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Zwei Nächte hatte die Expedition schon biwakiert. Die Zelte und Schlafsäcke hatten sich vortrefflich bewährt, und die Ladys waren in der freien Zeit eifrig bei der Arbeit.
Sie entwickelten die gewonnenen photographischen Aufnahmen, übten sich an den Vermessungsinstrumenten und führten unter Kallorys Anweisung die Tagebücher der Expedition. Gerving saß bei dem General über den Karten, die von früheren Expeditionen gewonnen waren und stellte Messungen und Berechnungen an, wo in den Hochregionen die Lager als Stützpunkte für die Hochtouristen aufzuschlagen seien.
Der Gurkha hatte auf Befehl des Generals verschiedene Tibetaner aus den Trägern heraussuchen müssen, die schon an Expeditionen teilgenommen hatten. Gerving, der des Tibetanischen ziemlich mächtig war, befragte sie über dies und jenes, und die kleinen, gelben Kerle mit ihren Mongolengesichtern gaben eifrig Auskunft.
Am Nachmittag ward dem Lager auch ein Besuch. Der Vorsteher eines Dorfes erschien, in feingestickte, farbige Seidengewänder gehüllt und machte seine Aufwartung. Hühner, Tauben, ein Zwergschwein und Früchte, alles mit Blumen bekränzt, brachte er mit. Er wurde mit Tee und Zigaretten bewirtet und hatte immer neue Worte der Bewunderung für die »Frauen«.
Diese baten ihn, sich photographieren zu lassen. Er hatte kein rechtes Zutrauen zu der Sache, bis Tejbir ein kräftiges Wort sprach.
Nun hielt er still. Die Ladys entwickelten sofort die Platte, machten einige Abzüge, was bei ihren vorzüglichen Apparaten und der Tropensonne sehr schnell ging, und nun kannte die Freude des Mannes, als er sein Bild erkannte, keine Grenzen. Er war geradezu außer sich vor Freude. Als ihm dann noch der General eine schöne Houkha schenkte, war er wohl der glücklichste Mensch in ganz Nepal. Mit tausend Bücklingen und Dankesworten verabschiedete er sich und verließ, stolz wie ein König, das Lager.
Der General ließ heute eine Stunde eher als sonst das Ruhesignal, den englischen Zapfenstreich blasen, denn schwere Tage standen bevor.
Morgen ging es in das Dschungel.
Sehr früh brach die Expedition am nächsten Tage auf. Die Wegrichtung änderte sich jetzt nach Norden, denn es mußte ein Paß durchquert werden, der die Expedition nach Tibet, das heißt auf die Nordseite des Himalajagebirges führte. Durch das geheimnisvolle Land des Dalai Lama, des Herrschers von Tibet, sollte dann der Marsch wieder nach Westen gehen, also etwa mit linksum, wie wir sagen. Und von dort mußte, also von Norden her, der Aufstieg auf den Mount Everest durchgeführt werden. Das Gelände senkte sich zunächst. Man kam aus den mittleren Berghöhen hinunter und etwa wieder in tausend Meter Meereshöhe hinein. Sofort änderte sich das gesamte Landschaftsbild. Die Abwässer, die von den Bergen hinunterstürzten und später die Quellflüsse des Brahmaputra bildeten, versumpften an vielen Stellen. Und aus ihnen wuchs eine ungeheure Vegetation heraus, die die durchreisenden Europäer, denen zum ersten Male die Macht des tropischen Wachsens vor Augen trat, in Staunen und Bewunderung versetzte. Bisweilen führte der Weg dicht an mächtigen Felsen vorbei, von denen prachtvolle Gießbäche rauschend und brausend herabstürzten. Dann wieder strebten Baumriesen zum Himmel empor, umrankt von mächtigen Kletterpflanzen, die mit Millionen farbiger Blüten leuchteten. Eine köstlich gefiederte Vogelwelt entzückte das Auge, und Scharen von Affen verschiedenster Art schlüpften schreiend auf den Baumästen entlang. Im Sumpfe aber hauste, gefürchtet und gehaßt, die scheußliche Panzerechse, das Krokodil. Von den Bäumen hingen riesige Blutegel herab, eine schwere Belästigung für Mensch und Tier; Käfer surrten und brummten durch die Luft von einer Größe, wie sie der Bewohner gemäßigter Länder nicht ahnt. Ameisenheere begegneten, im geschlossenen Zuge marschierend, einander und fielen sofort zum Kampfe auf Leben und Tod über einander her. Widerliche Tausendfüße, meterlang, krochen am Wege: überall herrschte ein ungeheures, überquellendes Leben.
Man war im Dschungel.
Tapfer hielten die beiden Ladys alle Strapazen aus. Die brütende Hitze, die über dem Dschungel liegt und das tausendfältige Leben in ihm entfacht, wurde mutig von ihnen als etwas Selbstverständliches hingenommen. Auch über die vielen Belästigungen durch die Insekten verloren sie kein Wort der Klage. An verschiedenen Stellen mußte abgesessen werden, da der Boden so sumpfig wurde, daß er Reiter nicht mehr trug. Tapfer wie die Männer schritten sie mit, ihre Rosse am Zügel führend. Nur ihre photographischen Apparate waren fortwährend in Tätigkeit, wo nur ein fesselndes, interessantes Bild sich bot.
Die Biwaks spielten sich in gewohnter Weise ab, nur mußte im Dschungel ein Apparat zur Trinkwasserbereitung in Tätigkeit treten, da das Wasser Krankheitskeime sicher enthielt. Der Apparat arbeitete vorzüglich und lieferte stets schon nach kurzer Frist gutes, einwandfreies Wasser. Nur vor den vielen Schlangen, die das Dschungel bevölkern, mußte jeder auf seiner Hut sein. Nach dem Vorfalle, bei dem der Träger gebissen war, hatte der Gurkha durch die Führer nochmals die Leute, wie es Russe befohlen hatte, gemahnt und zur größten Vorsicht angetrieben, und es war auch jeder den Ermahnungen gefolgt. Von vielen der Leute wurde Dr. Zönlund geradezu als ein Zauberer angesehen, der von ihm geheilte Muhamedaner Sidi Abdallah aber trug ihm eine geradezu göttliche Verehrung entgegen. Wenn er nur irgend eine Aufmerksamkeit ihm an den Augen absehen konnte, so eilte der brave Mensch und suchte seinem Retter seine Ergebenheit zu beweisen. Er hatte gesehen, daß Zönlund seine Aufmerksamkeit auf seltsame Tiere, Pflanzen und Steine lenkte. Und trotz der Last, die er trug, nahm er jede Gelegenheit wahr, derartige Dinge auf dem Marsche aufzuheben oder an sich zu bringen und sie am Lagerplatze mit vielen Verbeugungen dem Arzte zu überreichen. Die Anhänglichkeit des braven Burschen war der schönste Lohn für den Doktor. –
Nun war der letzte Abend im Dschungel. General Russe hoffte am anderen Morgen nach einigen Marschstunden das Dschungel verlassen und dann durch den allmählich steigenden Paß in Tibet einmarschieren zu können.
Als Lagerplatz hatte der Gurkha, der jetzt immer den Posten eines Quartiermeisters ausgefüllt hatte, einen Platz ausgesucht, der den zum ersten Male das Dschungel bereisenden Europäern seltsam vorkam. Er war fast kreisrund. Keine Pflanze wuchs auf ihm, und der Boden war festgestampft, wie eine Tenne.
Mit der täglich durch die Übung wachsenden Gewandtheit der Expeditionsmitglieder war das Lager eingerichtet. Die Damen hatten ein sehr bequemes Zelt, das naturgemäß stets in einer Entfernung von 50 Meter von denen der Herren aufgeschlagen wurde. Russe schlief mit seinen Offizieren zusammen in einem größeren, Zönlund für sich allein in einem kleinen Zelte. Kjel und Tejbir bauten sich meist, wie viele der Träger, aus Zweigen eine Hütte. Auf dem freien Raume zwischen den Zelten wurden die Mahlzeiten eingenommen und unter großen Sonnenschirmen die wissenschaftlichen Arbeiten ausgeführt. Heute hatte Zönlund viel zu tun, und die Ladys gingen ihm eifrig zur Hand, während die anderen Herren ausgegangen waren, um noch etwas Wildpret zu schießen. Fröhlich knallten ihre Büchsen, während der Doktor mit seinen eifrigen Helferinnen mikroskopische Präparate anfertigte, interessante Tiere in Konservierungsflüssigkeiten brachte, und seltene Pflanzen für sein Herbarium herrichtete. Die Sammlung der Expedition wurde immer reichhaltiger und schöner.
So schwanden in der fesselnden, naturwissenschaftlichen Arbeit die Stunden, und dann ging es zur Tafel, die heute mit besonders leckeren Gerichten besetzt war. Diana war ihren Jüngern hold gewesen, und Sidi Abdallah hatte köstliche Früchte und prachtvolle Blumen gebracht.
Man saß beim Tee. Es war Nacht, und die Stimmen des Dschungels, das Schreien der Affen, das Heulen der Schakale und die vielen Laute der Vögel verstummten allmählich. Nur die Feuer flammten im Lager, an denen die Träger ruhten.
»Sagen Sie, General,« fragte plötzlich Lady Alice, »was ist das nur für ein seltsamer Platz, auf dem wir heute lagern. Er sieht doch geradezu aus, als sei er von Menschen bearbeitet.«
»Wir haben schon«, fiel Lady Heresford ein, »Doktor Zönlund befragt, der uns keine Auskunft geben konnte. Unteroffizier Tejbir, an den ich mich wendete, machte ein verlegenes Gesicht und wollte nicht, wie mir schien, mit der Sprache heraus. Können Sie uns eine Auskunft geben?«
Der General stieß einige Dampfwolken aus seiner Pfeife, sah seine Offiziere an und sprach dann: »Ja, meine Herrschaften, da stehen wir wieder vor einem der vielen Rätsel, wie sie Indien uns Europäern aufgibt. Man findet solche Plätze bisweilen im Dschungel. Die Inder nennen sie »Tanzplätze der Elefanten«.
Kallory und Gerving nickten schweigend, während die anderen erstaunt ausriefen »Wie – –«
Doch der General fiel ihnen norwegisch in das Wort: »Vorsicht! Ich werde norwegisch sprechen. Der Inder ist ergeben seinem Herrn, wie Gold, nur in einem Dinge versteht er keinen Spaß, das sind seine Geheimnisse. Ich sprach zu Ihnen ja schon vom indischen Aberglauben, wie wir es nennen. Vielleicht ist mehr Wahres daran, als wir denken.«
Er machte eine kurze Pause, während die Zuhörer schweigend an seinen Lippen hingen. Dann fuhr er fort: »Viele indische Stämme halten den Elefanten für das klügste Geschöpf des Weltalls, ja, für weiser und allwissender als den Menschen. Nun glauben sie, daß von Zeit zu Zeit Hunderte von Elefanten nachts zusammenkommen. In eng gedrängter Masse treten sie allen Pflanzenwuchs nieder und stampfen, sich hin und her wiegend den Boden. Erst die aufgehende Sonne scheucht die Riesen der Tierwelt auseinander. Zurück bleibt der festgerammte Tanzplatz.«
Schweigend saßen die Damen und Herren da; dann gab Russe dem Gurkha noch einige Befehle, und die Herrschaften suchten die Zelte auf. –
Am Himmel stand nur eine Mondsichel. Still war die Tropennacht, Ruhe herrschte im Lager. Es war etwa Mitternacht, und schon neigte sich der Silberstreifen des zunehmenden Mondes, da durchbrach ein schriller Schrei die Stille, dem gleich darauf ein furchtbares Gebrüll folgte. Mit einem Schlage war das Lager alarmiert, und der Schrei: »Der Herr Tiger« schallte von entsetzten Lippen zum Nachthimmel empor. Die Yaks, die Pferde waren in größter Unruhe und wollten in ihrer Angst von den Haltetauen sich reißen. Ebenso rannten die Träger wirr durcheinander, schreiend, einer hinter dem anderen Schutz suchend. Der Tiger ist für den eingeborenen Inder das furchtbarste Entsetzen! Er steht ihm geradezu verzaubert gegenüber und nennt ihn »Herr«, denn er sieht in ihm den König des Dschungels.
Jetzt war aber der Gurkha, unterstützt von Kjel, an seinem Platze! Mit seiner ehernen Kommandostimme brachte der Riese Ordnung in die Verwirrung. Die Tiere wurden beruhigt, und vor allem die Feuer entfacht, daß sie hell aufloderten. Die Ladys, die die Gefahr nicht kannten, die in der Nähe war, denn das Gebrüll des Tigers ertönte immer lauter, ein Beweis, daß der Herr des Dschungels immer mehr auf das Lager zuschritt, hatten eilig Mäntel übergeworfen und traten vor ihr Zelt, während die Offiziere, natürlich mit ihren Gewehren, vor das ihre traten.
Was nun sich abspielte, geschah mit Gedankenschnelle. Im Scheine eines der Feuer sahen die Herren, wie aus dem nahen Gebüsch der riesige Kopf eines Tigers erschien: Wieder brüllte das Ungeheuer, wobei sein furchtbares Gebiß sichtbar wurde. Dann duckte sich die Bestie zum Sprunge. Es mußte ein erfahrener Dschungelkönig sein, da er den Menschen nicht fürchtete. Schon lagen die Herren im Anschlage, als das Ungeheuer mit furchtbarem Sprunge sich in die Lichtung schnellte und nun in der Mitte zwischen den Ladys und den Herren am Boden lag. Sein fast meterlanger Schweif peitschte die Erde, und die mordlustigen Augen sahen auf die beiden Mädchen, die er sich verfallen sah. Von den Herren wagte keiner zu schießen aus Sorge, daß eine der Ladys getroffen würde. In allem Trotz richtete der Tiger sich auf, um auf die Freundinnen, die sich fest umklammert hielten, losstürzen. In seiner Mordlust und Blutgier hatte das gräßliche Geschöpf offenbar vergessen, daß hinter ihm die Jäger standen.
Da rief Gerving: »Ladys! Stehen Sie ganz still!« Und mit einigen mächtigen Sprüngen schnellte er sich um einige Meter schräg vorwärts, so daß sein Geschoß, selbst wenn er fehlte, die Mädchen nicht treffen konnte und schoß dann die beiden Läufe seines schweren Gewehres auf den Tiger ab. Die erste Kugel schlug in das Rückgrat, in dessen unterem Teil und lähmte so die Hinterbeine des Untieres, die zweite zerschmetterte die linke Seite des Unterkiefers.
Mit markerschütterndem Gebrüll wälzte sich die Bestie im eigenen Blute, nicht mehr fähig, vom Platze sich zu rühren und doch noch gefährlich für jeden, der sich ihr näherte, durch Hiebe mit den Vordertatzen.
Die Träger umgaben dicht gedrängt den Platz, weiß die Gesichter, gesträubt das Haar: der gelähmte Herr des Dschungels konnte sich nicht genug quälen! Die Eingeborenen haßten ihn zu sehr.
Da gab Russe dem Gurkha sein Gewehr mit den Worten: »Geben Sie ihm den Fangschuß!«
»Herr«, erwiderte Tejbir, »nur zu gern. Ein Tiger zerriß meinen Bruder.« Dann schritt er ruhig bis auf einige Meter an die rasende Bestie heran, zielte und ein Schuß in das Auge endete das Leben des Unholdes, der so viele Leben vernichtet hatte.
Es war ein Riesengeschöpf seiner Art: 340 Zentimeter maß er vom Kopf bis zum Schwanze, wie Zönlund später feststellte. Der Schwanz war 63 Zentimeter lang, 146 Kilogramm wog das Tier. Das prachtvolle Fell wurde von einigen Trägern, die besonders damit Bescheid wußten, abgezogen, damit es getrocknet eine Jagdtrophäe für den glücklichen Schützen, den Retter der Ladys würde.
Deren Dank an Gerving äußerte sich in herzlichsten Worten und Händedrücken. Besonders Marta Heresford, die lebhaft und völlig verändert erschien, sah Gerving, ihren Retter mit leuchtenden Augen an.
Bei allen aber hatte die tapfere, unerschrockene Haltung der Damen die höchste Bewunderung erweckt. Ruhig, eine an die andere sich klammernd, hatten sie der gräßlichen Gefahr in das Auge gesehen.
Durch das fürchterliche Brüllen und Toden des Tigers war das ganze Dschungel aufgescheucht. Die Affen schrien, die Vögel kreischten, und ebenso wie im Lager herrschte dort das wirrste Durcheinander. Im Lager kam aber bald die gewohnte Ordnung wieder zustande. Der Gurkha, Kjel und die Führer sorgten dafür, daß die Feuer hell aufloderten, ja, es wurde um das ganze Lager geradezu ein Kranz von Flammen gezogen. Dann wurden die Wachen an den Feuern verdoppelt und ihnen von Tejbir größte Aufmerksamkeit eingeschärft.
Die Leiter der Expedition hatten sich wieder zur Ruhe begeben. Es wurde allmählich still. Nur Kjel machte sich noch in Zönlunds Zelt zu schaffen. Als er mit seiner Arbeit fertig war und sein Lager aufsuchen wollte, sprach er zu dem Doktor:
»Herring, weetens wat ick woll möchte?«
»Na?« fragte Zönlund schlaftrunken.
»Bi uns to Huus up den Kornböhn, dor sünd immer bannig veel Rotten un Müs. Dort müßte de oll bunt Katt mal eins dormangl! Junge, Junge!« Damit verließ er das Zelt.
Trotz der Störung in der Nacht brach die Expedition am Morgen sehr früh auf und marschierte durch den Dschungel weiter. Es waren in diesem Teile so viele Verwachsungen zwischen den Bäumen durch Schlinggewächse, daß an der Spitze des Zuges eine Reihe von Männern marschieren mußte, die mit Äxten und breiten Buschmessern die Hindernisse beseitigten.
Der General wollte unter allen Umständen heute aus dem Dschungel heraus. Dr. Zönlund hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß bei einigen Leuten sich Fiebererscheinungen einstellten, die zwar nach Darreichung von Chinin wichen, aber doch immerhin ein bedenkliches Zeichen waren.
So wurde denn rüstig marschiert, und am Mittag war das Ende des undurchdringlichen Waldes erreicht. Blühende, üppig grünende Wiesen und Felder lagen vor den Reisenden, und frei glänzten die gewaltigen Gletscher des Himalaja wie Silber im Sonnenglanze vor den Augen der entzückten Europäer. Nun stieg der Weg, das Klettern begann, es ging in das rätselvolle Land Tibet.
Obwohl die geographische Erforschung dieses höchsten Hochplateaus der Erde seit Jahrzehnten ein Hauptziel der geographischen Forschung bildete, so sind doch die Ergebnisse der letzteren noch sehr lückenhaft geblieben. Am meisten hat wohl der Schwede Swen Hedin durch seine Reisen in Tibet Licht in das Dunkel zu bringen gesucht, aber auch er ist noch nicht zu einer abschließenden Arbeit gelangt. Anerkannt muß allerdings werden, daß seine Arbeiten die ersten sind und bleiben, die auf unbedingt wissenschaftlicher Grundlage aufgebaut und darum zuverlässig sind.
Auf dem mächtigen Plateau des Landes, das eine Meereshöhe von rund 4000 Meter hat, sitzt das etwa von West nach Ost ziehende Kuenlün-Gebirge auf. Die Höhen dieses in mehreren Wellen aufgebauten Gebirgszuges ziehen in 1000 bis 1500 Meter Höhe dahin und haben für dortige Verhältnisse eine sanfte Gestaltung. Im Süden setzt die Entwässerung zum Meere ein, der Salwen, Mekong und Yangtsekiang, der große Hauptstrom Chinas, entspringen dort. Im Nordosten liegt die Quelle des Hoangho, der ebenfalls für China sehr wichtig ist, und am Südrande treffen wir, wie schon erwähnt, auf Indus und Brahmaputra. Der Norden von Tibet ist völlig abflußlos, es kommt also seinen Gebirgen nicht der Name der Wasserscheide zu. Vielmehr liegen in dem flachen Hochlande sehr zahlreiche, rundliche Seen, die Salzwasser enthalten, also Reste eines Urmeeres sind. Außerhalb der Seen ist der Boden häufig sumpfig, im Nordosten liegt der größte Sumpf, der Maidam.
An der Südseite der Seen befinden sich menschliche Wohnstätten, Weideplätze für Yaks; wilde Esel und Antilopen sind ebenfalls in genügender Zahl vorhanden. Gold und Eisenerze werden gewonnen, ebenso wie Salz, Borax und Salpeter aus den Seen. Auch freie Salzlager finden sich, die unter dem Namen Steppensalz in den Handel kommen und bekannt sind. Hauptabnehmer für das Salz ist hauptsächlich seit alter Zeit Rußland.
Das Klima hat heiße und kurze Sommer, die Winter sind kalt, lang und bis zu 30° sinkt oft das Thermometer. Stürmische Westwinde wehen, nur der Herbst gilt als heitere, ruhige Jahreszeit. Der Schneefall ist gering, der Regen meist unbedeutend. Die Pflanzen entwickeln sich, entsprechend den verschiedenen Höhenlagen, auch ganz verschieden. Das Hochland ist als pflanzenlose Wüste zu bezeichnen. Nicht ein Baum wächst dort. Ab und zu entwickeln sich Grasfluren. In den östlichen Teilen ähnelt der Pflanzenbestand dem unserer Alpen. Das Innere des Landes ist ebenfalls eine pflanzenarme Steppe. Nur das Tal von Lhassa ist im südlichen Teile fruchtbar. Die Winter sind dort milde, und so konnten Ackerbau und Weinpflanzung sich erfolgreich entwickeln und prächtige Parks und Blumengärten entstehen.
Auf den holzlosen Höhen ist der Dung der Tiere das einzige Heiz- und Brennmaterial. Die Tierwelt zeigt dieselben Arten, wie der Himalaja, nur das wilde Pferd, Tarpan genannt, muß noch erwähnt werden.
Die eigentliche Bevölkerung von Tibet sind Mongolen. Türken, Chinesen und Inder sind hier und da, besonders in den Städten, unter ihnen versprengt, aber naturgemäß ohne Bedeutung.
Der Tibetaner gilt als falsch und kriechend unterwürfig gegen Höherstehende, dagegen ist er übermütig und roh gegen den, dem er sich überlegen glaubt.
Das Volk wird im großen und ganzen von der Geistlichkeit regiert. Der Form nach führt die Regierung ein Regent, der den Titel Nomokhan führt, und der vom Kaiser von China stets auf Lebenszeit eingesetzt wird. In Wirklichkeit leitet das Volk aber ein geistliches Oberhaupt, der Dalai Lama. Ihm unterstehen die Äbte der Klöster, denen die Mönche wieder untergeordnet sind. Ebenso wie Mönchs- bestehen auch Nonnenklöster. Den Mönchen und Nonnen ist das Heiraten verboten.
Die Klöster sind bisweilen Anlagen von ungeheurer Ausdehnung, so daß sie geradezu Städten gleichen.
Die Religion entbehrt des tiefen Inhaltes, nährt den Aberglauben und wird geradezu zur Gaukelei, denn es spielen Zauberer und Beschwörungen überall eine große Rolle. Im Familienleben tritt der Priester, Lama genannt, nicht auf. Dagegen ist er, gegen gute Bezahlung, sonst bei jeder Gelegenheit tätig und übt seine Künste. Obwohl es nicht zu leugnen ist, daß in manchen Klöstern ernstes, wissenschaftliches Streben herrscht, so ist doch die überwiegende Mehrzahl der weiblichen und männlichen Lamas von einer erschrecklichen Unwissenheit.
Wie tief der Stand der Lamareligion ist, mögen nur zwei Notizen beweisen: die Gebetsmauern und die Gebetsmühlen. Die Gebetsmauern sind Teile der Klostereinfassungen, die mit mächtigen Buchstaben bemalt sind, welche Gebete darstellen. Wenn nun der Beter wiederholt an jenen Mauern vorübergeht, so gilt dies so viel, als habe er vielmals ein Gebet gesprochen. Die Anzahl der so gesprochenen Gebete richtet sich naturgemäß nach der Höhe der Gabe, die der diensttuende Lama empfangen hat. Die Gebetsmühlen stellen in ihrer einfachsten Form schlanke, viereckige Holzpfosten dar. In etwa Brusthöhe eines Mannes ist in den Pfosten eine viereckige Öffnung geschnitten, und in dieser bewegt sich um eine Achse leicht drehbar ein kleines Metallrad. Der Rand dieses Rades ist mit eingegrabenen Buchstaben versehen, die ebenfalls ein Gebet im Zusammenhange geben. So oft das Rad sich dreht, das durch leichten Fingerdruck zu erzielen ist, so oft ist ein Gebet gesprochen. Gern übernimmt ein diensteifriger Lama gegen das übliche »Geschenk« die Arbeit, die dem frommen Beter sonst durch Drehen des Rades erwachsen würde, und so steigen Tausende von Gebeten aus den Gebetsmühlen empor. Ja, es werden letztere sogar bisweilen mit Wasserkraft getrieben!
Wie der Charakter eines Volkes bei solcher Religionsübung sich entwickeln muß, kann jeder denkende Mensch sich selbst sagen. –
Während der Biwaks nach den Märschen durch die Pässe auf das Lhassatal zu hatte General Russe, der Tibet von seinen früheren Reisen her ziemlich genau kannte, seinen Gefährten nun diese Erklärungen gegeben. Er allerdings selbst sowie Kallory und Gerving waren der Ansicht, daß die Tibetaner als Träger sich bei den früheren Expeditionen sehr gut bewährt hatten, und daß ihre Treue und Anhänglichkeit nicht anzuzweifeln war.
Es war am letzten Biwaksabend vor dem Einrücken in Lhassa. Das herrliche Tal mit seinen prächtigen Schlössern, Gärten, Anlagen, mit all seinen vielen Schönheiten hatte den Damen wieder reichlich Gelegenheit gegeben, ihre photographischen Apparate zu benutzen, und auch der Botaniker Zönlund hatte manch wertvolles Stück seiner bezw. der Expeditionssammlung zufügen können.
Eine milde, reine Luft umgab die vor dem Zelte sitzenden Reisegefährten. Plötzlich sagte Dr. Zönlund:
»Da fällt mir noch etwas Eigenartiges über Tibet ein. Vielleicht interessiert dies die Herrschaften?«
Von allen Seiten um Mitteilung gebeten, begann der Doktor: »Es ist eigentlich nur noch eine weitere Ausgestaltung dessen, was wir von Gebetsmühlen und -mauern schon hörten. Zu Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts legte eine amerikanische Gesellschaft eine Telegraphenlinie durch das russische Sibirien. Dabei war ein Herr Kennan tätig, der Gelegenheit bekam, das Leben der unglücklichen Gefangenen des zaristischen Rußlands zu beobachten. Die Greuel und das furchtbare Elend, das er dort sah, veröffentlichte er in einem Buche: Quer durch Sibirien. Das Buch erregte damals einen wahren Sturm in der zivilisierten Welt. Rußland aber war noch zu mächtig, als daß jemand gewagt hätte, ihm zu nahen. In diesem Buche befindet sich ein Kapitel: »Die Lamaserei am Gänsesee.« Er schildert dort ein tibetanisches Kloster, in dem von Zeit zu Zeit eine Art religiösen Festspieles stattfindet. Die Darsteller erscheinen dabei in kostbar geschnitzten, bemalten und vergoldeten Tiermasken, als Pferde, Löwen, Hirsche und andere, und das Ganze soll auf den Europäer einen gewaltigen Eindruck machen.«
»Ja,« sagte der General, »ich habe auch davon gehört, habe aber nie Näheres darüber erfahren können. Möglich ist es ja, da wir die Maske als religiöses Hilfsmittel bei vielen außereuropäischen Völkern treffen.«
»Ich erinnere an die Medizinmänner Nordamerikas, an die Schamanen Asiens, an die Tanzmasken der Südseeinsulaner«, fuhr Kallory fort, als Russe schwieg.
Letzterer nickte dem erprobten Gefährten freundlich zu und sagte dann in herzlichstem Tone zu Zönlund: »Ich kann Ihnen nur für die interessante Mitteilung danken. Je mehr ich Sie kennen lerne, lieber Doktor, um so mehr habe ich Achtung vor Ihrem Wissen und Können. Sie werden uns allen eine vortreffliche Hilfe sein im Kampfe um den Riesen. Und nun, meine lieben Gefährten, zur Ruhe! Morgen sind wir in Lhassa. Da wird die Trägerkolonne neu zusammengestellt, und dann geht der Marsch gen West und schließlich nach Süden, auf unser Ziel! Der Kampf beginnt. Möge er den Sieg bringen!«