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Mutig und ohne Hindernisse zu scheuen, ging der Marsch vorwärts, zuerst gen Westen. Man passierte schöne Täler, in denen fruchtbare, gut bestellte Ackerfelder, besonders Gerste, das Auge ebenso erfreuten, wie himmelanstrebende Tannen. Der Weg dort wies mannigfache, mächtige Burgbauten aus alter Zeit auf, die von Zeit zu Zeit über den Dörfern lagen. Auch burgartige Lamaklöster waren hier und da angelegt. Man war jetzt schon in Höhe von 4000-5000 Meter über dem indischen Tieflande, und als Schutz gegen die Volksmassen Indiens waren diese Hochburgen einst angelegt worden. Schon öffnete sich der Ausblick auf die südlich liegenden Gebirgsketten. Die Berechnung der Leiter des kühnen Unternehmens war richtig gewesen: man war dem Riesen in den Rücken gekommen und konnte nun von Nord nach Süd den Kampf wagen!
Schon gab es Gelegenheit, eine Anzahl besonders mutiger und geschickter Kulis in der Hochtouristik auszubilden. Sie lernten es, sich anzuseilen, über Abgründe zu springen, den Eispickel zu gebrauchen und am Sauerstoffapparate zu arbeiten, während die Augen an das Tragen der Schneebrille gewöhnt wurden.
Mit allem fanden sich die Kulis, die zu Anfang durchaus willig und fleißig erschienen und es auch zum großen Teile bis zum Schlüsse waren, ab und zurecht, nur an die Sauerstoffapparate wollten sie nicht recht heran.
Die »englische Luft«, wie sie den Sauerstoff nannten, sagte ihnen in keiner Weise zu. Es kam dies daher, daß sie entweder zu viel oder zu wenig von dem Sauerstoff einatmeten. Auch die ersten Erkrankungen kamen vor, und Dr. Zönlund bekam zu tun. Die Kulis aber, die an den Hokuspokus ihrer Lamas gewöhnt waren, wollten seine Heilmittel durchaus nicht einnehmen. Tejbirs Donnerstimme mußte erst einige Worte sprechen. Als dann die Leute merkten, daß die Pulver, Tabletten und Tropfen des Arztes ihnen doch halfen, bekamen sie allmählich Vertrauen zu ihm und seiner Kunst, und ließen sich seine Behandlung gefallen. Aber eine abergläubische Scheu hatten sie doch vor ihm und mit scheuen Blicken sahen sie ihn immer als eine Art Zauberer an.
Die Verpflegung war im allgemeinen sehr gut. Wild war in solchen Scharen vorhanden, daß einige Schüsse aus den Jägerbüchsen des Expeditionsführers stets für eine gute gedeckte Tafel sorgten.
An einigen der erwähnten Salzseen kam die Expedition vorüber. Später ging der Weg an dem sumpfigen Zuratal entlang, das schon 5000 Meter über der indischen Tiefebene liegt. Hier überfielen Scharen von Mücken die Expedition, wodurch besonders die beiden Ladys belästigt wurden, da sie bei ihren Meß- und photographischen Arbeiten weder Handschuhe noch Schleier tragen konnten. Aber als tapfre Kameradinnen erduldeten sie alles Ungemach ohne einen Laut der Klage. Selbst die Kulis bekamen vor diesem Heldenmute Achtung.
Einen seltsamen Anblick hatte die Expedition in Tinki Dsong. Es war dies eine hoch gelegene Felsfestung, neben der mächtige Klosterbauten sich ausdehnten. Am Fuße der Felswand, die all diese Gebäude trug, lag ein schöner See, auf dessen Spiegel zahlreiche Gänse und Enten ihr Wesen trieben. Ein Lama hatte die Tiere einst gezähmt und sie so an den Anblick der Menschen gewöhnt, daß sie schnatternd zu den Zelten der Engländer watschelten und die ihnen seltsamen Fremdlinge neugierig betrachteten.
Obwohl Russe und sein Stab wußten, daß der Brief des Dalai Lama einen Geheimbefehl an die Dschongpen zur Irreführung der Expedition enthielt, war bis jetzt noch keine Gelegenheit dazu gewesen.
General Russe, der an alles dachte und alles auf das Beste vorbereitet hatte, hatte seiner Umgebung gesagt:
»Wir werden nie nach dem Wege fragen. Wir wissen, daß wir jetzt nach Süden marschieren müssen. Unsere Topographinnen haben uns bis jetzt auf das Beste geführt. Ihnen vertrauen wir uns auch weiter an.«
Trotzdem mußte der Befehl des Dalai Lama, die Expedition mit hohen Ehren aufnehmen, überall hin bereits vorausgeeilt fein, denn die Dschongpen empfingen sie stets in Staatskleidung und mit Festessen, dem Tschang (Bier) und den Klößen in Pfefferbrühe.
Die Engländer konnten meist die Massen an Essen, die zu vertilgen ihnen zugemutet wurden, nicht bewältigen. So mußten denn Tejbir und Kjel helfen. Aber auch denen wurde die Sache zu viel, so daß Kjel einst zu Zönlund im Vertrauen sagte:
»Weitens, Herring, wenn wedder so olen upgeputzten Kirl mit sine Klümp ankümmt, und ick künn sei doch nich mihr eten, dann smit ick sei ehm an den Dätz!« –
In einer Wüstenfläche, die bald darauf zu passieren war und in der zahlreiche Landdünen lagen, mußten die Reisenden einen schweren Sturm erleben. Der Wind peitschte den Sand in gewaltigen Massen empor, so daß ein Weiterkommen nur möglich war unter Anwendung von Schutzbrillen, Tüchern um Mund und Nase und anderen Schutzmitteln.
Hinter der glücklich durchquerten Wüste wurde dann ein Lager geschlagen. Man stand hier an sehr wichtiger Stelle, denn dicht dabei fließen der Bong Tschu mit dem Putschung zusammen. Beide vereint strömen genau nach Süden und bohren sich durch die Massen des Himalaja, die wie eine Mauer quer davor hinziehen. Es war damit der Beweis davon gegeben, was General Russe anerkennend gesagt hatte: »Die Arbeiten der Ladys für die Festlegung des Weges sind unantastbar richtig.«
Und an diesem Abende sollten die tapferen Reisenden zum ersten Male den Riesen von Angesicht zu Angesicht schauen, zu dessen Bekämpfung sie ausgezogen waren.
Die Sonne war am Untergehen, der Sturm ließ nach, die vorher rotglänzenden Sandwolken verschwanden. Da tauchte vor den entzückten Europäern, hoch über den Wolken, allem Irdischen entrückt, ein wundervoll geformter Berggipfel auf: es war Tschomo-lugma, die heilige Göttermutter.
Anbetend lagen die Kulis an der Erde auf ihren Stirnen. Sie wagten es nicht, den Blick zu dem heiligen Berge zu erheben. –
Jetzt wußten die Leiter der Expedition, daß sie auf dem rechten Wege waren, und nun galt es, den Anstieg mit allen Mitteln durchzuführen.
Nach drei Tagemärschen wurde der wichtige Platz Schekar Dsong erreicht. Über ihm liegt auf mächtigem Fels eine Burg nebst gewaltigen Klosterbauten. Steile Felsterrassen türmen sich auf, auf denen die Bauten stehen.
Die Kulis bekamen jetzt einige Ruhetage, da ja nun die Zeit der großen Hochtouren mit ihren gewaltigen Anstrengungen immer näher heranrückte. Während der Ruhetage wurden einige Kletterübungen gemacht. Die Kulis fanden sich schneller in diese Arbeiten hinein, als die leitenden Herren dies erwartet halten. An einem der Nachmittage stiegen letztere, in Begleitung der Ladys und Kjels, den Berg hinan, um das Kloster zu besichtigen, da ihnen der Dschongpen viel Interessantes dort versprochen hatte.
In einem düsteren Raume stand eine 15 Meter hohe Buddhastatue. Das Gesicht war vergoldet. Um den Tempel herum, in dem der unheimliche Saal mit dem Buddha sich befand, standen 8 Statuen von gräßlichem Äußeren, unerklärbar, unverständlich in ihrer Bedeutung für die Europäer. Sie wirkten wie Tempelwächter.
Die größte Sehenswürdigkeit des Klosters war aber der Vorsteher des letzteren, oder, wie man bei uns sagen würde, der Abt. Seit 66 Jahren hatte er diese Stellung inne und genoß als Heiliger bei den Tibetanern die größte Verehrung. Nach langem Bitten der Damen, die durch seine Umgebung unterstützt wurden, gab er seine Einwilligung zu einer Aufnahme. Es wurden nun kostbare Seidenvorhänge hinter ihm befestigt. Er selbst legte herrliche Gewänder aus Goldbrokat an, und es wurde so für die Sammlung der Expedition ein überaus wertvolles Bild gewonnen.
Am Abende saßen die Europäer noch vor dem Zelte. Der Mond leuchtete und übergoß mit seinem Silberglanze das Lager und dessen Umgebung. Plötzlich wurden die Reit- und Tragtiere unruhig und gleich daraus stürzten die Tibetaner, die bei den Tieren die Wache hatten, schreiend mit dem Rufe heran: »Bären! Bären!« Dabei wiesen sie nach dem eingeseilten Platze hin, auf dem die Buckelochsen und Pferde angepflöckt standen.
Sofort griffen die Herren zu ihren Schußwaffen, die seit den Entdeckungen Zönlunds nach einem Geheimbefehle des Generals stets bereit standen. Auch die Damen, die als echte Engländerinnen mit der Handhabung der Feuerwaffen vollkommen vertraut waren, griffen zu ihren bereit stehenden Gewehren und eilten den Herren nach.
Am Lagerplatz der Tiere ward ihnen ein unerwarteter Anblick. Ein Buckelochse lag schwer verwundet mit großen Risswunden am Boden. Das Tier schien am Verenden. Über den Yak gebeugt stand ein mächtiger Himalajabär und leckte gierig das aus den gewaltigen Wunden seines Opfers triefende Blut. Die Yaks brüllten, die Pferde waren in größter Unruhe, Tejbir und Kjel waren schon dabei, letztere zu beruhigen.
Dicht aber an der Gruppe des geschlagenen Yaks und des an seinem Blute sich labenden Räubers spielte eine andere Szene sich ab, die die unerschrockenen Europäer wie ein Sportschauspiel fesselte. Der vom Blutrausche befangene Bär wurde durch einen Schuß aus Gervings nie fehlender Büchse erledigt, und ein Fangschuß Tejbirs befreite den Yak von seinen Todesqualen.
Nun aber galt es, dem Zweikampfe zuzuschauen, der vor den Augen der Expeditionsleiter sich abspielte. Als die beiden Bären – ein seltener Fall, da der Himalajabär nur ab und zu Herden anfällt – in die lagernden Tragtiere eingebrochen waren, war einer der stärksten Yaks zum wildesten Widerstande erwacht. Er hatte sich von seinem Pfahle losgerissen und war dem Bären entgegengestürzt. Wenn der Yak wild wird, so ist er ein nicht zu verachtender Gegner. Blutunterlaufen rollen die Augen, die Vorderfüße treten den Boden, so daß die Schollen knatternd davonfliegen, und, das riesige Haupt mit den scharfen Hörnern gesenkt, erwartet brüllend der Stier den Feind. Der Bär, ein nicht allzu großer Bursche, war doch auf den Yak losgegangen. Er hatte sich aufgerichtet und suchte, auf den Hintertatzen schreitend, in der bekannten Art des Bären mit den Vorderpranken den Gegner zu umarmen, ihn an sich zu drücken, und mit Zähnen und Krallen ihn zu zerfleischen.
Aber der Bär war an den Unrechten gekommen. Der Stier rannte mit voller Gewalt ihn an, gewann ihm die rechte Seite ab und bohrte seine beiden Hörner tief in die Flanke des Angreifers. Brüllend vor Schmerz und Wut packle der Bär das Haupt des Yaks. Er suchte seine fingerlangen Zähne in den mächtigen Kopf seines Feindes zu graben, aber sowohl das dichte Wollhaar wie die steinharten Schädelknochen des Yaks wiesen jeden Angriff des Bären zurück. Allerdings riß die rechte Tatze des Bären dem Jak ein Auge aus, so daß dieser vor Schmerz entsetzlich brüllte. Beide Kämpfer wälzten sich blutüberströmt an der Erde, der Bär suchte mit Zähnen und Krallen den Gegner zu zerfleischen, während der Yak immer aufs neue seine Hörner dem Räuber in den Leib bohrte. Jetzt war es dem Bären gelungen, dem Yak entsetzlich den Leib zu zerfleischen, so daß die Eingeweide aus der Wunde heraustraten. Schon wollte Gerving beiden Kämpfern mit einigen Schüssen den Rest geben, da geschah etwas Unerwartetes. Der Stier hatte sich der Umarmung des Bären entrungen. Jetzt holte er zu neuem Stoße aus und stieß dem Gegner mit solcher Gewalt die Hörner in den Leib, daß er tot niedersank. Als Sieger stand der Yak triumphierend auf der Leiche des Niedergeworfenen. Er trampelte mehrmals mit seinen Vorderhufen auf dem toten Gegner herum, grausig erklang sein Gebrüll, denn der Gegner hatte ihm außer dem Auge auch ein Stück der Zunge zerrissen. Dann knickte der tapfere Yak zusammen und stürzte hin: er lag als Leiche auf der seines Angreifers, den er getötet hatte.
Erschüttert standen die Zuschauer nach dem Schlusse des furchtbaren Dramas der Wildnis, das sich vor ihnen abgespielt hatte. Auch die Trag- und Reittiere standen wie betäubt an ihren Pfeilern.
Schweigend gingen die Europäer zu ihren Zelten, nur der Gurkha fuhr wie ein Gewitter unter die feigen Kulis, die vor den Bären schreiend ausgerissen waren. Allerdings bedachte er dabei nicht, daß die armen Kerle ja unbewaffnet und darum den Ungeheuern gegenüber, wehrlos waren. –
Am anderen Morgen brach die Expedition wieder auf und marschierte innerhalb zweier Tage nach Tingri, das ein bedeutender Handelsplatz ist und auf einer weiten Hochebene gelegen ist. Hier wurde zunächst ein Lager aufgeschlagen und der General und Kallory drangen mit zwölf Kulis vor, um das Vorland des Mount Everest zu erkunden. Die Kulis trugen Lebensmittel und Apparate, die Ausrüstung aller näherte sich schon der für Hochtouren.
Die im Lager bei Tingri zurückgebliebenen Kulis übten täglich unter Leitung der europäischen Herren, Tejbirs und Kjels sowohl mit den Sauerstoffapparaten, die wie Tornister auf dem Rücken getragen wurden und von denen Schlauchleitungen mit Masken nach dem Gesichte führten, an hochtouristischen Aufgaben. Auch hier lag wieder hoch über dem Orte auf Felsen die alte Burg. Sie über die Felsschroffen zu ersteigen, waren die immer sich steigernden Aufgaben. Es stellten sich aber zwei Übelstände hierbei heraus, die Gerving und Zönlund mit ernsten Sorgen erfüllten.
Viele von den Kulis waren für die Hochtouren eben schlechterdings nicht zu verwenden. War es angeborene Feigheit oder Körperschwäche, oder, wie Tejbir behauptete, böser Wille, genug, die Leute versagten schon in verhältnismäßig geringen Höhen und mußten umkehren. Dann aber zeigte es sich außerdem, daß die großen, in Berlin gekauften Sauerstoffapparate für die kleinen Mongolen zu schwer waren. Sie enthielten jeder vier Sauerstoffflaschen, mit deren Inhalt ein geübter Bergsteiger ja lange aushalten konnte. Die kleinen Kulis konnten aber diese Last, zu der noch ihre Trägerlast kam, nicht bewältigen, und nur der riesige Gurkha trug die mächtigen Apparate, als seien es Spielzeuge. –
Der General kam nach etwa acht Tagen zurück und erzählte, daß man bis zu ziemlicher Höhe mit den Yaks emporkäme. Sogar im Frühjahr würden über die Pässe, besonders über den Khombu La, noch nach Nepal hinunter, Karawanen von Yaks getrieben.
Er hielt über das von ihm Gesehene den Gefährten genauen Vortrag und schloß mit den Worten: »Übermorgen brechen wir auf. Wir kommen bald in die Gletscher hinein. Dort können wir nun auf den Moränen weiter aufwärts. Wir werden also dort ein Hauptlager schaffen, bei dem die Tragtiere und die großen Proviantvorräte zurückbleiben. Wir nehmen die Kulis mit, die ich auf meinem Vorstoße jetzt bei mir hatte, und dauernd werden uns Kulis folgen, die uns Proviant nachbringen. So werden wir allmählich ein Lager nach dem anderen verschieben, bis wir dem Riesen so nahe sind, daß wir, wohlausgerüstet den letzten Sturm wagen können! Das erste Lager bleibt hier.
Der Vormarsch ging weiter. Man passierte das reiche Dorf Zambu, das 3000 Bergochsen besitzt. Von dort eröffnet sich das Rongbuktal, das in gerade Richtung auf die Nordabstürze des Mount Everest hinzieht.
Hier beginnen die ungeheuren Gletscher, die aus Seitentälern kommen und schließlich, in den südlicheren Gebieten geschmolzen, die Abwässer des Riesen zum Arun leiten.
Es begannen die ersten großen Schwierigkeiten. Schon der Übergang über den Gletscherstrom dicht hinter dem Dorfe Zambu erforderte die ganze Geschicklichkeit der Expeditionsführer. Jenseits des Flusses stand ein einsames Klösterlein, Tschöbu mit Namen. Eine jämmerliche Holzbrücke, nur für Fußgänger zu benutzen, führte hinüber. So mußten denn die Lasten von den Kulis getragen werden, und die Jaks wurden durch das eisige Wasser des Gletscherstromes getrieben. Alles aber ging ohne Unfall ab.
Man machte bald Halt, und die photographischen Apparate der Damen traten in Tätigkeit.
»Bald werden Sie zu den Zeichenheften greifen, meine Damen,« sagte der Oberst, »denn wir müssen die Apparate schon im ersten Lager zurücklassen, da wir uns nur mit dem Nötigsten versehen dürfen.«
»Die geschickten Hände unserer Ladys,« meinte Zönlund, »werden sicher die großartigen Bilder der Hochnatur auf dem Papier festhalten.«
»Ei, Doktor Zönlund, Sie schmeicheln,« lächelte Alice Wildermoore und drohte dem Arzte mit dem Finger.
»Sehen Sie«, sagte jetzt der ernste Gerving, »der gewaltige Zauber des Tales, der uns hier umgibt. Es ist zu verstehen, daß die Eingeborenen diese geweihten Stätten des Friedens für heilig halten.«
Es lag auf diesem seltsamen Tale ein ungeheuer überwältigender Zauber. Mächtige Felsschroffen steigen aus dem ewigen Schnee hinunter bis an die Gletscherstromwasser, die in wilden Fluten daherbrausen. Weithin öffnet sich das Tal, als wäre es ein ungeheurer Tempel der Natur, der Allschöpferin und Allerhalterin, der Allmutter. Die Tibetaner hatten das Tal für heilig gehalten, und besonders lebten in diesem Bewußtsein die Mönche, die in einem großen Kloster dort wohnen. Hunderte von Einsiedlern und Einsiedlerinnen haben in Felsengrotten um das Kloster herum sich angesiedelt. Für sie ist das große Kämpfen um das Dasein, in dem wir anderen Erdbewohner alle uns plagen und in dem wir ringen müssen vom ersten bis zum letzten Atemzuge, nicht mehr vorhanden.
Hier herrscht der ewige, beruhigende, beglückende Frieden!
Der Frieden, den Richard Wagner im Parzival um die Burg Monsalvatsch uns in köstlicher Dichtung schildert, hier wird er zur Wahrheit.
Kein Tier wird in diesen dem ewigen All geweihten Gebieten getötet. Kein Lärm oder Streit ertönt, kein Schuß zerreißt mit gellendem Klange die Stille. Zahm nähern sich die Tiere, die in freier Wildbahn dort leben, dem Menschen und nehmen das Futter aus seiner Hand, nicht nur zu Tale gestiegene Bergschafe, sondern auch Tauben und andere Vögel, die im Tale nisteten.
Weiter drangen die kühnen Entdecker vor. Sie trafen jetzt im Verlaufe des Tales auf verlassene Dörfer. Scheu war die Bevölkerung geflüchtet. Hier schienen also die Geheimbefehle des Dalai Lama ihre Wirkung zu beginnen.
Zwei Wege konnten nach den Berechnungen der Expeditionsleiter zum Aufstieg auf die höchste Spitze des herrlichen Berges benutzt werden. Der eine ging durch das Kamatal, der andere strich über das Khartatal, die beiden vom Arun westwärts gegen die Mount-Everest-Gruppe emporstiegen.
Im Kamatale bot sich den Forschern, die dort zunächst den Anstieg versuchten, ein wundervoller Anblick dar. Aus den mächtigen Seitentälern und den jähen Abstürzen senkten sich die Hängegletscher, die zu dem ungeheuren Kangschunggletscher zusammenflossen. Die einzige Möglichkeit, die Gletscher zu passieren, war die Benutzung der Moränenzüge. Doch war dies immerhin gewagt, da ja niemand wissen konnte, wann die Moränen aufhörten, und damit das weitere Vordringen ein Ende hatte.
Übrigens änderte sich das Wetter. Schon hing über dem Kangschunggletscher ein riesiges Wolkenmeer, und nur der scharfe Schattenriß der obersten Spitze des Berges schaute darüber hinaus. Der Monsun setzte ein, und mit ihm gewaltige Regengüsse, die das Vorwärtsarbeiten außerordentlich erschwerten. Mächtige Waldbäume standen bis zur Monsungrenze und bewiesen, dass Jahr für Jahr die Wolken ihre Wassermassen hier entluden. Allen Unbilden der Witterung zum Trotz marschierten die Ladys immer weiter mit, kräftig, mutig, gute Kameraden des Generals und seines Stabes.
Bewundernd hingen oft Zönlunds Blicke an der schlanken Gestalt von Lady Alice, und immer wieder sagte er sich, daß er recht getan hatte, als er das Geheimnis der Verschwörung von Lhassa dem General meldete. Er wußte jetzt, daß er für die schöne, reine Engländerin jeden Augenblick sein Leben hergeben würde.
»Je, Herring,« meinte Kjel eines Tages, als die Regenschauer des Monsuns wieder auf die Karawanen niederpeitschten, »dat stiebt hier nicht slecht.«
»Jä, mien Sähn,« antwortete der Arzt, »wi loten uns Wind üm de Näs goahn.«
»Dat soll wohl sin«, schloß Kjel seine tiefsinnige Betrachtung.
Eine gewaltige Alpenpflanzenwelt tat sich dicht unterhalb des Kangschunggletschers auf. Die Bergblumen breiten wie ein gestickter Teppich sich aus, Lilien, Mohn und Rhododendren entzücken das Auge, darüber stehen schlanke Birken und Tannen. Ja, in 3500 Meter Höhe gedieh schon wieder die Gerste. Ungeheure Wachholderbäume, wie sie in gleicher Mächtigkeit nirgends sonst auf Erden vorkommen, wachsen dort: erst 18 Meter über der Erde erstrecken sich die Aste aus dem oft fast 6 Meter dicken Stamme.
»Durch das Kamatal kommen wir nicht hindurch«, entschied eines Abends nach schwerem Marsche General Russe. »Wir müssen den Angriff über das Khartatal versuchen.«
Alle Anwesenden waren damit einverstanden. Besonders aber waren sie froh, aus der Gegend, die man zuletzt durchquert hatte, herauszukommen, denn widerliche Blutegel in Massen fanden sich in den feuchten Wäldern und wurden zu einer gräßlichen Belästigung für die Europäer, während die mongolischen Kulis offenbar gar nicht unter ihnen zu leiden hatten.
Während der Haupttrupp ruhte, – die Lasttiere hatte der General unter Leitung des Gurkhas nach dem Tingri zurückgeschickt, wo das Hauptlager angelegt wurde, – stiegen Kallory und Gerving mit sechs der als Träger am besten ausgebildeten Kulis im Khartatale aufwärts. Regen und Schnee schlugen den kühnen Männern in das Gesicht, aber unentwegt drangen sie in die Gletscherwelt vor. Und dort stellten sie fest, daß in jenen Höhen ein Übergang über einen Eispaß, den Lhapka La, den Weg zum Fuße der Spitze des heiligen Berges eröffnete.
Gleichzeitig sahen sie, daß die letzte Spitze des Berges nur über drei Felsgrate zu ersteigen war, da sonst nach allen Seiten hin die ungeheuren Felswände jäh in die Tiefe abstürzten und jeden Aufstieg zur Unmöglichkeit machten.
Als sie von der Erkundungsfahrt zurückkehrten, war General Russe mit ihren Meldungen vollkommen einverstanden.
Der Angriff, der Endkampf, der Sieg über den Riesen mußte über einen der drei Grate erfochten werden. Der Süd- und Nordgrat konnten nicht erstiegen werden, da sie bei näherer Beobachtung durch das Fernrohr als zu steil sich erwiesen.
»So greifen wir denn von Nordosten an«, entschied General Russe. »Er beginnt im Firnschnee des östlichen Rongbukgletschers und ist zunächst völlig unbesteigbar bis zu einem Felsplateau, von der er teils in terrassenartigen Stufen, teils flach bis zum Gipfel steigt. Wie kommen wir aber zu jenem Felsplateau, jener Schulter hinaus?« So schloß er gedankenvoll fragend.
Da sprach Kallory freudig: »Gerving hat den Weg zum Ostfuße des Weges gesunden!«
»Wie?« fragten alle wie aus einem Munde.
»Von jener Schulter, wie der Herr General das Plateau zu nennen beliebten,« sprach bescheiden Gerving, »zieht in sanftem Bogen ein Seitengrad zu einem Joch, das Nordjoch oder Tschang La heißt. Letzteres trennt den Nordgipfel oder Tschang Tse vom Berge. Über dieses Joch und den Seitengrad kommen wir zu der Schulter.«
»Und damit besiegen wir den Riesen«, fiel Russe begeistert ein. »Ich erwarte morgen den Gurkha mit Trägern. Dann werden wir hier ein Lager anlegen und dringen weiter vor von hier bis etwa auf 6000 Meter Höhe im Khartatal. Dort, in seinem oberen Teile, wo noch Gras wächst und Blumen blühen, legen wir das zweite Lager an, und von da beginnt der Endkampf.«
Unter frohem Händeschütteln trennte man sich, um in den Zelten zu ruhen.
»Herr Doktor,« meinte Kjel, als er seinem Herrn beim Auskleiden behilflich war, »hewwen Sei ook all wat wirkt?«
»Jau,« erwiderte Zönlund, »die Mongolen moken männigein ganz dämliche Gesichter.«
»Jau«, führte Kjel fort, »un de Kirls stahn so vel tosammen und schmustern mi so vell Na, morgen kümmt jo ol Tejbir. Dei bringt se up den Swung! Ick paß höllschen up, Herring. Na, gute Nacht denn ok.«