es vom Wald her so voll, daß es die Bäume allein nicht sein konnten. Und wie er hinaufsieht, da war es ein Engel in den Lüften, der hielt in den Händen ein Pergament mit richtigen Bullen dran. Und auf dem Pergamentblatt stand es geschrieben, daß dem löblichen Joachim und seiner Ehefrau Anna ein Kindlein würde geboren werden. Da hatte er's denn verbrieft und versiegelt, frisch aus der himmlischen Kanzlei, noch dazu übermittelt durch einen Flügeladjutanten vom lieben Gott selbst.
Schnell machte er sich nun auf, über Weiden und Wiesen zurück in die Stadt, seiner Frau das Neue zu melden. Und, Wunder über Wunder: kaum ist er da, da kommt ihm auch schon unter der goldenen Pforte Frau Anna entgegen. Auch sie hat ihre Sonderbotschaft bekommen. Sie halten sich selig umschlungen, und die Leute staunen und ziehen den Hut und raunen sich zu von den guten Beziehungen, die der Herr Joachim und seine Frau Anna zum Himmel und zum lieben Gott allerhöchstselbst unterhalten.
Neun Monate später. Im Schlafgemach der Frau Anna ging es hoch her. Der Himmel hatte Wort gehalten: ein Töchterchen war angekommen und alles war gut abgegangen. Die Gevatterinnen aus der Nachbarschaft melden sich pünktlich zum Wochenbesuch. Die Letztgekommenen bieten Erfrischungen an; ein zartes Hühnerbeinchen die eine, die andre ist mehr für trinkbare Sachen. Die Mutter dankt, am liebsten hätte sie nun ihre Ruhe; sie hat es schließlich doch schwerer gehabt als die weise Frau, die am Bettrand ihr Nickerchen tun darf. – Vorn haben die Frühergekommenen sich's mollig gemacht. Die Magd hat ihnen Bier geholt und unterwegs gleich die Wiege mitgenommen. Die erste Lage scheint nicht zu langen; die Magd bekommt Auftrag zu einer neuen. Inzwischen kreist der Becher. Eine ganz Durstige setzt sogar, zum lächelnden Ergötzen einer stillen Beobachterin, den Krug selbst an den Mund. Man muß doch die Gesundheit des Kindes trinken! Das Kleine – ja wenn sie sich nur etwas mehr darum kümmern wollten! Aber das scheint ihnen bei der Badefrau gut aufgehoben, und es ist schon viel, wenn eine durstige Seele für das arme Würmchen einen Blick hat. Törichte Gesellschaft! Wenn sie ihr Geschwätz und ihren Umtrunk für einen Augenblick vergessen und ihre Augen aufmachen wollten, so würden sie noch etwas ganz anderes sehen können: eine himmlische Erscheinung, einen Engel im Gewölk, der segnend zu Häupten von Mutter und Kind sein Weihrauchfaß schwingt. Aber so sind halt die Weiber, sogar in Marialand!
Drei Jahre gingen hin, da nahmen die Eltern Maria – so hatten sie das Kind getauft – zum erstenmal mit in den Tempel. Maria mit der Kindermagd vor sich, waren sie würdig und langsam, wie es sich für einen Kirchgang ziemt, dahergeschritten. Aber kaum sind sie nahe der Kirchentür, da reißt Maria sich los und poltert die Stufen hinan, als ginge es zum Spielplatz. Recht artig war das ja nicht, und die gestrengen Kirchenbeamten hätten Ursache gehabt, böse zu sein. Aber – schau, schau: die nämlichen Herren, die dem Herrn Joachim damals so unwirsch kamen, sie waren heute die Herzlichkeit selber. Was die guten Beziehungen doch nicht alles ausrichten können!
Und abermals waren Jahre entschwunden, und Maria war herangewachsen zu einer lieblichen Jungfrau. Da geschah es, daß einer von der Tischlerzunft, Joseph mit Namen, um ihre Hand anhielt. Die Eltern waren es zufrieden, und es ward Brautstand angesagt. Im Tempel tat der Priester sie zusammen, unter dem Bogen, wo immer die jungen Paare vor ihn hintraten. Es war ein Bogen mit sonderlichem Geschnitz, denn die Baumeister in Marialand, wenn sie auch ganz anders bauen als ihre Zunftgenossen in Nürnberg, sind doch genau so voller Schrullen und Anzüglichkeiten. – So schön wie heute hatte sich's unter dem Bogen noch selten zusammengefunden. Es war eine Verlobung mit großer Beteiligung, und alles trug den schönsten Sonntagsstaat. Maria hatte hermelingefütterte Ärmel und einen durchsichtigen Schleier, der stand ihr hold zu Gesicht. Der Priester selbst war gerührt, als er die Hände der beiden ineinander tat und dem künftigen Eheherrn noch ein paar besondere Worte mitgab auf den Lebensweg.
Nun aber kam das Ganzgroße: die Verkündigung Mariä, die Ansage, daß sie zur Mutter Gottes auserkoren sei. Sie war beim Beten, als der Engel daherkam und sie ansprach als die Gebenedeite unter den Weibern. Still hörte sie zu, und über ihrem Haupte war ein Licht, und in dem Lichte schwebte die heilige Taube. Gottvater selbst sah vom Himmel herab, denn es war eine gewichtige Stunde, und hier nahm alles seinen Anfang.
Was die Heimsuchung ist, das wissen wir alle. Es war ein heißer Tag, als Maria zum Gebirge ging und Elisabeth ihr entgegentrat. Beide Frauen waren gesegneten Leibes. Zacharias stand unter der Tür, den Hut in der Hand, und die Freundinnen hielten sich seitwärts im Schatten der Bäume, da sie wußten, daß die Frauen allein sein wollten.
Die Weihnacht kam; oder nein: es war ein Weihetag. Ob man gleich den Stern am Himmel sah, war es doch hellichter Tag. Der Hirt im Felde, dem es der Himmel gleich schriftlich gab, war weithin zu sehen. Daß Joseph da mit einer Laterne in den Stall kam, war also eigentlich recht überflüssig. Maria war nicht allein gewesen in ihrer schweren Stunde. Flinke Engelchen waren um sie her. Nun, da alles glücklich überstanden war, konnte das kleine Sängerquartett oben am Himmel sein Notenblatt aufrollen und sein vierstimmig Lied anheben, eine neue Weise auf die alten Worte »Ehre sei Gott in der Höhe«.
Im Marialand heischt es der Brauch, die kleinen Kinder am achten Tage nach ihrer Geburt zu beschneiden. Auch das kleine Christuskind hat sich dem fügen müssen. Nur ein Kind noch wurde an dem Tag, für den der kleine Jesus angesetzt war, zur Beschneidung vorgeführt. Das Gedräng war dennoch groß. Es gehören viel Menschen dazu, wenn die Sache nach rechter Ordnung gehen soll, und neugierige Leute finden sich auch in Marialand allemal, wenn irgendwo eine Tür aufsteht und drinnen etwas vorgeht. Das Christkindlein hat sich wacker gewehrt und dem Alten am Bart gezupft. Für Maria war es eine bange Stunde, und Joseph sprach ihr gut zu. Schließlich ging alles wohl ab.
Die heilige Familie war wieder in ihrem Krippenwinkel im alten Burggemäuer. Da glitt über den Himmel ein seltsames Leuchten, und von der Straße her kam Hufgetrappel. Drei Mann saßen ab. Das waren die heiligen drei Könige, die das Kind anzubeten kamen, geleitet von ihren Standartenträgern. Das Leuchten aber ging aus von dem Stern, der den Königen den Weg gezeigt hatte über all die vielen Berge. Denn sie kamen weit her, von den Türken der eine, aus Mohren- und aus Morgenland die anderen. Der Türke kniete als erster, legte den Turban zur Erde und gab Vater Joseph sein Ehrengeschenk. Dann winkte der aus dem Morgenland den König der Mohren herbei, der sich erst gar nicht herantrauen wollte und nun fast über die Schwelle stolperte. Für Maria und Joseph war die Ehre gar groß, und sie wurden ein wenig verlegen; nur das Jesuskind war nicht überrascht und benahm sich recht sicher. – Indes nun der Führerstern am Himmel so ruhig wartete wie die Pferde abseits, kam noch ein zweites Leuchten droben hinzu. Wieder hatte der Himmel kleine Sänger entboten, diesmal ihrer drei, wieder mit einem ganz neuen Lied. Sie mußten gut aufpassen, und einer schlug den Takt dazu. Es war recht schade drum, daß sie unten so wenig auf das Ständchen achteten. Der einzige wirkliche Zuhörer war eine alte Kuh; sie hob den Kopf und sah mit Kennermiene hinauf.
Es ist Brauch in Marialand, daß das Kind nach bestimmter Frist im Tempel dem Herrn dargebracht werde und daß die Eltern als Opfer ein paar Tauben hingeben. Joseph und Maria taten danach. Sie mußten in den großen Saal des Tempels mit den vielen, vielen Säulen. So tief war der Raum, daß das Licht kaum bis ans Ende ging. Zwischen den Säulen drängte viel Volk. Ein freundlicher Priester nahm das Kind in die Arme, derweil die Magd den Käfig mit den Tauben auf den Altar schob.
Nun kamen die bitteren Tage, da Herodes den Kindern nachstellte und die Eltern fliehen mußten, mitten bei Nacht, nach Ägyptenland zu. In aller Eile wurde der Esel gesattelt und eine Milchkuh losgehalftert. Maria mit dem Kind saß auf, Joseph nahm die Zügel, und dann ging es fort in die Nacht. Die Reise war lang und beschwerlich. Durch tiefe Wälder ging es mit gar wunderlichen Bäumen, Palmen geheißen. Doch immer war über ihnen ein lichtes Gewölk mit Engeln wie Leuchtkäferchen. Die wirbelten durcheinander und wiesen den Weg und hielten die heilige Karawane bei Laune.
Endlich waren sie da. In der Nähe der Stadt fand Joseph ein halb zerfallenes ödes Gehöft, in dem kein Mensch mehr wohnen mochte. Er machte sich dran, es herzurichten, er war ja ein Tischler, und so retteten sie sich zwischen all dem Gerümpel im fremden Ägypten ihr Stück Marienland hinüber. Die Menschen blieben ihnen fern, es ging wohl die Sage, daß es in dem Ödhof dort spuke. Der Hausherr kann sie entbehren, er weiß, wofür er sich müht, er hat sein Weib und das Kind und allerlei himmlische Gesellschaft noch obendrein. Heinzelmännchen mit Flügeln sammeln die Späne zusammen, während er tischlert. Und wenn sie dabei auch allerlei Schabernack treiben, seinen Hut sich aufstülpen, durchs Pusterohr blasen, mit ihrem Spielzeug auf die Mauern klettern, so ist das nur um so lustiger. Maria sitzt an der Wiege und spinnt. Die Engel staunen, wie fein sie das macht, und bringen ihr Blumen. Fröhlicher Lärm ist überall. Der plätschernde Brunnen, die gackernden Hühner, Vogelgezwitscher und Kinderlachen: da schlägt es sich mit der Axt noch einmal so frisch in die Balken.
Es war die glückseligste Zeit im Leben unserer lieben Frau. Zwölf Jahre hat sie gewährt, dann aber kam die Zeit der Leiden. Ein erster Schatten fiel in ihr Leben schon damals, als sie nach langem Suchen den zwölfjährigen Knaben im Tempel fanden. Es war zum Erstaunen, wie keck er all den angesehenen gelehrten Herren Rede stand. Sie hatten ihren Spaß an ihm, aber die Mutter fühlte, es sei gefährlich, mit solchen Herrn sich einzulassen und dabei recht zu haben.
Ihr Herz hatte richtig gesprochen. Schlag um Schlag traf sie das Schicksal bis zu jener fürchterlichen Stunde, da der Sohn von ihr Abschied nahm, den letzten Segen spendete, und aufrecht in den sicheren Tod ging. Was alles dann weiter geschah, das ist eine andere Begebenheit und steht in der Leidensgeschichte des Herrn.
Maria starb endlich eines gesegneten Todes, Gott der Herr und sein Sohn nahmen sie zu sich gen Himmel. Dort hinauf kam auch Joseph, und als sie wieder alle beieinander waren, da machten sie's wie einst auf der Erde. In Ägypten hatten sie sich in einem einsamen Winkel ein Stück Marialand auf Erden geschaffen. So ein Eckchen für sich machten sie sich auch droben zurecht. Und sie waren es wohl zufrieden, wenn die kleinen Engel um sie her dann mit Osterhasen und anderem Spielzeug sich tummelten, wenn größere Engel Hausmusik machten und artige Dinge sagten und auch sonst aus den himmlischen Wohnungen recht viel Besuch zu ihnen kam.
Ein Volksbuch ist das Marienleben. Volksbücher sind auch Apokalypse und Große Passion. Wie anders aber empfindet der Dürer vor und der nach 1500 den Begriff Volk! Wohl hat die Apokalypse einzelne Gestalten, die wie ein Bekenntnis Dürers wirken, er glaube an das Gute im Volk. In der »Niobe des Nordens« vertritt er die Sache der Weltlichen sogar vor seinem Herrgott. Das aber sind Ausnahmen. In der großen Passion wird dem Volk ein Spiegel vorgehalten, der ihm wahrlich nicht wohl will. Als gemeinster Janhagel zerrt es am gefangenen Christus, pfeift und kreischt in die Geißelung hinein und lungert vor dem Ecco homo. Der Eindruck will nicht weg, als müsse Dürer, da er sich eben seinen Platz im Nürnberger Menschengedränge zu sichern suchte, von dem Volk dort nicht minder zu leiden gehabt haben als einst von Wohlgemuts Knechten. Was ist ihm schließlich dieses Volk? Eine Horde von kleinlichen, schadenfrohen, zu jeder Tücke bereiten Wesen; unfreie Naturen, die lange unter dem Druck der Hörigkeit standen, und die darum nicht freier und weiter empfanden, weil der Druck der Hörigkeit ihnen genommen war.
Und nun dieser seltsame Umschwung kurz nach 1500. Der knapp Dreißigjährige zeigt sich im Marienleben dem Volke gegenüber von einer Ruhe und Güte und einem Vertrauten Allesverstehen wie ein Weiser, der das Leben tief unter sich hat. Dürer stand in engen Beziehungen zum Humanismus. Das zeigt sich nicht nur in Äußerlichkeiten wie dem lateinischen Begleittext zum Marienleben von dem ihm befreundeten Benediktinerpriester Schwalbe, zu deutsch Chelidonius oder Musophilus (Musenfreund) geheißen. Viel stärker spricht es sich aus in der antikisierenden und italienernden Behandlung des Bauwerks. Das aber hat Dürer nicht gehindert, in diesen frostigen Hallen ein Wohnstubenglück zu schildern von einer Innigkeit, ein Deutschtum im Winkel, daß wir alles andere gern mit hinnehmen, ja daß uns wie bei einem Traum- und Märchenspiel das Vertraute durch das fremde Beiwerk nur noch vertrauter wird. Das große Erlebnis von 1500 hat Dürer Auge und Herz erschlossen für das deutsche Volk, hat es ihm so nahegebracht, daß ihn das große Heimweh nun nicht mehr losließ. Viel Dank hat er von seiner Liebe nicht gehabt, aber »weder venezianische Dukaten noch niederländische Gulden« haben ihn irremachen können. Er kehrte zurück zu dem Volk, das er trotz der engen Verhältnisse, in denen es ihn hinleben ließ, doch besser kannte.
Das Marienbuch ist nicht das einzige Werk, das uns von Dürers vielleicht stärkstem inneren Erlebnis etwas zu sagen hat. Er hat das Leben »unserer Frau« auch sonst immer wieder geschildert, und die kleinen Gelegenheitsarbeiten bewegen sich ganz in der Richtungslinie der großen Werke. Gegenüberstellen lassen sich etwa die »Heilige Familie mit den drei Hasen«, um 1497 entstanden, und die »Weihnacht« von 1504. Dort ist die heilige Geschichte noch kirchlich allgemein empfunden, hier dagegen rein und ausschließlich deutsch. Das ältere Blatt kommt trotz alles liebenswürdigen Schongauers doch nicht recht los von der feierlichen Vorstellung der thronenden Madonna, zu deren Häupten die Himmelskrone schwebt. Ganz unten wagt zwar in den spielenden und knabbernden Hasen der Deutsche ein Wort mitzusprechen, der seine Mutter Gottes mehr liebt als fürchtet, aber es ist doch nur bescheidenes Beiwerk. Wie ganz anders steht Dürer mit der heiligen Sippe auf du und du im Weihnachtsblatt! Mit Nürnberger Augen ist das Gehöft gesehen, das Joseph und Maria sich zur Wohnung auserlesen haben. Ecken und Winkel, verfallene Mauern mit hängendem Buschwerk, dunkle Fensterlöcher, doch durch das alte Tor ein weiter Blick in deutsches Land. Maria betet das Christkind an, Joseph gießt geschäftig aus dem Zieheimer Wasser in seinen Krug. Das ganze Deutschland liegt umschlossen in dem einen Blatt, das nach Hunderten von Jahren noch so verständlich sein wird, wie es das schon tausend Jahre vorher gewesen wäre.
In diesem Zusammenhang wären auch die größeren Gemälde aus Dürers Frühzeit zu nennen: der Dresdener Altar, der sogenannte Paumgärtner Altar (München) und die Anbetung der Könige (Florenz). Die Dresdener Tafel, einst für Friedrich den Weisen gemalt, wahrscheinlich kurz nach 1500, ist leider stark entwertet durch Übermalungen und unmittelbare Verstümmelungen. Im Mittelbild wurde oben ein ganzer Streifen dem Rahmen geopfert. Solche Überschneidungen wie an den Engeln rechts und links sind unmöglich. Damit aber ist der Sinn auch der anderen umherschwirrenden Engel völlig entstellt. Sie mögen den Raum einst erfüllt haben wie ein Fliegenschwarm, der mit seinem freundlichen Gesumm ein Zimmer traulich macht. Beim Antonius links sind Ungeheuer später zugemalt worden, beim Wasserglas vor Sebastian rechts wurde Dürer »verbessert« usw.
Die liebenswürdige Zutat unterlebensgroßer Engelchen, ergänzt durch entsprechend behandelte Bildnisfigürchen begleitet auch die Handlung des zweiten Bildes, die »Geburt Christi« auf dem Paumgärtner Altar. Das Kleinleben wirkt wie Ziermusik. Auch hier haben Spätere hineingepfuscht. In diesem Fall konnte die Übermalung wieder ausgeschaltet werden, wir sehen das Bild wieder, wie es zwischen 1500 und 1505 entstand. Freilich bleibt es ein bloßes Werkstattbild, in der Erfindung durch und durch Dürerisch, ausgeführt aber von Hilfskräften, die ihrem Meister nicht nachkommen konnten.
Einen ganz reinen Klang vernehmen wir erst in der »Anbetung« von 1504, dem Gegenstück zum Kupferstich der »Weihnacht«. Das ist Dürer, nur Dürer! Der Familienzauber der heiligen Gruppe ist trotz aller Innigkeit von erhabener Größe im Vergleich zum spielend freundlichen Hintergrund, dem Dürer diesmal auch ohne die Beihilfe himmlischer Heinzelmännchen doch deren unterhaltsame Stimmung verleihen konnte. Vom lichten Hintergrund zu den wenigen und starken Farben vorn ist es wie ein mächtiges Anschwellen. Einzelheiten fesseln; so die gotisch prächtige Aufmachung des stehenden Königs. Aber nichts drängt sich vor. »Das erste vollkommene Gemälde der deutschen Kunst«: das Urteil besteht zu vollem Recht.
Aus dem Griffelkunstwerk ließen sich noch verschiedene Blätter nennen, die Dürers Marienliebe zu dieser Zeit ebenso beredt zum Ausdruck bringen wie die Fortschritte seiner Kunst aus dieser Stimmung heraus. Das schönste unter ihnen ist ein kleiner Kupferstich von 1503: Maria in einem Heckenwinkel, wie sie das Kind säugt. Ein Stückchen Rasen, ein paar dürftige Latten mit Rankengewächs, ein Vögelchen drauf, vorne Mutter und Kind, das ist alles, und doch – das ganze Deutschland!
Doch die Verinnerlichung Dürers in jenen Jahren, durch jene Jahre drang tiefer noch ein. Er bekam einen seherischen Blick nicht nur für die kleine Welt um ihn her, das Wohnstubenglück, dessen er selbst nicht teilhaft werden sollte: auch die Welt des Kleinsten ward ihm nun erschlossen. Jedes Tier, jede Pflanze, ja jeder Stoff gab sich ihm als ein Besonderes, als ein Wort der Schöpfung, dessen Sinn er zu erfassen trachtete. Das nun ist ein ganzer Abschnitt deutscher Kunstgeschichte für sich.
Die Wiener Albertina bewahrt ein Blatt, in dem beides, Menschliches und Tierisches, ineinander geht wie in altgermanischen Tier- und Pflanzenfabeln. Es ist die Farbenzeichnung der »Maria mit den vielen Tieren«. – Von einem Stück Marialandes sprachen wir, das die heilige Familie in jeglicher Umgebung um sich beisammen haben wollte. Hier ist es noch mehr. Eine ganze Arche Noah, mit aller Kreatur befrachtet, scheint ausgeladen auf einer selig einsamen Insel. Vögel und Insekten, vom Schwan bis zur Libelle, Blumen von der Schwertlilie bis zum Rasenblümchen, ein Uhu in einer Baumstumpfruine, ein Fuchs an der Leine, ein schnatternder Papagei, die ganze Naturgeschichte ist da. Nicht einmal das Löwenpintscherchen von Dürers fehlt, das liebe dumme Viecherl, das dösig hier einem kleinen Oho von Hirschhornkäfer zuschaut. Und wie ist die heilige Geschichte selber erzählt! Der Storch bringt Herrn Joseph die neueste Meldung, die Hirten langen ungeduldig nach dem letzten Himmelsbericht, das Kind die Ärmchen nach Vater Joseph streckend, Maria mit einem Lieblingsbuch in der Hand.
In diesem einzigen Bilde mit seinem holden Gedräng, einem Bild, das wahrlich nur ein Deutscher geben konnte, sind Dürer die Augen aufgetan auch für das verborgene Sein. Es ist wunderlich, wie beide Welten sich mischen. Der Engel am Himmel hat etwas von einer Libelle, die Gruppe der Hirten von wimmelnden Insekten. Dagegen wirkt der Uhu im Gehäus, der Papagei auf dem Pfahl so stark persönlich, daß man meint, ihre Lebensgeschichte zu kennen. Siegfried, dem es ein plötzlicher Zauber gab, Zwiesprache zu halten mit den Vögeln, mag so die Welt gesehen haben.
Ein solches Sichversenken in die Welt des Kleinen und Kleinsten wäre Dürer in der seelischen Spannung vor 1500, als er Sinn nur hatte für das Heroische und Starke, nicht möglich gewesen. Das war ein Gnadengeschenk der neuen Zeit, war wie die Entdeckung eines unbekannten Erdteils. Mit seiner ganzen Künstlerliebe geht Dürer nun den unbetretenen Pfaden nach. Sie führen ihn zu jenen Klein- und Feinbeobachtungen, die von jeher wie etwas kaum Begreifliches bewundert wurden. In der Gruppe von Werken, die er da einsammelte, sind die beiden berühmtesten Stücke die Wasserfarbenbilder des Feldhasen und des sogenannten großen Rasenstücks (aus den Jahren 1502 und 1503, beide in der Albertina).
Was ist es, das unseren Blick immer wieder auf solche Blätter zurücklenkt? Hätte Dürer nichts anderes gewollt als den Augen ein Stück Natur vorzulügen, nach altem Apellesrezept Trauben zu malen, an denen die Vögel picken, dann hätte er Merkwürdigkeiten gegeben, die uns nur einmal, und nur flüchtig etwas sagen konnten. Das aber ist es nicht. Vor seinem Feldhasen, seinem Pintscherchen sind wir gewiß, daß das nur jemand geben konnte, der tierlieb war, der die Parteien tierischer Arten seelisch nicht gelten ließ. Und Fechners Weisheit, daß auch die Blumen Seele haben, daß jeder Halm sein ganz persönliches Leben lebt, ist einbeschlossen im großen Rasenstück. Die stille Weisheit der alten deutschen Mystiker, ihr All-Eins-Empfinden lebt auf im Dürer des jungen 16. Jahrhunderts.
Und nun noch das letzte: Dürers Begreifenlernen, »wie es der Materie zumute ist«. Wir haben aus der Zeit um 1504 den Kupferstich eines einfachen Wappens. Solche Wappen wurden oft in Auftrag gegeben und von den Künstlern schlecht und recht als Auftrag ausgeführt. Auch Dürers Holzschnittwerk hat ein paar Beispiele dafür. Hier aber hat Dürer ohne Auftrag ein solches Wappen nach eigener Laune zusammengestellt und mit dem Glücksgefühl des Schaffenden es durchgestaltet bis ins letzte. Was hat ihn dazu bewegen?
Es wird öfters betont, mit welcher Umsicht hier Dürer alle Möglichkeiten des Kupferstichs ausgenutzt habe, wie er das Metall des Helmes, das tangartige, Krautwerk, das weiche Gefieder des Hahns jedes für sich kennzeichnete und damit die Mittel seiner Kunst erweiterte. Aber was waren einem Dürer die bloßen Mittel! Ihm nur so weit folgen können, heißt jenes kunstblinde Gelehrtenurteil nachsprechen, das ihn einem Apelles gleichsetzte. Nicht äußerlich, sondern von innen heraus hat Dürer auch das Stoffliche gefühlt. Wie etwa Böcklin später einen granitenen Felsen geradezu bildnismäßig charakterisieren konnte, wie ein Zwintscher in verwandter Stimmung dem Geäder einer Marmorfläche nachging, so auch hat Dürer das Metall, das Ranken- und das Federwerk leibhaft gefühlt. Die Italiener empfanden es sehr wohl, daß hier eine Welt, ihnen selbst auf ewig verschlossen, entdeckt worden war. Vasari wußte, weshalb er beim großen Fortunablatt vor allem den Flügel der Göttin bewundernswert hielt.
»Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.« Es war ein Glücksfall für die deutsche Kunst, daß Dürer sich nicht ganz der Welt zu eigen gab, die ihm hier sein – im weitesten Sinne – religiöses Empfinden aufschloß. Ein Künstler, der dort völlig untertauchte, hätte das Augenmaß verlieren müssen für das Große. War nicht bei Dürer diese Gefahr damals bisweilen schon bemerkbar? Scheint nicht bei »Maria mit den vielen Tieren« die Gestalt der Mutter trotz aller Kenntnis des Italienischen wie ein Rückfall in gotische Zierlichkeit? Denken wir uns eine künstlerische Kraft wie die hier wirkende hineinversetzt in die klösterliche Abgeschiedenheit einer früheren Zeit, so scheint es fast sicher, daß die Klein- und Feinbeobachtung schließlich das letzte Große hätte überwuchern müssen. Dürer muß es selbst immer stärker empfunden haben, und aus diesem Triebe heraus stellte er seine Kunst nun wieder mehr auch in den Dienst der Welt.