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Ein düsterer, kalter Tag ging im Februar 1924 über der ungeheuren Steinwüste von London zu Ende. Die großen Schutzleute in ihren unkleidsamen blauen Filzhelmen traten von einem Fuße auf den anderen, wenn sie irgendwo auf Posten standen, und sie waren froh, wenn sie einmal einem ängstlichen Mütterchen, einem Knäbchen mit blaugefrorener Nase und Backen, oder einem Kriegsblinden mit seinem Hunde geleitend den Straßenübergang ermöglichen konnten. Kam doch dann durch die Bewegung das Blut etwas in Wallung. Die Kälte war stark, und der bekannte, dicke Londoner Nebel machte sie noch empfindlicher. Wie kleine Ölfunzeln schienen die sonst so stolzen Bogenlampen der Straßenbeleuchtung zu schwelen, und in dem dichten Nebelvorhang sahen die vier Reihen Omnibusse, von denen zwei rechts, zwei links die Straße hinauf- und hinabrollten, wie abenteuerliche Schiffe, von seltsamen Tieren gezogen, aus. Rastlos, ruhelos wogte der Straßenverkehr trotz alledem auf und nieder: der Pulsschlag des Weltstadtungeheuers ruht ja nie völlig.
Jetzt schlug es vom Bell Tower 7 Uhr: dröhnend rollten die Schläge durch den Nebel. Andere Uhren fielen ein, eine kurze Spanne Zeit hindurch summte und surrte, klimperte und bimmelte es in der Luft über dem Steinmeere, dann ging alles wieder seinen Gang.
Das Straßenbild wurde aber doch, man möchte sagen mit dem Schlage der Turmuhren, ein anderes. Aus dem Fußgängerwege der großen Verkehrsadern war bis dahin der Strom der Wanderer hin- und hergeflossen. Hie und da blieb einer stehen und sah sehnsüchtigen Auges die prachtvollen Auslagen der Fleischer, der Konditoren, der Kolonialwaren- und Weinhändler an, Paradiese, die nur ein goldener Schlüssel erschließt und die darum dem Armen stets versperrt sind. Manch armer Teufel in alten Lumpen, manch junges Mädchen im kurzen, dünnen Röckchen, ein Tüchelchen um die mageren Schultern geworfen, blickt sehnsüchtig nach den großen Häusern für Damen- und Herrenbekleidung. Eine Vogelscheuche kann diese Wunderheime betreten. Bringt sie das nötige Geld mit, so verläßt sie kurze Zeit danach als Lady oder Gentleman, begleitet von den sich verneigenden Clerks, den Zauberpalast.
Aber, als die Glocke sieben Uhr schlug, da verschwanden all die Herrlichkeiten mit einem Schlage. Rrrr – rollten die Läden herab, die Lichter erloschen, unmittelbar danach öffneten sich Seitenpforten, von hochmütig dreinschauenden, riesigen Pförtnern bewacht, und das Heer der Angestellten ergoß sich, einem brausenden Strome gleich, hinaus aus den prächtigen Arbeitsstätten auf die Straßen, so daß die Fußgängerflut dort hoch aufschwoll und unwillkürlich zu rascherem Tempo mitgerissen wurde. Die Theater, die vielen Vergnügungsstätten nahmen die flotte Jugend auf, während die älteren Angestellten mit der Würde, die den ehrbaren Kaufmann auszeichnen muß, im hohen, glänzenden Zylinderhute zum nächsten Bahnhofe der Untergrundbahn wandelten, von wo der elektrische Bahnzug sie schnell zum Vororte brachte, zum Heim, zur Familie, zur unantastbaren Ruhe des Engländers, die in dem wundervollen Worte sich ausdrückt: »Mein Haus ist meine Burg!«
Jetzt aber tauchten im Straßenbilde plötzlich Erscheinungen auf, Fahrzeuge, die so glänzend erleuchtet waren, daß ihre Prachtlaternen den Nebel durchdrangen. Entweder waren es Luxusautos, oder wunderschöne Wagen, mit herrlichen Pferden bespannt. Kutscher, Schofföre, begleitende Diener waren schöne, elegante Männer in prächtigster Kleidung. Der Inhalt der Fahrzeuge aber leuchtete von Gold, Diamanten, Spitzen und allen möglichen Farben: die Damen und Herren der vornehmen Londoner Gesellschaft fuhren zu ihren eleganten Abendunterhaltungen: in die Theater, Konzerte und Gesellschaften.
Wohl nirgends auf Erden sieht man so viele schöne Frauen- und Männererscheinungen zusammen, als in den obersten Schichten der Londoner Gesellschaft. Dazu kommt ein beispielloser Reichtum, den das weltbeherrschende Inselvolk seit Jahrhunderten aus allen Weltteilen zusammengetragen hat. Mit dessen Hilfe hat sich eine Feinheit der Lebensführung oder Kultur herausgebildet, die jeden, der unbefangen Blicke in sie werfen darf, unwillkürlich in ihren Bann zieht. –
Vor einem palastähnlichen Hause in der Regent-Street stauten sich die Fahrzeuge. Helleuchtend strahlten die Fenster des Oberstockes in den dunklen Abend hinaus, und der Flurraum unten, der den edlen Inhalt der Fuhrwerke zunächst aufnahm, leuchtete im Scheine von vielen elektrischen Lampen weit in das Dunkel hinein, wenn die mächtigen Tore unter dem Drucke der Hände der riesigen Pförtner sich öffneten, und wieder einige Damen und Herren aus einem Wagen heraus und in das Haus hinein schlüpften. Wie zarte Blüten, wie Schmetterlinge, wie Feengestalten schwebten die Damen dahin, geleitet von ihren ritterlichen Kavalieren, die ab und zu die prachtvollen Uniformen der englischen Garde-Regimenter, meist aber den Abendanzug der eleganten Londoner Welt, den Frack und Zubehör, trugen.
Drüben, jenseits der Straße, blickte manch Frierender und Hungernder, dessen Lumpen kaum seine Blöße deckten, hinüber zu denen, die auf den Höhen des Lebens zu wandeln schienen. Und doch waren unter den eleganten Frauen und vornehmen Männern genug, die keine Mühen und Gefahren, nicht Hunger und Durst, Hitze und Kälte scheuten, ja, die dem Tode ruhig in das grinsende Knochenantlitz schauten, wenn es dem großen Gedanken galt, der sie alle von Kindheit an beseelte und begeisterte, dem Ruhme und der Macht Alt-Englands, ihres geliebten Vaterlandes. –
Indessen ging die Auffahrt vor dem vornehmen Hause, es war das des Ministers des Innern, weiter. Wagen folgte auf Wagen, mit Hilfe der Schnelligkeit eines vorzüglich geschulten Personals spielte das Ganze sich reibungslos ab, und schon schwebten und schritten die Scharen der Geladenen aus der Vorhalle die breite, prachtvoll geschwungene Doppeltreppe empor zu den eigentlichen Gesellschaftsräumen. In moosweichem Treppenteppich versank der Fuß, auf jeder Stufe standen Diener in geschmackvoller, reicher Kleidung; auf dem obersten Absatze der Treppe rahmte diese ein Spalier von Mannen in Helm und Harnisch aus vergangenen Tagen, die blanke Wehr gezückt und gesenkt vor den vorbeiziehenden Gästen des Hauses, dessen alte Vornehmheit sie selbst in ihrem Äußeren darstellten.
Vom Treppenflur führten mächtige Flügeltüren in die eigentlichen Festsäle, deren Pracht nun den Rahmen bilden sollte zu der vornehmen Gesellschaft, die in die Räume einflutete und sie bald füllte.
Kostbare Vorhänge, alte, feine Spitzen umrahmten die Fenster, die Wände zierten im schweren Goldrahmen die farbenleuchtenden Werke erster Meister, in dunklem Palmengrün leuchteten die weißen Glieder köstlicher Marmorbildwerke, und die Kristallkronleuchter gossen aus Tausenden von Glühbirnen eine Lichtflut über das berückende Gesamtbild. Feinster Wohlgeruch von edlem Räucherwerk durchzog die Luft, und leise tönte, von Künstlern an verborgener Stelle ausgeführt, berauschende Musik.
Und die Lichtflut brach sich in sprühenden Strahlenbuketten in dem kostbaren Schmuck der Damen, die im Haar und an den duftigen Toiletten die Edelsteine aller Farben trugen, welche der Erdball für Alt-England hergab.
Der Minister stand mit seiner Gattin in der Mitte des zweiten Saales und begrüßte seine Gäste, die mit tiefen Verneigungen ihm nahten. Für jeden gab es ein verbindliches Wort, einen guten Händedruck für die Männer, einen zarten Handkuß für die Damen. Dann schritten die Gäste weiter in den nächsten, den großen Speisesaal, und dort waren die mächtigen Büfetts aufgestellt, die alle kostbaren Leckerbissen enthielten, welche die Erde, das Wasser und die Luft dem König der Schöpfung in so reichem Maße spendet. Neben der Artischocke duftete die Ananas, neben dem zarten Salate Südfrankreichs luden die zarte Teltower Rübe, der mächtige Spargel aus dem weißen Dünensande der Mark Brandenburg zum Genusse ein. Der gewaltige Ritter der Nordsee im glänzendroten Panzer, der Lobster (Hummer) schien die Offiziere in ihren gleichfarbigen Röcken zum Mahle zu rufen, Austern, Langusten, Lachs, Bekassinen, gefüllte Rebhühner, Trüffeln von Périgord dufteten und lockten, und als des Tisches Krone stand in gewaltiger Größe da, fest und unerschütterlich, Englands Nationalgericht, das einst ein König zum Ritter schlug, der riesige Rinderbraten. Was soll ich die Weine aufzählen, die in geschliffenen Karaffen auf den Tafeln funkeln, was die Liköre nennen, deren Duft schon berauschend wirkt. In herrlichen, goldgefaßten Gefäßen stehen eisgekühlte Bowlen, Limonaden, leichte Tafelwasser für die Damen bereit. Und wenn auch die Kavaliere für letztere dienend sorgen, so winden sich doch noch Dutzende von gewandten, bestgeschulten Dienern mit Tabletts durch die Menge, um jeden Wunsch sofort zu erfüllen.
Aber schon konnte ein aufmerksamer Beobachter sehen, wie der Speisesaal anfing, leerer zu werden: die Jugend drängte zur Krönung des Festes: zum Tanze. Der prachtvolle Tanzsaal, in dem hinter Blattpflanzenhecken eine Kapelle ihre lockenden Weisen erklingen ließ, bot reichlich Raum für den Reigen zahlreicher Paare. Wer je Gelegenheit hatte, dem Tanze auf vornehmen Bällen in England zuzuschauen, dem wird neben der natürlichen Grazie der Damen stets die außerordentliche Gewandtheit aufgefallen sein, mit der ganz besonders die Offiziere der schottischen Gardetruppen sich durch die zahlreichen Windungen und Figuren der Reigen schlingen. Große, schöne Leute, in der eigenartigen Tracht der Schotten, die den faltenreichen, kurzen Rock, Kilt genannt, an Stelle des europäischen Beinkleides bevorzugen, sind sie von Kind an gewandte Tänzer. Gilt doch im schottischen Hochlande Tanzen noch als eine Kunst, der auch der vornehme Adelssohn sich nicht zu schämen hat, sondern auf die er stolz ist.
Der Reigen ist beendet, und die erhitzten Tänzerinnen und Tänzer suchen den neben dem Tanzsaale sich erstreckenden Wintergarten auf, dessen Palmen eine europäische Berühmtheit bilden. Fontänen sprühen, Kaskaden, geheimnisvoll bunt beleuchtet, rauschen, unter den Tritten der Wandelnden knirscht schneeweißer, gesiebter Seesand, und ein Blumenflor in köstlicher Fülle zeigt, was des Gärtners pflegende Künstlerhand heute vermag. Gloxinien hängen träumerisch die feinen Köpfchen, purpurrot leuchten Granaten aus dunkelm Grün, die schneeweiße Kalla zeigt ihre köstliche Blüte mit dem langen, goldgelben Staubgefäße, und die Orchidee glänzt in abenteuerlichen Farben und Formen exotischer Wälder des fernen Ostens, während das Kind Englands, die zierliche Wicke, in allen Farben und überall ihre niedlichen Bubiköpfchen zeigt. An eleganten Tischen auf Sitzen aus Indien oder Birma, in zierlichen, lauschigen Lauben und Grotten ruhen die Tänzerpaare aus, und wieder bieten die gewandten Diener erlesene, kühle, gern genommene Erfrischungen.
An den Wintergarten schloß ein Raum an, der eine überglaste Straßenüberführung maskierte und wie ein Korridor den Kenner des Hauses in eine Anzahl Zimmer führte, die im Nebenhause lagen, aber jederzeit zu den großen Festen für die Gäste des Ministers geöffnet wurden.
Es waren dies eine Anzahl echt englischer, alter Gesellschaftsräume, wie sie im lustigen, alten England zum Leben gehörten, und wie man sie, außer in vornehmen Häusern noch heute hie und da in alten Gasthäusern in kleinen Städten abseits der großen Schienenwege und Automobilstraßen trifft. Mit Holz sind sie getäfelt, dessen Farbe vom Alter dunkelbraun gefärbt ist, ehrwürdige Porträts von Helden, Darstellungen verschollener Seeschlachten zieren die Wände, auf Simsen stehen alte Delfter Teller und Zinnkrüge, durch die im Laufe der Jahre ganze Schleusenbassins voll Porter und Ale, von Punsch und Flip geflossen sind. Wuchtig sind Tische und Stühle, gemütlich das Kaminfeuer, und ruhig geht die Unterhaltung ihren Gang.
In diese historischen Trinkstuben im Ministerhause hatten sich zahlreiche Herren zurückgezogen, die nach gutem Essen vom Tanze nicht mehr viel hielten, und bei Portwein und Sherry sowie den edlen Bieren Englands ihre kurzen Shagpfeifen rauchten. Sie trugen dazu ihre Smokings oder Rauchjacken, die die Diener bereits in der Garderobe abgegeben hatten, und die sie für die Zeit des Aufenthaltes in den Rauchzimmern mit den Fracks vertauschten. Kehrten die Kavaliere zu den Damen zurück, so wechselten sie wieder das Oberkleid und trugen so nicht den Rauchgeruch in die Zimmer der Ladys.
Diese »Rauchjacken« trägt die deutsche Jugend jetzt als Feierkleid! –
An einem Tische allein hatten zwei Herren Platz genommen, denen man die Dienstzeit in Indien sofort ansah. Schlanke, hohe, sehnige Gestalten trugen feingeschnittene, schmale Köpfe, deren stahlblaue Augen den echten Herrenblick zeigten, wie ihn die Europäer nur in jahrelangem Verkehre mit den unterworfenen Eingeborenen fremder Länder bekommt. Vor den beiden Herren stand eine geschliffene Karaffe, in der goldroter, alter, edler Portwein duftete, und, während zwischen den blanken, wohlgepflegten Zähnen die Pfeifen fein duftenden Dampf emporkräuseln ließen, goß der eine der Herren die geschliffenen Kristallgläser voll.
»Zum Wohle, Gerving«, sprach er, indem er leise mit seinem Glase das des anderen berührte.
»Und besonders das Ihre, lieber Kallory«, erwiderte Gerving und schüttelte nach herzhaftem Trunke mit kräftiger Hand die muskulöse Rechte des Freundes. Wer die beiden prächtigen Menschen beobachtete, mußte seine Freude an ihrem Äußeren nicht nur, sondern auch an der Herzlichkeit haben, mit der sie sich freundschaftlich gegenüberstanden.
Tatsächlich hatten beide zusammen vielerlei durchgemacht. Oft hatten sie dem Tode in das Auge gesehen, und das Wort Gefahr bestand für sie nicht mehr. Sie hatten in Indien gekämpft, sie waren in den flandrischen Schützengräben im Weltkriege mit den heldenhaften deutschen Soldaten handgemein geworden, aber mit Ausnahme einiger Schrammen und leichter Verwundungen waren sie glücklich durch alle Gefechte hindurchgekommen.
Gerving und Kallory entstammten alten, begüterten Familien des Inselreiches, und ihre Herzen hingen mit allen Fasern und Schlägen an der Größe ihres geliebten Vaterlandes. Ihm zu dienen war ihnen Ehre und Freude, Stolz und Lust. Wie alle Engländer trieben sie naturgemäß mit Ernst und Eifer Sport. Doch hatten sie, schon in Indien, sich einer besonders gefahrvollen Sportart gewidmet, nämlich der Hochtouristik. Beide Freunde waren Bergsteiger allerersten Ranges.
»Wissen Sie, Gerving,« begann Kallory nach einer kurzen Pause, »mir geht seit einiger Zeit etwas im Kopfe herum, das ich nicht mehr abschütteln kann. Ich muß Sie da einmal bitten, mich anzuhören.«
»Jeden Augenblick schenke ich Ihnen meine Aufmerksamkeit,« erwiderte Gerving, »wir haben jetzt die beste Zeit. Also, erzählen, was Sie bedrückt.«
Kallory tat noch einige kräftige Züge aus seiner Pfeife, stärkte sich durch einen Schluck aus seinem Glase und begann dann:
»Sie wissen, wie wichtig Tibet für unsere gesamte Herrschaft in Indien geworden ist. Die Stunde muß kommen, in der es sich zeigt, ob der russische, der chinesische oder unser Einfluß sich dort durchgesetzt. Ich brauche es Ihnen auch nicht zu erzählen, wie die Stimmung bei den Eingeborenen in Indien ist. Ich habe bei den Gurkhas in unseren Schützengräben manches Wort erlauscht, das mir zu denken gab. Die Befreiungsidee, auch durch ausländische Agenten genährt, gewinnt immer mehr an Einfluß und Macht. Dazu kommt, daß seit allerneuster Zeit in dem uns benachbarten Afghanistan der deutsche Einfluß sich außerordentlich geltend macht.«
Als Gerving den Freund erstaunt ansah, fuhr dieser mit besonderem Nachdruck fort: »Ja, verlassen Sie sich auf das, was ich sage. Deutschland hat sich viel schneller erholt, als wir alle dachten. Und wenn es auch als militärische Macht zunächst nichts zu bedeuten hat, wenn auch seine Finanzverhältnisse höchst ungünstig sind, so ist es doch als Geistesmacht schon wieder führend. Hunderte von jungen Afghanen werden auf der staatlichen Bildungsanstalt in Lichterfelde bei Berlin in deutscher Manier erzogen und gedrillt. Ingenieure, Ärzte, Lehrer gehen zu Dutzenden nach Afghanistan von Deutschland, und wenn wir dem noch einige Jahre tatenlos zusehen, so haben wir an den Toren Indiens einen Nachbarn stehen, der uns vielleicht recht unbequem werden kann.«
»Sie haben vollkommen Recht«, fuhr Gerving empor. »Ich begreife nur nicht, weshalb unsere Regierung dem Treiben so tatlos zusieht.«
»Ja, unsere Regierung«, sprach Kallory langsam und gedehnt. »Die ruht zunächst auf dem Lorbeer, den sie im Weltkriege pflückte. Dann sind hier auch im alten Vaterlande selbst so einige Fragen, die beantwortet werden müssen: ich erinnere Sie an die Arbeiter, die Iren, die Erwerbslosen und noch dies und das. Und es ist ja eine Eigenart der Regierung unseres stolzen Vaterlandes, bei allen großen Erschütterungen des Reiches zunächst die Dinge ihren Lauf gehen zu lassen, mit ungenügende Mitteln sie zu bessern zu suchen, und erst, wenn schwerste Gefahr droht, fest zuzupacken. So war es im Krimkriege, im Sepoy-Aufstande in Indien, bei der Niederwerfung der Buren 1900, und sogar zu Anfang im Weltkriege.«
Während Kallory diese Worte sprach, nickte ihm Gerving beistimmend zu und sprach dann sehr ernst:
»Wollen Sie sich in einer Denkschrift an die Regierung wenden?«
»Ich habe daran gedacht«, erwiderte Kallory, »bin aber davon wieder zurückgekommen. »Ich habe einen anderen Plan, und an dem könnten wir beide tätig mitwirken.«
»Und dies wäre?« fragte der Freund erstaunt.
»Sie wissen, welche Rolle geographisch und auch seiner Lage nach als Schutzwehr für Indien der Himalaja spielt. Von ihm stiegen einst vor Jahrtausenden die Arya (Arier oder Herren) hinab und unterjochten die Dravidas, die Ureinwohner des Wunderlandes. Dann aber kommen im Laufe der Jahrtausende immer neue Völkerwellen, von Westen her anbrausend, über Afghanistan in Indien eindringend, eine die andere überflutend, verschlingend, unterdrückend. Schon Assyrer, Meder und Perser fluteten in Indien ein. Dann führte der Götterliebling, Alexander der Große, seine Griechen bis zum Indus. Zum ersten Male sah er dort Pfauen, und die Schönheit der entzückenden Tiere rührte ihn so, daß er seinen Soldaten verbot, eins der herrlichen Geschöpfe zu töten. Die griechische Welle fließt wieder ab, nach Westen zurück. Alexander stirbt, sein Weltreich zerfällt. Um 1000 nach Christi Geburt kommt dann die mohammedanische Überschwemmung; mit Feuer und Schwert wird die Lehre des Kaufmanns aus Mekka verbreitet. Die alten, seltsamen Tempel der Brahmanen, Buddhisten, Hindus überwuchert der Dschungel, Moscheen wölben ihre Kuppeln, neben ihnen schallt vom schlanken Minaret der Gebetsruf des Muezzin, und seine melodische Stimme verkündet: »Es ist nur ein Gott, und Muhammed ist sein Prophet!«
Dann drängen im 14. Jahrhundert die Tatarenmassen ein: Dschingis Khan, Timur sind die Namen jener Blutzeiten. Akbar, der mächtigste Herrscher, der je einen indischen Thron besaß, regiert, die märchenhafte Zeit der Großmogule bricht an. Jetzt erheben sich die Marmor- und Alabasterpaläste und -gräber der Fürsten und Fürstinnen, die noch heute als Wunder der Baukunst uns entzücken. Aber auch das Reich der Mogule zerfällt, und 1857 jagt den letzten aus der Reihe einst glanzvoller Herrscher ein Offizier unserer Armee von seinem Throne. Denn in der Neuzeit hatten die Europäer immer begehrlicher ihre Blicke auf Indien gelenkt, besonders, seitdem der Portugiese Vasco de Gama den lange gesuchten Seeweg nach Ostindien um das Kap der guten Hoffnung entdeckt hatte. Was konnten aber Venetier, Holländer, Portugiesen, Franzosen leisten? Wir kamen und wir halten Indien als kostbarste Perle in der Krone des großbritannischen Weltreiches!«
Begeistert hat Kallory gesprochen, und mit leuchtenden Augen sah Gerving in das schöne Gesicht des Freundes, dessen edle Züge im Lichte erhabenster Gedanken glänzten.
»Bitte weiter«, drängte Gerving, nachdem Kallory sich durch einen Trunk gestärkt hatte.
»Nun geben Sie Achtung,« sprach der Angeredete, »denn jetzt kommt mein eigentlicher Plan. Der höchste Gipfel des Himalaja ist nicht der Gaurisankar, sondern, wie er jetzt allgemein genannt wird, der Mount Everest. Er ist noch nicht restlos geographisch, geologisch, kurz, allgemein gesagt, wissenschaftlich erforscht. Eine ganze Reihe von Expeditionen haben es versucht, den Riesen im Kampfe niederzuzwingen. Vor allen hat der kühne Oberst Russe die Besteigung organisiert und geführt. Mein Plan geht nun dahin: Oberst Russe muß eine neue Expedition zusammenbringen, der wir uns anschließen. Tibet wird dabei durchzogen und in unsere Machtsphäre gebracht. Und den letzten Gipfel des Berges zwingen wir beide als Bergsteiger, als Hochtouristen!«
Gerving stieß mit dem Freunde klingend an. Beide prächtigen Menschen waren von ihrem Sitze aufgestanden und schüttelten sich die Hände, während aus ihren Augen Blitze des Mutes und der Entschlossenheit sprühten.
Unwillkürlich waren die Herren an den nächsten Tischen auf die beiden Freunde aufmerksam geworden, denn, wie stets in der guten Gesellschaft, kannte jeder den anderen. Und Gerving und Kallory galten außerdem beide als geradezu unzertrennlich. Scherzhaft nannte man sie bisweilen »die Zwillinge«.
Während beide noch froh erregt sich gegenüber standen, trat plötzlich ein älterer Herr in das Zimmer, dem auch jeder Unbekannte den alten, vornehmen, gefahrgewohnten Offizier ansah. Kurzgeschnittenes, eisengraues Haar bedeckte den Kopf, dessen mächtige, energische Stirn wie aus Bronze herausgemeißelt erschien. Die Augen, die von buschigen Brauen verdeckt waren, lagen wie lauernde Löwen in ihren Höhlen, hakenförmig sprang die Nase energisch hervor, der Mund schien an das Befehlen gewöhnt zu sein, das bewies der ungewöhnlich energische Ausdruck, der ihn umspielte, dem auch das kurze, kräftige Kinn entsprach. Dieser interessante, sofort die Aufmerksamkeit auf sich lenkende Kopf krönte einen herkulisch gebauten Körper, auf dessen mächtigen Schultern er mit verhältnismäßig kurzem Halse aufsaß. Aber die Arme und Beine des Mannes, seine Beweglichkeit bei großer innerer Ruhe bewiesen doch, daß eine geradezu herkulische Kraft in diesem Körper ruhen mußte.
Der Herr, der die Oberstuniform der indischen Pioniere, scharlachroten Waffenrock mit dunkelblauem Sammetkragen und Aufschlägen trug, sah sich ruhig im Zimmer um. Dann leuchteten seine Augen auf, und er schritt auf die beiden Freunde, sichtlich froh erregt, zu und begrüßte sie mit den Worten:
»Ah, Gerving und Kallory! Und so freudig erregt, ihr beiden Unzertrennlichen? Habt ihr wieder etwas vor? Ich bitte, Platz nehmen zu dürfen.«
Mit den Worten: »Guten Abend, Oberst Russe, eine große Ehre für uns«, hatte Gerving für den nötigen Platz gesorgt, während Kallory einem Lakaien ein Glas abnahm und letzteres für den Obersten füllte.
Oberst Russe dankte, stieß mit den Herren an und sagte dann: »Nun, darf man wissen, was Sie beide so erregte?«
Auf ein Zeichen Gervings erzählte Kallory kurz den Plan, den sie zur Besiegung des Bergriesen gefaßt hatten. Mit immer größerer Aufmerksamkeit hörte Oberst Russe den Darstellungen zu, bis er am Ende von Kallorys Vortrag aufsprang und mit kräftiger Stimme rief: »Das ist ein Plan, wie wir ihn jetzt brauchen; er ist unseres großen und erhabenen Vaterlandes wahrlich würdig. Er wird ausgeführt, dafür stehe ich ein, Oberst Russe. Die Welt soll einmal wieder sehen, was Altengland leisten kann!«
Der Oberst hatte so kräftig und vernehmbar gesprochen, daß ihn die Herren an den nächsten Tischen gehört hatten. Sie waren aufgesprungen und umringten jetzt fragend den Obersten, der ihnen ruhig und sachlich Kallorys Plan auseinandersetzte. War doch Oberst Russe selbst schon bei Expeditionen beteiligt gewesen, die dem Mount Everest gegolten hatten. In diesen Kreisen war das jedem bekannt, und so wurde den Darstellungen des Obersten mit begeisterten Rufen geantwortet. Mehr und mehr Gäste traten in die Zimmer. Plötzlich stand der Minister, der Herr des Hauses, unter ihnen, denn wie ein Lauffeuer hatte sich unter den Gästen die Nachricht von dem Geschehenen verbreitet.
Freundlich lächelnd verneigte sich der hohe Beamte zu den Herren und sprach dann:
»Lieber Oberst Russe! Ich betrachte es als ein sehr günstiges Vorzeichen, daß der bewundernswerte Plan der Herren in meinem Hause so zu sagen das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. Als schlichter Privatmann zeichne ich für die große Sache zunächst 1000 Pfund. Als Beamter der Regierung glaube ich sagen zu können, daß letztere nicht nur das ganze Unternehmen fördern, sondern weiterhin tatkräftig unterstützen wird. Ich schlage vor, wir legen sofort eine Einzeichnungsliste auf, Oberst Russe wird ihr vorläufiger Führer und Verwalter, und morgen wird in amtlicher Sitzung der geographischen Gesellschaft, der natürlich auch Regierungsvertreter beiwohnen werden, das Ganze offiziell besprochen und unverzüglich mit den Vorbereitungen zu dem wahrhaft nationalen und vaterländischen Unternehmen begonnen. Es lebe der König! Es lebe England!«
Brausender Beifallssturm umtobte den Minister, jubelnd fielen alle Anwesenden in die Huldigungsworte ein. Die Musik spielte die Nationalhymne, und wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht von dem Geschehenen durch die Festräume verbreitet. Von allen Seilen strömten Herren und Damen herbei, und Oberst Russe hatte mit seinen Helfern Gerving und Kallory reichlich zu tun, um nur die zahlreichen Schecks und Banknoten zu buchen, welche die Herren zur Verfügung stellten. Viele Damen aber nestelten – eine schöne, altenglische Sitte – sich Schmucksachen ab und legten sie zu dem großen Unternehmen nieder.
Noch lange wogte die Gesellschaft in den prachtvollen Festsälen auf und nieder, Damen und Herren in begeistert gehobener Stimmung über das geplante, große Unternehmen. Erst spät trennte man sich. Als die ersten Equipagen und Kutschen über den Asphalt huschten, erschienen schon die Laufburschen aus den Zeitungen und verteilten Extrablätter über das geplante, große Unternehmen mit der Überschrift: »Ein Kampf mit dem Riesen«.